Frankfurter Allgemeine Zeitung - 02.09.2019

(lily) #1

SEITE 12·MONTAG, 2. SEPTEMBER 2019·NR. 203 Feuilleton FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG


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alter Gropius war nicht der al-
lergrößte Freund des Ortes, an
dem die Zukunft beginnen soll-
te. Er ahnte, dass in „diesem
rückständigen Bierdorf Weimar alles nicht
so glatt gehen würde“, wie er im Bauhaus-
Gründungsjahr 1919 seiner Mutter
schrieb. Schon Harry Graf Kessler und
sein Stararchitekt Henry van de Velde wa-
ren hier mit ihrer Utopie vom „Neuen Wei-
mar“ gescheitert. Allzu wirkungsvoll haus-
ten im Gral zeitloser Dichterweihe die
Geister der Vergangenheit. In diesen Sehn-
suchtsort floh die junge Republik dennoch
anfangs gern – gebeutelt von einem chaoti-
schen Berlin, in dem Hunger, Revolution,
Straßenkämpfe und Leichen wie die von
Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht zur
düsteren Realität des Kriegsverlierers
Deutschland gehörten.
Constantin Fehrenbach, der Präsident
der Nationalversammlung, brachte es auf
den Punkt: „Von Berlin geflüchtet, haben
wir hier eine sichere, trauliche Stätte gefun-
den. Mögen dem schönen Weimar und un-
serem lieben Vaterland bald bessere Tage
werden.“ Doch die Tage wurden turbulent,
widersprüchlich, abgründig. Das Bauhaus
war emanzipatorisch und experimentier-
freudig, ließ aber auch düstere Esoteriker
und bekennende Rassisten wie Johannes It-
ten unterrichten, die nicht nur von weißen
Wohnkisten träumten, sondern auch von
einer weißen Herrenrasse und so dem ei-
nen Weg bereiteten, was nach 1933 ge-
schah (F.A.Z. vom 14. Januar).
Im Jubiläumsjahr wird das Bauhaus als
Projekt der Moderne weltweit gefeiert –
und dabei von dunklen Zwischentönen be-
reinigt, bis es als Inbegriff eines demokrati-
schen, experimentierfreudigen Deutsch-
lands in alle Welt exportierbar ist. Die Fol-
ge: Der von der Politik massiv finanzierte
Jubiläumsmarathon schafft neue Mythen,
die man wie einen Firnis abnehmen muss,
um der Wahrheit näherzukommen und das
Bauhaus in seinem Kontext zu verstehen.
Mythos eins: Das Bauhaus entstand
1919 als Ausdruck eines demokratischen
Neustarts. War das so? Der Reform-Euro-
päer van de Velde bereitete seit Beginn des
Jahrhunderts in Weimar mit der ganzheitli-
chen Bündelung von Werkstätten die Bau-
haus-Idee vor. Während des Krieges lud er
Walter Gropius als seinen Nachfolger ein.
Einer der Gründe: Enttäuscht vom Groß-
herzog und frustriert von der konservativ-
aggressiven Atmosphäre in Stadt und Regi-
on, hatte er, wie bereits zuvor Graf Kessler,
das Handtuch geworfen.
Gropius übernahm, so gesehen, eine
Ruine – aber hatte die Gunst der Stunde
für sich: Ersten Planungen, die noch dem
Großherzog vorlagen, folgte 1919 die
Gründung. Das „Staatliche Bauhaus Wei-
mar“ wurde das Kind der dort nur wenige
Monate residierenden Reichsregierung,
die Status und Namen anerkannte. Die
Liaison von Kunst und Kunstgewerbe aber
zerbrach, eine Architekturklasse kam in
der Weimarer Zeit nicht zustande. Die
Feinde dagegen waren erfolgreich: Thürin-
gens Kleinstadt Weimar inszenierte diver-
se Bürgerinitiativen gegen allzu viel Ex-
pressionismus und Rotes, zu viel Moderne
und Esoterik, zu viel Fremdes, zu wenig
Goethekult und Neoidealismus. Das Bau-
haus in Weimar gab es bald nicht mehr.
Mythos zwei: In Weimar wurde die Mo-
derne geboren. Tatsächlich hatte sich diese
Moderne in Deutschland bereits um die
Jahrhundertwende etabliert – in Darm-
stadt, in Düsseldorf. Inspiriert von der eng-
lischen Arts-and-Crafts-Bewegung und
vom Fortschrittsoptimismus des beginnen-
den Jahrhunderts, sollten hier die gleich-
rangigen Brüder Kunst und Kunstgewerbe,
die dem Leben Form, Sinn und Schönheit
verleihen würden, wieder vereint werden.
An diese im Westen schon lange ansässi-
ge lebensreformerische Tradition knüpft
Gropius im „Bauhaus-Manifest“ an. Schon
seit 1907 gab es den wirtschaftskulturel-
len „Deutschen Werkbund“ als „Vereini-
gung von Künstlern, Architekten, Unter-
nehmern und Sachverständigen“. Die
Idee einer Warenästhetik war geboren,
die Umsetzung gestaltete sich europaweit
höchst erfolgreich. Das zeigte sich 1914
mit der einer Weltausstellung nahekom-
menden „Werkbundausstellung“ in Köln.
Sie hatte alles, was ins Bauhaus drängte,
auch die Trias, die Vision und Wirklich-
keit voranbrachten: ein Theater von Hen-
ry van de Velde, eine „Muster-Fabrik“
von Walter Gropius und das „Glashaus“
von Bruno Taut. Letzteres spiegelte mit
seiner lichtdurchfluteten Kristallmeta-
phorik die Kathedralutopien von 1919.
Lyonel Feiningers Titelbild „Kathedra-
le“ auf Gropius’ Bauhaus-Manifest von
1919 ist die künstlerische Version dieser
Vorkriegs-Reformgedanken. Tauts Glas-
haus setzte 1914 mehr als Maßstäbe: Der

Schriftsteller und Erfinder der „Glasarchi-
tektur“, Paul Scheerbart, hatte seinem
Weggefährten den Saft für jede Utopie in
die Architektentinte gemischt. Ein Schrift-
band mit Scheerbarts Votum „Das Glas
besiegt den Hass“ über dem Eingangspor-
tal mochte 1914 fortschrittsgläubig klin-
gen, erwies sich jedoch als Menetekel.
Der Krieg machte der hoffnungsfroh er-
öffneten Werkbund-Ausstellung schon
im August 1914 den Garaus.
Mythos drei: Das „Bauhaus“ in Weimar
war ein Unikum. Doch auch in Düssel-
dorf wurden nach dem ersten Weltkrieg
die Kunstakademie und die Kunstgewer-
beschule vereinigt. Peter Behrens kehrt
für kurze Zeit als Direktor an die Akade-
mie zurück. In Stuttgart realisierte Rudolf
Steiner die erste Waldorfschule.
In Darmstadt eröffnet der Balte Her-
mann Graf Keyserling seine „Schule der
Weisheit“. Die Botschaft dieser Weltan-
schauungsschule für Erwachsene: „Der
kürzeste Weg zu sich selbst führt um die
Welt herum.“ Heinrich Vogeler funktio-
nierte in Worpswede seinen Barkenhoff
zu einer „Arbeitsschule“ um – und beruft
sich in diesem urkommunistisch motivier-
ten und vom Werkstättengedanken inspi-
rierten Siedlungsprojekt auf Bruno Taut.
Der Berliner Architekt ist schon lange
auch in Hagen aktiv. Dort verbinden sich
die Reformgenerationen: Schon vor dem
Krieg hatte van de Velde den Kunstmä-
zen Karl Ernst Osthaus zur Reformkunst
bekehrt und ihm mit dem Bauensemble
in Hohenhaus ein Zentrum für die sich
entwickelnde Folkwang-Bewegung ge-
schaffen.
Bruno Taut sollte nun seine Ideen wei-
terschreiben. Mit Osthaus’ frühem Tod
sind die Träume zu Ende. In Hamburg in-
stalliert Lothar Schreyer seine „Kampf-
bühne“, eine Art Keimzelle für Zukunft,
die mit der alle Künste einbeziehenden
temporären Architektur als Mikrokosmos
und Lebensschule zur Verwandlung und
Veredelung der Menschheit beitragen
soll. Gropius beruft Schreyer 1921 zum
Leiter der Bühnenklasse ins Bauhaus.
In Köln entsteht ein „Institut für religiö-
se Kunst“. Konrad Adenauer erfindet für
seine hungernden Bürger nicht nur ein pa-
tentiertes Ersatzbrot, sondern weiß auch,
was der Geist braucht und womit er gegen
die preußische Dominanz die urbane Kul-
tur im jahrtausendealten Rheinland stär-
ken kann. Schon bald boomt der so fun-
dierte Kirchenbau und ernährt Architek-
ten, Künstler und die Wirtschaft. In Frank-
furt projektiert Franz Rosenzweig im Um-
feld der liberalen, antipreußischen Frank-
furter Zeitung ein „Jüdisches Lehrhaus“
zur Gestaltung eines zukünftigen
Deutschlands, mitgetragen von Martin
Buber und Siegfried Kracauer. In diesem
geistigen Umfeld entwerfen Walter Benja-
min und Forens Christian Rang ihre Vor-
stellungen einer Bauhütte als Versöh-
nungsidee für die Erbfeinde Frankreich
und Deutschland.
Zwischen Utopie und konkreter Kultur-
politik versuchen Intellektuelle, Künstler
und politische Visionäre die kurze Frei-
heit zwischen Kaiserreich und Republik
zu nutzen. In München bleiben Gustav
Landauer vor seiner Ermordung nur weni-
ge Tage als „Volksbeauftragter für Volks-
aufklärung“, um ein umfassendes Bil-
dungsprojekt zu entwerfen. Virtuelle und
künstlerische Entwürfe wie Ernst Tollers
dramatische Proklamation einer zukünfti-
gen „Menschheitskathedrale“ im Drama
„Die Wandlung“ und Kurt Schwitters’
Merzbau, seine „Kathedrale des eroti-
schen Elends“ waren als prognostische
Überhöhung oder dadaistische Gegenge-
schichtsschreibung Teil solcher konkre-
ten Utopien des Jahres 1919. Das Bau-
haus war also bloß Teil einer landeswei-
ten Bewegung, und vielleicht gar nicht
der spannendste.
Es gab Gemeinschaften mit erziehe-
risch reformerischem Geist, darunter die
Ugrino-Bewegung mit Hanns Henny
Jahn in Hamburg, die „Kalltalgemein-
schaft“ mit Otto Freundlich in Simons-
kall, der „weiße Reiter“ in Neuss, die mit
ihnen verbundenen Zukunfts- und Erlö-
sungshoffnungen oszillieren zwischen
Anarchismus und Reformkatholizismus,
bis hin zu den Aktivistenbünden, Räten
geistiger Arbeiter und Novembergruppen.
Wie ein krönender Kristall darüber:
Bruno Tauts Architektenbund „Gläserne
Kette“. Hermann Hesse appellierte mit
der Flugschrift „Zarathustras Wieder-
kehr“ an die junge Generation, vom gro-
ßen Philosophen die Absage an herr-
schende Systeme zu lernen und ihm nach-
zueifern. Schickele benannte im Pam-
phlet „November 1918“, einer Abrech-
nung mit den Eliten, die Schuldigen: „Wie-
der waren es die alten Männer, die die Ju-
gend an das Bestehende verrieten, das im-
mer die Vergangenheit ist und diesmal
ganz handgreiflich die Vergangenheit
war: Zusammenbruch, Tod und Verwe-
sung. Die Greise verrieten die Jugend,
nur um sich, nur auf ein Viertelstünd-
chen, zu erhalten.“
Am Ende war vieles verloren, der Geist
der Utopie verweht, die Zukunft verpasst,
auch wenn das Bauhaus Normen setzte,
deren Wirkkraft bis heute anhält. Was kei-
ne der Schulen, die bei aller Experimen-
tierfreude autoritär bis sektenhaft ge-
führt wurden, in ihrem Programm hatte:
die Frage, wie der Aufbau einer Republik
mit demokratisch kompetenten Bürgern
zu schaffen ist. Das ist einer der dunklen
Flecken, die das Bauhaus mit seinen Vor-
läufern und Parallelbewegungen teilt.
GERTRUDE CEPL-KAUFMANN

W


enn Münsteraner Landwirte
neuerdings Abbilder von Gre-
ta Thunberg in ihre Felder ein-
mähen, dann zeugt das von ei-
ner popkulturellen Klima-Konjunktur, die
auch im Museumsbetrieb längst angekom-
men ist. Unzählige Ausstellungen setzen
gerade auf die Anziehungskraft des Flora-
len, darunter auch der Berliner Martin-
Gropius-Bau, der danach fragt, wie viel
Politik die aktuelle Kunst in der Metapher
des Gartens zu entdecken vermag.
Der Garten Eden ist weiblich, das
meint zumindest Pipilotti Rist in ihrem an
die Decke projizierten Video „Homo sa-
piens sapiens“. Nackte Frauenkörper
schweben schwerelos durch Galaxien aus
tropischen Gräsern und Blüten. Ihre Hän-
de tauchen in reife Früchte ein, die heran-
gezoomten Augen sehen sich satt an dem
Schauspiel einer sich selbst befruchten-
den Natur. Nach einem Adam blickt man
sich vergeblich um. Ein über-
dimensionaler Hoden schafft es gerade
mal wenige Sekunden, die Aufmerksam-
keit der Evas auf sich zu ziehen.

Wozu einen Sündenfall, wenn die
gleichgeschlechtliche Harmonie sich
selbst genügt? Vielleicht war diese un-
orthodoxe Auslegung der Bibel der Grund
dafür, dass die Arbeit während der Kunst-
biennale von 2005 aus einer veneziani-
schen Kirche vorzeitig verbannt wurde.
Gibt es also Hoffnung nur noch zum hal-
ben Preis? In einer Welt der entrückten
Kontemplation, die zugleich auf Ausgren-
zung setzt, um ihre Unversehrtheit zu er-
halten?
Auf Hieronymus Boschs Triptychon
„Der Garten der Lüste“, von dem die
Gruppenschau ihren Titel „Garten der ir-
dischen Freuden“ ableitet und den Mittel-
teil als Kopie aus der Schule Boschs zeigt,
herrscht noch ein ausgelassener Spieltrieb
zwischen allen Kreaturen. Ein Mann
umarmt eine Erdbeere, man schwimmt,
tanzt und turtelt in Blütenblasen, die sich
auf einem grünen Hügel erheben – auch
wenn die Utopie einer Liebes-Republik na-
türlich nicht ohne Schreckensszenarien
wie menschenfressende Pflanzen und
eine Hölle auskommt, die auf dem abwe-
senden rechten Flügel das grausame Ge-
genprogramm ausbreitet.
Uriel Orlow hat nicht nur den Ort der
ewigen Pein bereits im Diesseits gefun-
den, sondern auch den Weg, ihr zu ent-
kommen. Er beweist mit seinem fotografi-
schen Großformat „Botanical Dreams“,
dass die männliche Seite überlebenswich-
tige Energien aus einer selbstkultivierten
Oase schöpfen kann, vorausgesetzt, man
sperrt sie für Jahrzehnte weg. Nelson Man-
dela etwa pflegte im Gefängnishof von
Robben Island mit seinen Mitinsassen ei-
nen winzigen Garten. Dass dieser auch
noch als Versteck für die Manuskripte des
Freiheitskämpfers diente, lud die einge-
hegte Zone geradezu mit widerständiger
Energie auf.
Könnte sich doch auch der grüne Planet
wehren gegen all die menschengemach-

ten Übergriffe, denkt man sogleich beim
Flanieren durch eine „Gartenschau“, die
der Flora und Fauna mit echter Zunei-
gung begegnet, denn ohne Wachstum, Res-
sourcenverbrauch hin oder her, ist nun
mal kein Paradies zu haben. Professionel-
le Pflanzenbetreuer sorgen dafür, dass die
Botanik allerorten sprießt und gedeiht,
etwa auf dem nach Erde riechenden Ge-
rüst des afroamerikanischen Künstlers
Rashid Johnson. Topfpflanzen liegen auf
den Regalen der Installation „Antoine’s
Organ“ ebenso griffbereit wie Bücher, dar-
unter Søren Kierkegaards Klassiker „Der
Begriff Angst“ von 1844, der um Adam
und Evas Sündenfall und ihren „Schwin-
del der Freiheit“ kreist. Fluchtmöglichkei-
ten aus einer allzu beängstigenden Lektü-
re bieten Schönheitsprodukte aus Sheabut-
ter, die aus den Früchten des afrikani-
schen Karitébaumes gewonnen wird, flan-
kiert von einem Klavier, das die Blätter-
idylle perfekt macht.
Der nackte Jüngling in dem Video „Pte-
ridophilia“ von Zheng Bo geht auch aufs
Ganze und verfällt gar mitten im taiwani-
schen Dschungel dem erotischen Zauber
von Farnen, nur um nach dem Liebesakt
die Objekte seiner Begierde zu verspei-
sen. Für den Betrachter dieser speziesüber-
greifenden Intimität stellt sich die Frage,
was in diesem Lustgarten noch kannibali-
sche Ekstase und schon aufs komischste ir-
ritierende Ökostaat-Parodie ist.
So viele globale Perspektiven und zu-
gleich Sinn für Humor, vielleicht, damit
die Einlassungen auf Unterkapitel wie
Anthropozän, Diskriminierung oder
Migration weniger hart aufstoßen? Die
Gratwanderung gelingt besonders gut in
der multimedialen Dystopie „Mesocosmic
Indoor Overture“ von Heather Phillipson.
In ihrem grellrosa Universum hat die öko-
logische Apokalypse bereits ihr Zerstö-
rungswerk abgeschlossen, der Mensch ist
nur noch eine posthumane Kategorie, die

von anderen Organismen im kuriosen Pro-
zess der Kompostierung verwertet wird.
Auch in Yayoi Kusamas gepunktetem
Paradies, das man mit einem psychedeli-
schen Tulpen-Inferno verwechseln könn-
te, erlebt sich der Besucher als Eindring-
ling, der lieber den Ausgang sucht als
selbst zu einem Punkt degradiert zu wer-
den, denn, so Kusama: „Unsere Erde ist
wie ein kleiner Tropfen unter Millionen
anderen Himmelskörpern, eine Kugel vol-
ler Hass und Streit inmitten der friedli-
chen, stillen Sphären.“ Wehe der humanoi-
den Spezies, wenn sich Kusamas Tulpen
des Bösen irgendwann zum Richter auf-
spielen sollten. Der in Brasilien gebore-
nen und in Berlin lebenden Maria There-
za Alves reichen unscheinbare Samen aus,
die für den Anbau exotischer Nutzpflan-
zen nach Europa verschifft wurden, um
mit bewundernswerter Zurückhaltung an
die kolonialen Raubzüge von einst zu erin-
nern. Die exklusiven Gärten, die Lungis-
wa Gqunta wiederum in ihrer Heimat Süd-
afrika gefunden hat, bieten für die Aus-
geschlossenen keine Freuden, sondern un-
überwindbare Hürden. An die Mauern an-
gebrachte Glasscherben sorgen dafür,
dass die Reichen unter sich bleiben kön-
nen, woraus die Künstlerin eine eigenwilli-
ge Lektion gezogen hat. Sie setzt dem zum
Verweilen einladenden Hortus conclusus
einen Rasen aus gebrochenen Flaschen
entgegen, den nur schmerzunempfindli-
che Zeitgenossen betreten sollten.
Vermutlich hätte auch „Mutter Natur“
nichts dagegen, den marodierenden Men-
schen aus ihrem Reich auszuladen. Statt-
dessen brennen in Sibirien die Wälder,
und in Brasilien machen fußballfeldgro-
ße Areale Platz für die Rinderzucht. Kein
Paradies, keine irdische Demut, nir-
gends. ALEXANDRA WACH
Garten der irdischen Freuden.Im Martin-Gropius-
Bau, Berlin; bis zum 1. Dezember 2019. Ein Kata-
log zum Preis von 32 Euro erscheint Mitte Sep-
tember.

Ein kleiner Teil einer


großen Bewegung


Das Paradies der anderen


König Gustav III. dominierte als monu-
mentales Standbild die Bühne, auf der
eine Partygesellschaft zur Mittsommer-
nacht Schwedenfähnchen schwenkte.
Als der 1989 in Österreich geborene Re-
gisseur Valentin Schwarz im vergange-
nen Dezember Giuseppe Verdis Oper
„Ein Maskenball“ im Staatstheater Darm-
stadt inszenierte, ließ er die Handlung
recht zwanglos neben ihrem historischen
Hintergrund spielen – Querbezüge nicht
ausgeschlossen. Auch einige Monate zu-
vor, als Schwarz Wolfgang Amadeus Mo-
zarts „Così fan tutte“ auf die Bühne der
Kammeroper des Theaters an der Wien
gebracht hatte, durchkreuzten sich in ei-
nem bürgerlichen Wohnzimmer die Rea-
lität und das Spiel im Spiel. Jeweils mit
dabei: Bühnenbildner Andrea Cozzi, mit
dem Schwarz 2017 gemeinsam in Graz
den Internationalen Wettbewerb für Re-
gie und Bühnenbild, den „Ring Award“,
gewonnen hatte.
Vor einigen Wochen rückte Valentin
Schwarz, der bis dahin noch zur Gruppe
aufstrebender, an großen Opernbühnen
aber längst nicht etablierter Jungregis-
seure gehörte, mit einem Schlag in den
Blick der internationalen Opernszene.
2020 wird er, wieder im Verbund mit Büh-
nenbilder Cozzi, bei den Bayreuther Fest-
spielen für die Neuinszenierung von Ri-
chard Wagners Tetralogie „Der Ring des
Nibelungen“ verantwortlich sein, also in
der Nachfolge von Patrice Chéreau, Har-
ry Kupfer und, zuletzt, Frank Castorf ar-
beiten. Bekanntgegeben wurde die Ent-
scheidung, als Schwarz gerade Giacomo

Puccinis letzte Oper „Turandot“ probte,
wieder am Staatstheater Darmstadt, des-
sen Intendant Karsten Wiegand schon
vor sieben Jahren, als Operndirektor des
Deutschen Nationaltheaters Weimar, zu
den ersten Auftraggebern des seinerzeit
frisch graduierten Absolventen der Wie-
ner Universität für Musik und darstellen-
de Kunst gehörte.
Auch in der Neuinszenierung von „Tu-
randot“, die am vergangenen Wochenen-
de in Darmstadt Premiere hatte, trennen
Schwarz und Cozzi die Szene zunächst
von der Kulisse. Calaf, der namenlose
Prinz, ist ein bildender Künstler, der, so
legt es ein bühnenhohes Bild auf einem
Gazevorhang nahe, den expressionisti-
schen Pinselstrich bevorzugt. Liù, hier of-
fenbar schon länger an Calafs Seite,
bleibt in ihrer Liebe zu ihm einsam und
kann ihn bei allem Flehen nicht vom hef-
tigen Schaffensrausch abhalten. Der gilt
dem Stoff der Oper: Ping, Pang und
Pong, die drei chinesischen Minister, hat
er als Marionetten schon modelliert und
die abgeschlagenen Köpfe der gescheiter-
ten Bewerber um Turandot gleich dazu.
Nun steht das große Tableau an, das, in
Sepia, durch den Vorhang schimmert, als
gewaltige Chinoiserie, mit jubelndem
und drängendem Volk, vor allem aber
mit Turandot, die im mittleren der drei
Akte auftritt, kalt, glatt, eisig sowie mit
weißer Schleppe von Calaf erdacht (und
von Kostümbildner Pascal Seibicke ausge-
stattet). Da ist Calaf längst in die Bilder-
welt seiner eigenen Phantasie eingestie-
gen. Als Liù mit ihrem Vater Timur

(Dong-Won Seo) nachkommt, ist das fa-
tale Ende unausweichlich.
Konsequent lässt Schwarz die Oper an
der Stelle enden, von der an Puccini sie
in seinem Todesjahr 1924 nicht mehr fer-
tigstellen konnte, nach dem Selbstmord
Liùs. Die Sklavin, die sich auf diese Wei-
se von der Folter, Calafs Namen preiszu-
geben, befreit, wird damit noch klarer als
in der Tradition anderer Puccini-Heldin-
nen stehend kenntlich, denen man beim
Leiden am Scheitern ihrer Beziehungen
zuschaut, seien es Manon, Mimì oder But-
terfly. So konsequent, klug oder auch be-
streitbar, wie das Konzept von Valentin

Schwarz ausfällt – das Darmstädter Pre-
mierenpublikum ist sich nach dem Frag-
ment-Schluss vital uneinig –, so sehr irri-
tiert doch, dass sich regiehandwerklich
noch einiges verbessern ließe. Gerade in
Calafs Atelier des ersten Akts wird er-
staunlich viel herumgestanden, werden
Blicke gehoben und Arme gereckt, so
dass die Unterstellung eines gezielt pla-
zierten expressionistischen Gestenreper-
toires wohl eher geschmeichelt wäre.
Das erstaunt, denn Schwarz ist durchaus
als Praktiker ausgewiesen, hat Jossi Wie-
ler und Sergio Morabito ebenso assistiert
wie Armin Petras, hat Wiederaufnah-
men einstudiert. Immerhin lässt er der
Musik Raum, wenn Kommentare über-
flüssig sind, etwa auf der großen Freitrep-
pe, auf der Calaf die Fragen Turandots be-
antwortet – und sich dabei übrigens ge-
schickter anstellt als der vom Wotan-
Wanderer vorgeführte Mime im ersten
„Siegfried“-Akt.
Gesungen wird in Darmstadt auf ganz
hohem Niveau: der Opern-, der Extra-
und der Kinderchor intonieren pracht-
voll und geschliffen präzise, im Stattli-
chen differenziert singt auch der australi-
sche Tenor Aldo di Toro (Calaf). Jana
Baumeister beglaubigt mit großer Empa-
thie das starke szenische Profil ihrer Liù
ideal, Soojin Moon singt eine immerhin
höhensichere Turandot. Und das Staats-
orchester Darmstadt identifiziert unter
der Leitung von Giuseppe Finzi längst
nicht nur mit scharfer perkussiver Wucht
Puccinis Partitur als eine des 20. Jahrhun-
derts. AXEL ZIBULSKI

Der Künstler ertrinkt im Schaffensrausch


Valentin Schwarz, der designierte Bayreuth-Debütant, inszeniert in Darmstadt Puccinis „Turandot“-Fragment


Soojin Moon als Turandot Foto Nils Heck

War das Bauhaus in


Weimar wirklich so


einzigartig? Im Westen


Deutschlands gab es


Reformschulen, die


den Vergleich nicht zu


scheuen brauchen.


Es lohnt sich, sie


wiederzuentdecken.


Der Berliner Martin-


Gropius-Bau verbessert


seine Ökobilanz mit der


lehrreichen Schau


„Garten der irdischen


Freuden“, die lieber den


Boden aufwühlt als sich


mit der Bodenlosigkeit


des Anthropozäns


abzufinden.


Psychedelisches Tulpen-Inferno: In Yayoi Kusamas „With All My Love for the Tulips, I Pray Forever“ wird der menschliche Besucher zum Eindringling. Foto Mathias Voelzke
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