Frankfurter Allgemeine Zeitung - 02.09.2019

(lily) #1

FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG Feuilleton MONTAG, 2. SEPTEMBER 2019·NR. 203·SEITE 11


Zwei Großbaustellen der Zukunft: Das als offene Raumbühne und Schaufenster zur Stadt errichtete Nationaltheater Mannheim (links), aber auch das „schönste Opernhaus der Welt“ in Stuttgart (rechts) sind dringend renovierungsbedürftig. Fotos Christian Kleiner/Huber Images

S


tuttgart ist eine traumatisierte
Stadt. Die Stadtplaner der Nach-
kriegszeit zerteilten das Zen-
trum zum großen Schaden des
städtischen Lebens durch Ver-
kehrsschneisen und pflasterten es mit
hässlichen Betonzweckbauten zu. Viel-
leicht liegt es auch an diesen schlechten
Erfahrungen, dass das Bahnhofsprojekt
Stuttgart 21 – vier Jahre im Verzug, min-
destens doppelt so teuer wie geplant und
möglicherweise noch nicht einmal leis-
tungsfähig genug – Stuttgart bis heute
spaltet, obwohl seit fast einem Jahrzehnt
gebaut wird. Ist es da verwunderlich, dass
Politiker aller Parteien sich nicht gerade
darum reißen, ein weiteres mindestens
siebenhundert Millionen, am Ende viel-
leicht eine Milliarde Euro teures Projekt
aus dem Boden zu stampfen? Die Beträ-
ge, um die es geht, sind ähnlich hoch wie
in Frankfurt, wo die Sanierung der Dop-
pelanlage für Oper und Schauspiel an-
steht (F.A.Z. vom 8. Juni), und auch die
Wege der Entscheidungsfindung sind ähn-
lich mühsam und gewunden.
Seit sechs Jahren diskutieren Landes-
und Kommunalpolitiker über die Sanie-
rung der Staatsoper, des Littmann-Baus
im Oberen Stuttgarter Schlossgarten. Seit
drei Jahren bastelt der Stuttgarter Ober-
bürgermeister Fritz Kuhn (Grüne) an ei-
ner Lösung für eine nicht zu teure Inte-
rimsspielstätte. Einer Entscheidung ist
man nicht viel näher gekommen, 2016
hieß es, der Baubeginn könnte 2019 sein,
doch davon ist nichts zu sehen. Als frühes-
ter Termin gilt jetzt das Jahr 2024.
Am 5. November könnte sich ereignen,
was einige Theaterleute schon den „Stutt-
garter D-Day“ nennen. Der Verwaltungs-
rat muss entscheiden, ob gebaut wird,
was das kosten soll und wo unterdessen
gespielt wird. Tut er das bis Ende des Jah-
res nicht, könnte sich in der
baden-württembergischen Landeshaupt-
stadt auf lange Zeit nichts tun.
Die bauliche Situation für Oper und
Ballett in dem 1912 nach Plänen von Max
Littmann gebauten, nach Worten von

Max Reinhardt schönsten Opernhaus der
Welt ist äußerst unbefriedigend: Es feh-
len eine moderne Kreuzbühne und Räu-
me für Chorproben. Insgesamt ist die
Oper mit ihren Probenräumen für heuti-
ge Bedürfnisse nicht geeignet und 10 000
Quadratmeter zu klein. Die Technik ist
veraltet. Der Computer zur Steuerung der
Bühnentechnik hat eine geringere Re-
chenleistung als ein zehn Jahre altes
Smartphone. Wenn Marc-Oliver Hen-
driks, der geschäftsführende Intendant,
durch Ober- und Untermaschinerie sei-
nes Haus führt, fragt er die Besucher meis-
tens, ob sie das nicht eher an einen Steue-
rungsraum eines ukrainischen Atomkraft-
werks erinnere.
Seit ein paar Monaten stehen in Hen-
driks Büro nun ein schmaler und ein sehr
umfangreicher Ordner. Der dünne Ord-
ner enthält die Unterlagen zur Bewertung
eines Ersatzstandorts beim Kulturzen-
trum „Wagenhallen“; im dicken Ordner
befindet sich ein umfangreiches Gutach-
ten über den Bauzustand und die Kosten
der Sanierung, die sich Stadt und Land tei-
len werden. Beide Akten werden seit Mo-
naten von der Stadt Stuttgart und dem ba-
den-württembergischen Finanzministeri-
um geprüft, um beschlussfähige Kosten-
rechnungen zu bekommen, für den Er-
satzstandort und für die Sanierung. Wer

nicht allzu optimistisch schätzt, wird da-
mit rechnen müssen, dass der Ersatzspiel-
ort um die hundert Millionen Euro kos-
ten könnte und die Sanierung des Litt-
mann-Baus samt einer Erweiterung zum
Einbau der Kreuzbühne kaum für weni-
ger als siebenhundert Millionen Euro zu
haben sein dürfte.
Die politischen Verwicklungen rund
um das Opernsanierungsdebakel sind
denkbar komplex, weil die eigentliche
Entscheidung von vielen zweitrangigen
Fragen überlagert wird. Die größten
Schwierigkeiten damit hat Oberbürger-
meister Fritz Kuhn. Ihm fehlt bisher ein
großes Projekt, das für seine Amtszeit als
erster grüner Oberbürgermeister einer
deutschen Landeshauptstadt stehen könn-
te. Kuhns Anspruch ist natürlich, das
Stuttgarter Bildungsbürgertum für sich
einzunehmen, die CDU zu übertrumpfen.
Kuhn ist aber auch ein ängstlicher Perfek-
tionist, der immer fürchtet, etwas falsch
zu machen. Deshalb verzögerte er die
Opernsanierung ganz wesentlich, indem
er vor einem Jahr ein altes Paketpostzen-
trum als Interimsquartier aus dem Ren-
nen nahm – mit der Begründung, ein Zwi-
schenquartier, das mehr als hundert Mil-
lionen Euro kosten und später abgerissen
werde, sei den Bürgern nicht zuzumuten.
Kuhn schlug dann nach langen Bera-
tungen vor, einen provisorischen Holz-
bau in der Nähe des alternativen Kultur-
zentrums Wagenhallen zu errichten.
Dass der viel weniger als hundert Millio-
nen Euro kosten wird, gilt als unwahr-
scheinlich. Das eigentliche Problem
kann Kuhn aber nicht lösen: Stuttgart be-
nötigt seit Jahren eine international kon-
kurrenzfähige Konzerthalle oder Philhar-
monie. Charme hat die Überlegung, den
Interimsspielort für die Oper auf dem
Stuttgart-21-Gelände so zu bauen, dass
er später zur Philharmonie oder Konzert-
halle umgebaut werden kann, genug
wichtige Orchester gibt es in der Stadt.
Aber die dafür nötige Fläche dürfte frü-
hestens in zehn Jahren bebaubar sein,
und so lange kann die Sanierung der
Oper nicht warten.

Kuhn hat angekündigt, vor Jahresende
alle drei Fragen zu klären: Er will die
Opernsanierung auf den Weg bringen,
den Zwischenspielort bestimmen und zu-
mindest Vorentscheidungen für den Bau
einer Philharmonie treffen. Misslingt es
ihm in diesem Herbst, Mehrheiten für die
Opernsanierung zu finden, schwinden
seine Aussichten für eine zweite Amts-
zeit ab 2020.
Für die Grünen und die CDU im Land
ist dies nicht irgendeine Wahl, sie gilt viel-
mehr als Test für die Landtagswahl. Ver-
liert Kuhn, fühlt sich die CDU bestärkt,
die grüne Vorherrschaft beenden zu kön-
nen. Die Kompromissbereitschaft dürfte
also bei beiden Parteien nicht allzu groß
sein; zumindest die Planungskosten müss-
ten bis zum Herbst im künftigen Doppel-
haushalt des Landes stehen. Es gibt also
nur ein sehr schmales Entscheidungszeit-
fenster. Kommt nicht bald ein Konsens
über die Finanzierung zustande, ist es
wahrscheinlich, dass die Sanierung frü-
hestens 2021 – nach den Wahlen – be-
schlossen würde. Dann aber befindet sich
das Land möglicherweise mitten in ei-
nem Wirtschaftsabschwung, mit dem ers-
ten Spatenstich wäre wohl nicht vor 2029
zu rechnen.

D

a ist man in Mannheim bei
der Sanierung des National-
theaters schon einige Schritte
weiter als im kompliziert zu
regierenden, aber sehr rei-
chen Stuttgart. Von 2021 an kann in
Mannheim saniert werden, was auch
zwingend nötig ist, weil die Betriebsge-
nehmigung Ende 2022 erlöschen wird.
Das Nationaltheater ist zwar erst sechzig
Jahre alt, aber nicht minder sanierungsbe-
dürftig. Der von Gerhard Weber geplante
und 1957 eröffnete Bau gehörte einst zu
den modernsten der jungen Republik. Die
„offene Raumbühne“ für Schauspiel und
Oper hebt bis heute die Trennung von
Theater- und Stadtgesellschaft auf. „Des-
wegen hat das Schauspielhaus“, sagt der
Mannheimer Schauspielintendant Christi-
an Holtzhauer, „ein großes Schaufenster

Richtung Innenstadt“. Bevor es teilweise
verhängt wurde, konnten wie in Frank-
furt die Passanten unten auf der Straße
das Schauspiel, das die Theaterbesucher
boten, betrachten, während das Publikum
im Haus das Treiben in der Stadt beobach-
ten konnte. Ränge und Logen gibt es im
Schauspielhaus nicht, und auch im Opern-
haus ist die Sicht von jedem Platz aus
gleich gut. „In der Architektur unseres
Hauses spiegelt sich die Vorstellung von
einer demokratischen, offenen Gesell-
schaft wider, wie man sie nach 1945 for-
mulierte“, sagt Holtzhauer.
In den vergangenen Jahrzehnten wur-
de das auf einem Weltkriegsbunker ste-
hende Nationaltheater immer mal wieder
saniert, wobei das Prinzip der „offenen
Raumbühne“ gelitten hat. Mit der jetzt ge-
planten Sanierung soll der ursprüngliche
Zustand wiederhergestellt und die Tech-
nik modernisiert werden: Die Arbeitsbe-
dingungen für die Künstler sind seit min-
destens einem Jahrzehnt unzumutbar,
Probenräume zu klein, und die Drehbüh-
ne muss noch mit Handarbeit eingebaut
werden, wenn sie für eine Inszenierung
benötigt wird. Auch der Probensaal für
das Orchester ist viel zu klein, für zwei-
hundert Orchestermusiker hat er zu we-
nig Luftvolumen. Eine moderne Sprink-
leranlage gibt es nicht. Bühnen- und
Haustechnik sind veraltet, der Bunkerkel-
ler ist feucht.
Das Nationaltheater ist kommunal fi-
nanziert. Erwartet wird derzeit ein Fi-
nanzbedarf von etwa 240 Millionen Euro.
Dem Mannheimer Oberbürgermeister Pe-
ter Kurz (SPD) und den Bundestagsabge-
ordneten gelang es, für dieses ungewöhn-
liche Projekt eine finanzielle Unterstüt-
zung des Bundes in Höhe von achtzig Mil-
lionen Euro zu erreichen, das Land gibt
vierzig Millionen Euro dazu. Mannheim
selbst zahlt mit 120 Millionen Euro den
größten Teil. Die Bauarbeiten sollen nur
vier Jahre dauern. Die Interimsspielstätte
ist noch nicht finanziert. Kostensteigerun-
gen wie bei vergleichbaren Vorhaben will
man vermeiden. „Bei der Stadt gibt es
Überlegungen, dass das Nationaltheater

selbst Bauherr der Gesamtmaßnahme
wird“, sagt Marc Stefan Sickel, Geschäfts-
führender Intendant des Nationalthea-
ters. „Allen Akteuren ist bewusst, welche
enormen Risiken – insbesondere finan-
zielle und zeitliche – mit einem solchen
Riesenprojekt verbunden sind. Die Köl-
ner und Berliner Negativbeispiele sind
Mahnung und Ansporn zugleich.“
Sowohl in Stuttgart als auch in Mann-
heim lassen sich dreistellige Millionenbe-
träge zur Instandhaltung von Oper und
Theater den Bürgern nicht einfach ver-
kaufen – nicht jeder Mannheimer oder
Stuttgarter ist regelmäßiger Theatergän-
ger. Und in beiden Städten werden die
Bürger von den Sanierungen ziemlich we-
nig sehen: An der Konrad-Adenauer-Stra-
ße wird das hässliche Kulissengebäude ab-
gerissen, in Mannheim werden Abonnen-
ten nach der Wiedereröffnung des Natio-
naltheaters vor allem merken, dass die
Kasse nicht mehr im Pavillon unterge-
bracht ist, sondern im Foyer des Hauses.
Auf die Frage, wie sich der hohe Auf-
wand rechtfertigen lasse, geben Christian
Holtzhauer und Marc-Oliver Hendriks na-
hezu gleichlautende Antworten: Sie be-
trachten ihre Opern- und Theaterbauten
als analoge Foren in einer digitalen Welt.
„Die Herausforderung, vor der wir als Re-
gisseure, Schauspieler und Intendanten
heute stehen, ist doch, dass es ein halb-
wegs homogenes Publikum oder auch ein
einheitliches Bildungsbürgertum in einer
so diversen Stadt wie Mannheim schon
lange nicht mehr gibt“, sagt Holtzhauer.
Ein Haus wie das Nationaltheater brau-
che wie ein Kinobetreiber viele verschie-
dene Räume, um auf die unterschiedlichs-
ten Interessen eingehen zu können. Thea-
ter hätten „in einer digitalen Gesellschaft
mit ihren zahlreichen medialen Ablen-
kungsmanövern“ einen unschätzbaren
Vorteil: Sie würden immer live spielen.
„Das Publikum ist Zeuge – und es gibt
eine zunehmende Sehnsucht nach analo-
gen Orten, an denen wir uns versammeln
können.“ Dafür sorge man auch mit den
kostspieligen und komplexen Sanierun-
gen. RÜDIGER SOLDT

Die Sehnsucht nach dem analogen Ort

Es gibt gute Gründe für die Annahme,
dass die impressionistische Malerei vor ge-
nau einhundertfünfzig Jahren, im Septem-
ber 1869, zum ersten Mal eine ihr entspre-
chende Gestalt annahm. Geboren wurde
sie, wie Aphrodite,aus dem Wasser, aus
dem Wasser der Seine, um präzise zu sein.
Auf einer Insel in diesem Fluss lag damals,
westlich von Paris, ein Ausflugslokal na-
mens La Grenouillère, und ganz in der
Nähe wohnten zwei Maler: Claude Monet
und Auguste Renoir.
Beide waren achtundzwanzig Jahre alt
und weitgehend mittellos. Monet beklagte
in einem Brief sogar, er habe manchmal ta-
gelang nichts zu essen, und Leinwand und
Ölfarbe könne er sich auch nicht kaufen.
Auch Renoir hatte über den Sommer nicht
viel gemalt. Doch diese unfreiwillige Ent-
haltsamkeit mündete schließlich in einem
grandiosen künstlerischen Durchbruch,
und die dazu nötige Inspiration kam aus
den Wellen des Wassers. Das Wasser war
jenes, aus dem sich die Anlagen des Gast-
hauses La Grenouillère erhoben. Hier ver-
kehrte die Pariser Kunstszene, auch poten-
tielle Käufer gingen ein und aus. Man konn-
te essen, trinken und feiern, es gab ein
Schwimmbad und einen Bootsverleih. Die-
se Kultstätte des eleganten Müßiggangs
war zweifellos ein gutes Motiv für moder-
ne Gemälde, die das Interesse und die
Kaufbereitschaft des Publikums wecken
würden. Man musste nur die passende Dar-
stellungsweise finden.
Die penible und „geleckte“ Malweise,
die man immer noch an der École des
Beaux-Arts lehrte, war hierfür denkbar un-
geeignet. Monet und Renoir hatten aber oh-
nehin schon begonnen, Farbe nicht mehr
in kontinuierlichen Modulationen aufzutra-
gen, sondern in deutlich abgesetzten Pin-
selstrichen. Dabei blieben Monets Bilder
aber meist starr wie ein Mosaik. Bei einer
Seelandschaft aus dem Jahr zuvor sahen

die Wellen aus, als seien sie aus Granit ge-
meißelt. Auch Renoir verharrte noch in
dem steif-glasierten Stil, den er sich in sei-
ner Jugend als Porzellanmaler angewöhnt
hatte.
In den Bildern, die sie von der Grenouil-
lère malten, konnten sich beide aus diesen
Beschränkungen befreien. Von Renoir gibt
es zwei Gemälde, heute in Stockholm und
in Winterthur. Monet malte drei Bilder,
von denen eines im Zweiten Weltkrieg ver-
schwand. Die anderen befinden sich im
New Yorker Metropolitan Museum und in
der Londoner National Gallery. An dem
Bild in London erkennt man besonders
deutlich, was daran so wegweisend war.

Monet benutzte, anders als Renoir, keine
dünnen und spitzen Pinsel, sondern breite
mit gleichlangen Borsten. Winzige Details
kann man damit schlecht wiedergeben,
wohl aber übergreifende Strukturen wie
die Licht- und Schattenpartien eines Bau-
mes. Tatsächlich zeigt Monets Bild eher
dasjenige, was sich schon einem ganz kur-
zen Blick auf die dargestellte Szene darbie-
tet.
Ein solcher Blick entspricht genau der
Art und Weise, in der sich die Beteiligen
selbst über das Geschehen orientieren.
Wer selbst teilnimmt, kann gar nicht alles
genau erfassen. Viel wichtiger ist es, aus
der verwirrenden Vielfalt der Eindrücke

konstante Muster herauszulesen, die in der
ständigen Veränderung ihre Kontinuität
bewahren. Ein Mensch, der im Wasser
steht, ist auch dann noch derselbe, wenn er
kurz untertaucht oder hinter einem ande-
ren verschwindet. Deshalb erschließt sich
seine Gestalt nicht unbedingt aus einem
momentanen Anblick. Man erkennt sie
eher in dem, was sich in einer Vielzahl von
Anblicken erhält.
Das ist von Vorteil für die Malerei. Sie
ist nämlich nicht wie die Fotografie dazu
verurteilt, nur das zu zeigen, was sich in ei-
nem einzigen Augenblick darbietet. Das er-
kennt man sofort, wenn man sich die Grup-
pe der Badenden in Monets Gemälde an-

schaut. Die einzelnen Personen sind ex-
trem skizzenhaft dargestellt. Arme und Bei-
ne fehlen, weil sie sich ständig bewegen,
ein dunkler Haarschopf bleibt dagegen bei
jeder Drehung des Kopfes sichtbar, und
dass jemand auf dem Rasen sitzt, verrät
schon die Kontur des Rückens. Noch deutli-
cher wird das Prinzip bei den Wasserwel-
len. So wie Monet sie darstellt, haben sie
zu keinem Zeitpunkt wirklich ausgesehen.
Das Bild zeigt nur ein abstraktes Muster,
das ihrer Bewegung zugrunde liegt. Wellen-
berge und Wellentäler staffeln sich überein-
ander, so dass man den Eindruck hat, dass
die Wellen immer näher kommen. Dabei
schwingen sie ständig hin und her, von

links nach rechts und wieder zurück. Die
Bögen und Kringel, die Monet gemalt hat,
sind keine Zustandsbeschreibungen, son-
dern choreographische Bewegungsnotatio-
nen.
Was also macht der Maler? Zunächst be-
gibt er sich in ein Ambiente, in dem sich al-
les bewegt, die Menschen, die Bäume, die
Boote, sogar der Steg, auf dem er steht. Um
diese Bewegung auch in seiner Malerei fort-
wirken zu lassen, erzeugt er die Fiktion,
die Farben und die Formen des Bildes
könnten sich ihrerseits untereinander ver-
schieben. Um das zu erreichen, kann er je-
doch nicht einfach registrieren, was auf
der Netzhaut erscheint. Er muss die Sym-
ptome der Bewegung aus längeren Sequen-
zen herauslesen.
Das ist keineswegs nur ein künstleri-
sches Problem. Unter den Bedingungen
der urbanen Moderne wird die Umwelt zu
einer radikal veränderlichen, die man zu-
erst nur rein optisch wahrnimmt, weil
man nicht mehr, wie früher auf dem Lan-
de, schon im Voraus weiß, was auf einen
zukommt. Impressionistisch wird die Ma-
lerei nicht schon dann, wenn man, wie Ve-
lázquez oder Hals, ein Kleidungsstück
durch rasche Pinselstriche umreißt. Der
Impressionismus ist das Pendant einer
thermodynamischen Welt, die durchgän-
gig in Bewegung geraten ist. Immer wie-
der sieht man vom Winde bewegte Wie-
sen, irrlichternde Sonnenstrahlen, zittern-
des Laubwerk, Nebel, Dampf, fließendes
Wasser, flatternde Fähnchen und nicht zu-
letzt auch urbane Menschenmassen. Da-
bei muss ein Gemälde, das so etwas zeigt,
seinerseits eine ähnliche Dynamik entfal-
ten, wie man sie in der Spiegelung eines
Bootes auf den Wellen des Wassers beob-
achten kann. Erst das kündet von der Ge-
burt der impressionistischen Malerei.
Wie wir heute wissen, fand sie im Septem-
ber 1869 statt, vor einhundertfünfzig Jah-
„La Grenouillère“ (1869): Die ähnlichen Gemälde von Pierre-Auguste Renoir (links) und Claude Monet (rechts) befinden sich heute in Stockholm und New York. Fotos Interfoto ren. KARLHEINZ LÜDEKING

Als der Impressionismus aus den Wellen geboren wurde


Vor hundertfünfzig Jahren erfinden Monet und Renoir in einem Ausflugslokal den Stil, derdie durchgängige Bewegtheit der Welt in der Malerei fortwirken lässt


Frankfurt ist nicht al-


lein: Auch in Stuttgart


und Mannheim müssen


Oper und Theater für


dreistellige Millionen-


beträge saniert werden.


Politisch ist es nicht ein-


fach, solche Investitio-


nen durchzusetzen.

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