Frankfurter Allgemeine Zeitung - 02.09.2019

(lily) #1

FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG Wirtschaft MONTAG, 2. SEPTEMBER 2019·NR. 203·SEITE 15


DasJustizministerium ist für eine


Zusammenarbeit von Anwälten mit


vielen anderen Berufen.Seite 17


Flixbusdominiert den Markt für


Fernbusse – aber jetzt greift


Blablabus aus Frankreich an.Seite 19


Renaud de Planta, der neue Chef


der Schweizer Privatbank Pictet,


im Gespräch.Seite 22


Neues Berufsrecht Zweikampf auf der Straße Leitzins an der Schmerzgrenze


W


ennAngela Merkel am Freitag
China besucht, treffen die Bun-
deskanzlerin und die sie begleitenden
Vorstandschefs auf ein Land, das bald
nicht mehr von Menschen verwaltet
werden soll. Schon vom kommenden
Jahr an soll ein Algorithmus Chinas
Wirtschaft und Gesellschaft steuern –
mit möglicherweise fatalen Folgen
auch für deutsche Unternehmen. Dass
von 2020 an in jedem Lebensbereich
das Verhalten der fast 1,4 Milliarden
Chinesen von einem „Sozialkreditsys-
tem“ mit Hilfe von Künstlicher Intelli-
genz überwacht, bewertet und automa-
tisch belohnt oder bestraft wird, ist vie-
len bekannt. Hingegen ist selbst in
manchen deutschen Industriekonzer-
nen wenig geläufig, dass Chinas Regie-
rung schon in den nächsten Wochen
die Ausweitung des Sozialkreditsys-
tems auf seine Wirtschaft testen wird,
die zweitgrößte der Welt. Ausnahms-
los alle Tätigkeiten eines jeden inländi-
schen wie ausländischen Unterneh-
mens sollen so auf „vertrauenswürdi-
ges Verhalten“ hin kontrolliert und be-
wertet werden.
Milliarden Daten über Steuerschul-
den, Produktion und Emissionen, aber
auch über die private „Vertrauenswür-
digkeit“ von Angestellten und Ge-
schäftspartnern laufen zusammen in
einem zentralen, gigantischen Spei-
cher und werden von einer Computer-
formel mit einer Schulnote versehen.
Sogar Videobilder in Echtzeit müssen
die Unternehmen aus ihren Gebäuden
zur Überwachung senden. Je nach-
dem, welche Note der nach den Wün-
schen von Pekings Diktatoren pro-
grammierte Algorithmus der „Vertrau-
enswürdigkeit“ erteilt, winken den Un-
ternehmen Vergünstigungen wie Steu-
ererleichterungen oder Sanktionen,
die vom Ausschluss von öffentlichen
Ausschreibungen reichen können bis
zum „Tod“: dem Ausschluss vom
Markt mit den meisten Konsumenten
der Welt.
Die Wirtschaft fordert von der Bun-
deskanzlerin, das nun kurz vor der Ein-
führung stehende Sozialkreditsystem
in Peking zum Thema zu machen. Die
Angst vor dem revolutionären An-
spruch einer Apparatur ist groß, mit
der die Kommunistische Partei Beam-
te, Richter und Wettbewerber durch
ein einziges Computerprogramm erset-
zen will. Es soll durch unbestechliche
Selbstregulation den Mangel an Ver-
trauen in Staat, Wirtschaft und Mit-
menschen ausgleichen, der nach Mei-
nung der Führung in China herrscht.
Die Maschine fällt ihr Urteil in der
für die Partei charakteristischen Tota-
lität. Hinkt etwa die in einer Randpro-
vinz tätige Niederlassung eines Phar-
maunternehmens auch nur Tage mit
der Steuerzahlung hinterher, senkt
der Algorithmus die Note für die Ver-
trauenswürdigkeit des Mutterkon-
zerns, was automatisch in der nationa-
len Gesundheitsbehörde die Ver-
triebszulassung für neue Medikamen-
te blockiert.

Dem Zwang, sich immer und überall
regelkonform zu verhalten, könnten
sie sich leichter unterwerfen als ihre
undisziplinierteren lokalen Wettbewer-
ber, hoffen deutsche Unternehmen. Es
sei etwas dran an Pekings Vorstellung,
dass die Transaktionskosten für Bür-
ger und Firmen sänken, wenn jeder sei-
ne Schulden bedient. Doch was genau
ist in den Augen Pekings das „vertrau-
enswürdige Verhalten“, auf dessen
Grundlage der Algorithmus über das
Geschäft sowie über Wohl und Wehe
ausländischer Manager entscheiden
soll?
Im Fall der Fluggesellschaft Cathay
mit Sitz in der Sonderverwaltungszone

Hongkong, in der laut Verfassung Mei-
nungsfreiheit herrscht, hat Chinas Füh-
rung klargemacht, dass sie diese Frage
zuweilen nicht auf der Grundlage von
Recht und Gesetz beantwortet, son-
dern politisch. Als Piloten und Flugbe-
gleiter ihre Sympathie für die Massen-
proteste gegen Peking bekundet hat-
ten, drohte das nationale Luftfahrtamt
mit einem Verbot der Flüge aufs Fest-
land aus „Sicherheitsgründen“, wäh-
rend Pekings größte Bank den Verkauf
der Cathay-Aktie „dringend“ empfahl.
Strafe Chinas Führung derart hem-
mungslos Unternehmen ab, die gar
nicht vom Sozialkreditsystem erfasst
seien, lasse dies ahnen, wie künftig
ausländische Konzerne auf dem Fest-
land „bewertet“ würden, die in der Fol-
ge von Chinas Handelskrieg mit Ame-
rika ins Fadenkreuz der Partei gerie-
ten, argwöhnt die ausländische Wirt-
schaft. Ihre Sorgen sind berechtigt. So
fällte Ende Juli Chinas Regierung das
Urteil, der amerikanische Paketzustel-
ler Fed-Ex habe die „legitimen Rechte
und Interessen von Kunden“ verletzt,
nachdem ein paar Sendungen nicht
beim Adressaten Huawei im südlichen
Shenzhen angekommen waren. Dies
darf als Pekings Vergeltung dafür inter-
pretiert werden, dass Washington den
Netzwerkausrüster auf eine Schwarze
Liste gesetzt hat.
Wort für Wort entspricht der Schuld-
spruch einem der Kriterien, nach de-
nen Pekings Kreditsystem „stark ver-
trauensunwürdige Unternehmen“ aus
dem Land werfen darf. Es ist leicht vor-
stellbar, dass etwa Volkswagen wegen
der Verletzung von „Kundeninteres-
sen“ in China vom Algorithmus be-
straft werden könnte, sollte nach den
Vereinigten Staaten auch Deutschland
auf die Dienste Huaweis verzichten.
Eine totale Technokratie, die Willkür
automatisiert und in einen institutio-
nellen Rahmen kleidet: Das ist der
Traum von Autokraten. Für die deut-
sche Wirtschaft nehmen in China die
Gefahren zu.

D


ie Erwartungen an die Landtags-
wahlen in Sachsen und Branden-
burg waren düster. Doch ganz so
schlimm, wie noch vor wenigen Wo-
chen befürchtet, ist es nun nicht ge-
kommen. Das gilt vor allem für Sach-
sen, das wirtschaftlich stärkste Flä-
chenland im Osten Deutschlands.
Dort hat Ministerpräsident Michael
Kretschmer durch sein unermüdliches
Werben bei den Wählern erreicht,
dass seine CDU, in früheren Umfragen
noch gleichauf mit der AfD, nun zu-
mindest mit einem gewissen Abstand
die stärkste Kraft bleibt. In Branden-
burg rettete sich SPD-Ministerpräsi-
dent Dietmar Woidke auf den letzten
Metern ins Ziel. Fest steht: Einfacher
wird das Regieren in beiden Bundes-
ländern nicht, im Gegenteil. Für die
Wirtschaft ist das kein gutes Signal.
Schon in den vergangenen Wochen
spielten wirtschaftliche Themen so-
wohl in Sachsen als auch in Branden-
burg nur eine untergeordnete Rolle.
Keine Frage, der geplante Kohleaus-
stieg erhitzt die Gemüter. Doch in den
Diskussionen darüber geht es vor al-
lem um die Frage, wie viel mehr Geld
als die schon bewilligten 17 Milliarden
Euro die Lausitz bekommen soll, um
die Folgen dieser Entscheidung abzufe-

dern. Das Geld wird schon eifrig ver-
plant, allerdings längst nicht nur für
Projekte, die eine wirtschaftliche Zu-
kunft nach der Kohle sichern könnten.
Der Bau zahlreicher neuer Ortsumge-
hungen ist dafür jedenfalls nur bedingt
geeignet.
Sowohl der sächsische Ministerprä-
sident Kretschmer als auch sein bran-
denburgischer Amtskollege Woidke
haben sich im Wahlkampf überaus
verständnisvoll für die Sorgen der
Bürger gezeigt. Das mag ihnen zwar
die dringend benötigten Stimmen ein-
gebracht haben, es bringt aber ihre
Länder nicht weiter. Vielerorts bekla-
gen Unternehmer, dass die teils of-
fen, teils latent ausländerfeindliche
Stimmung ausländische Fachkräfte
davon abhalte, eine Stelle in Ost-
deutschland anzunehmen.
Wäre Ostdeutschland ein Produkt,
dann würden Marketingfachleute drin-
gend zu einem besseren „Storytelling“
raten. Es ist nicht die Aufgabe der Poli-
tik, Bürger in ihrem Gefühl zu bestäti-
gen, ungerecht behandelt zu werden.
Was es braucht, sind mehr positive Ge-
schichten, die Lust darauf machen, im
Osten zu leben, zu arbeiten, zu inves-
tieren, In- und Ausländern gleicher-
maßen. Die Voraussetzungen dafür
sind durchaus gut, denn auch das ist
ein Ergebnis dieser Landtagswahlen:
Trotz der großen Präsenz der AfD vor
Ort haben sich drei Viertel der Men-
schen in Sachsen und Brandenburg ge-
gen diese Partei entschieden.

ChinasDiktatoren gehen
neue Wege zur totalen
Kontrolle. Das trifft auch
deutsche Unternehmen.

loe.BERLIN, 1. September. Wie viele
Ausländer kann Deutschland noch ver-
kraften? Diese Frage spielte in den ver-
gangenen Wochen im Wahlkampf in Sach-
sen und Brandenburg eine wichtige Rolle.
Vor allem die AfD und ihre Anhänger ver-
treten die Ansicht: bloß nicht noch mehr.
Dazu passt eine kürzlich veröffentlichte
Studie der Bertelsmann-Stiftung, wonach
60 Prozent der Ostdeutschen der Mei-
nung sind, dass es zu viel Einwanderung
gibt. Zwar ist diese Meinung auch in West-
deutschland verbreitet, mit 50 Prozent
liegt der Wert aber deutlich niedriger.
Ökonomen sehen dies mit Sorge,
schließlich ist die Wirtschaft in Ost-
deutschland auf Zuwanderung angewie-
sen. Grund ist die Abwanderungswelle
nach der Wende, rund 2 Millionen Men-


schen hat Ostdeutschland dadurch netto
verloren. Das hat Folgen für die weitere
wirtschaftliche Entwicklung: Zwischen
2018 und 2035 wird die Zahl der Men-
schen im erwerbsfähigen Alter – das sind
alle zwischen 15 und 67 Jahren – in Ost-
deutschland um rund 1,5 Millionen Men-
schen abnehmen, sagt der Chef der
Dresdner Niederlassung des Ifo-Instituts,
Joachim Ragnitz, voraus. Weil nicht alle
Erwerbsfähigen auch tatsächlich arbeiten,
schrumpft die Zahl der Erwerbstätigen
zwar nicht ganz so stark. Aber auch diesbe-
züglich kommt Ragnitz auf eine Zahl von
435 000 Menschen, die der Wirtschaft bis
2035 verlorengehen und die ersetzt wer-
den müssen – durch wen auch immer.
„Man braucht viel mehr Zuwanderung,
daran führt kein Weg vorbei“, sagt der
Wirtschaftsforscher. In Brandenburg und
Sachsen sei die Lücke noch vergleichswei-
se gering. Brandenburg profitiert von den
Zuzüglern aus Berlin, denen die Haupt-
stadt zu teuer geworden ist. Sachsen zieht
junge Menschen aus ganz Deutschland an,
die in der Kreativmetropole Leipzig oder
im IT-Cluster rund um Dresden eine Zu-
kunft für sich sehen. Doch besonders in
Thüringen, wo Ende Oktober gewählt
wird, sowie in Sachsen-Anhalt und Meck-
lenburg-Vorpommern rücken zu wenig Er-
werbstätige nach. Natürlich ließe sich
durch Produktivitätsfortschritte oder die

Digitalisierung künftig auch die ein oder
andere Aufgabe erledigen, ohne dass es
dazu einer Fachkraft bedarf, sagt Ragnitz.
Aber er gibt auch zu bedenken, dass seine
Zahlen nur zeigen, wie groß der Bedarf
ist, um den Status quo zu halten. „Da ha-
ben wir noch nicht über Wachstum gere-
det.“ Das aber ist nötig, damit sich der Os-
ten dem Westen wirtschaftlich annähert
und der Abstand nicht wieder größer wird.
Gegenwärtig liegt das Bruttoinlandspro-
dukt je Einwohner im Osten bei rund drei
Viertel des Westniveaus.
Das Leibniz-Institut für Wirtschaftsfor-
schung aus Halle (IWH) konstatiert, dass
wegen der Alterung der Gesellschaft die
Zahl der Erwerbsfähigen in Ostdeutsch-
land doppelt so stark schrumpft wie in
Westdeutschland. Die jüngsten Zuwande-
rungszahlen stimmen die Ökonomen we-
nig optimistisch – vor allem wenn es um
Einwanderer aus anderen europäischen
Ländern geht, die sich leichter in den Ar-
beitsmarkt integrieren lassen als Flücht-
linge. Von dem Zuzug aus dem EU-Aus-
land würden vor allem westdeutsche Bun-
desländer wie Baden-Württemberg, Bay-
ern und Hessen profitieren, heißt es in
der IWH-Studie „Vereintes Land“. „Be-
sonders niedrig fallen die EU-Wande-
rungsgewinne in Sachsen und Sachsen-
Anhalt aus.“ Die ausländerfeindliche Pe-
gida-Bewegung, die in Dresden montags

weiter demonstriert, dürfte daran eben-
so einen Anteil haben wie die Ausschrei-
tungen in Chemnitz im Sommer 2018.
„Künftig werden Fachkräfte der zentra-
le Engpass der ostdeutschen Wirtschafts-
entwicklung sein“, heißt es in der Studie
des IWH. In der Bertelsmann-Umfrage
stimmten aber nur 55 Prozent der Befrag-
ten in Ostdeutschland der Aussage zu,
dass Einwanderung positive Effekte auf
die Wirtschaft hat. In den westlichen
Bundesländern waren es 67 Prozent. Es
fehle „die Übung, die Erfahrung mit Mi-
gration“, sagt Studienautor Orkan Köse-
men. Ifo-Mann Ragnitz hat aber Hoff-
nung, dass sich diese Einstellung ändern
wird. „In 15 Jahren kann viel passieren“,
sagt er. In Westdeutschland habe es in
den siebziger Jahren auch eine große
Skepsis gegenüber Ausländern gegeben.
Im Juni hat der Bundestag das Fachkräf-
teeinwanderungsgesetz beschlossen, das
vor allem qualifizierte Fachkräfte nach
Deutschland locken soll. Um die Personal-
lücke in der Pflege zu decken, gibt es An-
werbeabkommen unter anderem mit Viet-
nam und dem Kosovo. Die Zeit drängt:
Das Berlin-Institut für Bevölkerung und
Entwicklung hat ausgerechnet, dass Sach-
sen – das ostdeutsche Flächenland mit der
höchsten Wirtschaftskraft – von allen Bun-
desländern mit 45,7 Jahren das zweit-
höchste Durchschnittsalter hat, nur noch
übertroffen von Sachsen-Anhalt.

PekingsAlgorithmus


Von Hendrik Ankenbrand, Schanghai

chs.PARIS, 1. September. Das Hand-
werk hat derzeit goldenen Boden in
Frankreich. Denn es wird gebaut und re-
noviert. Im zweiten Quartal dieses Jah-
res registrierte der Branchenverband
U2P ein solides Umsatzplus von 3,5 Pro-
zent. Gerade kleine und mittelständische
Unternehmen, die sonst viel klagen, wol-
len sich die Laune von den trüben Nach-
richten über die Weltwirtschaft nicht ver-
derben lassen. Nach einer Umfrage der
Investitionsbank BPI glauben 40 Prozent
an Umsatzzuwächse in diesem Jahr und
nur 17 Prozent an Rückgänge.
Frankreichs Wirtschaft zeigt derzeit
eine erstaunliche Widerstandskraft. Dass
das Statistikamt Insee in der vergangenen
Woche die Zunahme des Bruttoinlands-
produktes (BPI) im zweiten Quartal von
0,2 auf 0,3 Prozent nach oben korrigierte,
ist dafür nur ein Anzeichen. Wenn die
Wirtschaft im Rest des Jahres nicht mehr
wachsen würde, hätte sie zur Jahreshälfte
schon ein Plus von 1,1 Prozent erreicht.
Die Regierung, die derzeit mit 1,4 Pro-
zent für das ganze Jahr 2019 rechnet,
kann sich bestätigt fühlen. Gegenüber
dem Vorjahreswachstum von 1,7 Prozent
stellt sich zwar eine Verlangsamung ein,
doch im derzeitigen Umfeld kann die fran-
zösische Wirtschaft als robust gelten. „In
einem Monat entscheiden wir, ob wir un-
sere Wachstumsprognose anpassen“, sag-
te Finanzminister Bruno Le Maire – und
meinte: nach oben.
Wenn man Frankreich mit seinem größ-
ten Wirtschaftspartner Deutschland ver-
gleicht, muss man bis 2009 oder 2005 zu-
rückgehen, um einen ähnlichen Wachs-
tumsvorsprung zu finden. Die Deutsche
Bank erwartet ein französisches Wachs-
tum in diesem Jahr von 1,3 Prozent – ge-
genüber 0,3 Prozent für Deutschland.
Auch für 2020 beträgt die Prognose für


Frankreich noch 1,2 Prozent und für
Deutschland 0,7 Prozent. Ein wichtiger
Grund ist die erstaunliche Zuversicht der
französischen Unternehmen, die sich in
höheren Investitionen niederschlägt. „Es
ist anzunehmen, dass sie Vertrauen in die
Reformen von Emmanuel Macron und in
die Fortsetzung des Wachstums haben“,
sagt der Ökonom Marc de Muizon, der in
der Deutschen Bank in London für Frank-
reich zuständig ist. Im zweiten Quartal leg-
ten die Investitionen um satte 0,9 Prozent
zu, nachdem sie im ersten Quartal schon
um 0,5 Prozent gewachsen waren. Die
Steuer- und Abgabensenkungen schlagen
sich nieder: Der Anteil der Gewinne an
der Bruttowertschöpfung von gut 33 Pro-
zent ist der höchste Wert seit zehn Jahren.
Die Investitionsvorhaben notieren auf
dem höchsten Stand seit drei Jahren.
Die Dynamik der inländischen Unter-
nehmen verstärkt die Binnenorientierung
der französischen Wirtschaft. Seit jeher ist
Frankreich weniger vom Export abhängig
als Deutschland. Das spiegelt teilweise die
mangelnde Wettbewerbsfähigkeit der fran-
zösischen Unternehmen, gerade des Mit-
telstands, wider, doch auch die Bedeutung
der Konsumausgaben der Haushalte. Nun
fragen sich etliche Ökonomen, ob die ge-
ringere Abhängigkeit vom Ausland nicht
ein Vorteil ist. „In einer Welt, die stärker
protektionistisch ist, hat das Modell der
Orientierung auf die heimische Nachfrage
seine Vorteile“, meint de Muizon.
Weil der Konsum der privaten Haushal-
te ein dicker Pfeiler der Wirtschaft ist, ach-
tet die französische Politik mit Argusau-
gen auf die Kaufkraft der Franzosen. „Dan-
ke, Gelbwesten“, sagt Philippe Askenazy,
Ökonom am Forschungsinstitut CNRS.
Denn in diesem Jahr wird die Kaufkraft
nicht zuletzt von den staatlichen Ausga-
ben zur Beruhigung der Protestwelle ange-

feuert. Diese Ausgaben, darunter etwa ein
staatlicher Lohnzuschuss für Niedrigver-
diener, weist aber auch auf die strukturel-
len Schwächen des französischen Weges:
Die heimische Nachfrage hängt zu einem
großen Anteil von Staatsausgaben ab. Der
größte Posten davon sind zwar die Renten,
die der Ökonom de Muizon als „intergene-
rationellen Transfer von Haushaltsein-
kommen“ relativiert; dennoch sind die

Staatsausgaben von 56 Prozent des BIP
sehr hoch und können trotz des Defizitab-
baus der vergangenen Jahre weiterhin nur
um den Preis einer steigenden Staatsver-
schuldung finanziert werden. Frankreich
lebt also weiter auf Kosten seiner Zukunft.
Zudem liegen die Lohnsteigerungen, die
die Konsumausgaben alimentieren, min-
destens seit 12 Jahren über den Produktivi-
tätsgewinnen der Unternehmen. „Das ist
eine schlechte Nachricht für die Beschäfti-
gung“, räumt de Muizon ein. Die Regie-
rung hat die Arbeitslosenquote zwar lang-
sam auf den niedrigsten Stand seit zehn
Jahren gedrückt und damit die Binnen-
nachfrage mit beflügelt, bei 8,5 Prozent
liegt sie aber immer noch deutlich über
dem EU-Durchschnitt von 6,3 Prozent.
Der Ökonom Jean-Marc Daniel von
der Pariser Hochschule ESCP Europe
geht denn auch hart ins Gericht mit dem
französischen Modell. „Das Wachstum be-
ruht auf dem staatlichen Defizit und der
Stabilität der Ölpreise.“ Paris hat die Neu-
verschuldung in diesem Jahr wegen der
„Gelbwesten“-Ausgaben von 2,5 auf 3,
Prozent gesteigert, will 2020 aber wieder
deutlich unter 2,5 Prozent liegen. „Die
Strukturreformen der Regierung halten
sich sehr in Grenzen“, bemängelt Daniel.
Die Lockerung des Arbeitsrechts mit ei-
nem geringeren Kündigungsschutz trage
derzeit zur Senkung der Arbeitslosigkeit
bei; doch sie könnte im Abschwung das
Heer der Arbeitslosen wieder vergrößern.
„Weil die französische Regierung in den
vergangenen zwei Jahren die öffentlichen
Finanzen nicht saniert hat, wird es ihr
schwerfallen, effizient auf den nächsten
Abschwung zu antworten“, sagt Daniel
weiter. Deutschland nimmt er indes in
Schutz: Er sieht das Nachbarland nicht in
einer Strukturkrise, sondern „in einem zy-
klischen Umschwung“.

Blicknach vorn


Von Julia Löhr

Frankreich wächst viel stärker als Deutschland


Die Unternehmen investieren, die Nachfrage ist hoch – doch womöglich lebt das Land auf Kosten seiner Zukunft


Der Osten braucht Einwanderung


Quellen: Insee; Statista; Deutsche Bank

Derzeit liegt Frankreich vorne

1,5% BIP-Wachstum

BIP-Wachstum: Frankreich
Deutschland

Frankreich
Deutschland

96 2000 19

2017

1.Q. 2.Q. 3.Q. 4.Q. 1.Q. 2.Q. 3.Q. 4.Q. 1.Q. 2.Q.
2018 2019

05 10 15

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0%

0,5%

1,0%

F.A.Z.-Grafik Piron

Viele Ostdeutsche sind


gegen mehr Zuwanderer.


Doch Ökonomen


warnen: Ohne neue


Arbeitskräfte aus


dem Ausland geht es


wirtschaftlich bergab.


Mitarbeiten an der Zukunft Ostdeutschlands:BMW-Werk in Leipzig Foto dpa

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