SEITE 16·MONTAG, 2. SEPTEMBER 2019·NR. 203 Wirtschaft FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG
Jedes Jahr werden in Deutschland Tau-
sende von Heimatjahrbüchern, Stadt-
chroniken und Dorfgeschichten veröf-
fentlicht. Die Herausgeber und Autoren
sind oft Bürger, die sich für die Historie
ihrer Gegend interessieren, manche
sind lokalpolitisch oder in Geschichts-
vereinen engagiert.
Ihre Bücher vermitteln einen Ein-
druck über den früheren und heutigen
Alltag „normaler“ Menschen. Als Leser
erfährt man deshalb auch vieles über
die wirtschaftliche Entwicklung einer
Region. Insofern sind die Bände eine
wichtige Dokumentation von lokalem
Wissen und eine Fundgrube für Bewoh-
ner und Wissenschaftler. Von der Masse
an historischen Lesebüchern, die auch
in diesem Jahr wieder erschienen sind,
und die komplett zu sichten unmöglich
ist, sei beispielhaft der Band über Mug-
gensturm in Baden-Württemberg her-
ausgegriffen.
Die Gemeinde im Landkreis Rastatt
hat 6200 Einwohner und wurde vor fünf-
zehn Jahren durch ein weltweit einzig-
artiges „kommunales Fotoalbum“ be-
kannt. Damals verewigten sich 2316
Muggensturmer Bürger auf Keramik-
kacheln, die, aneinandergereiht, wie ein
Band durch die Gänge des Rathauses
führen. Ein Jahr später erreichte die Ge-
meinde den vierten Platz bei einem
Wettbewerb um die besten Behörden
Deutschlands. Besonders hervorgeho-
ben wurden die „vorbildlich effektiven
und unbürokratischen Aktivitäten im
Bereich der Firmenansiedlung sowie die
Unterstützung durch eine Bauleitpla-
nung, die auf Unternehmen ausgerich-
tet ist“. Man kann also sagen, dass Mug-
gensturm eine wirtschaftsfreundliche
Gemeinde mit wohl großem Zusammen-
halt seiner Bewohner ist.
Nun ist unter dem Titel „Tradition
durch Erinnerung“ ein Buch erschie-
nen, das einen lebendigen Einblick in
die Geschichte der im 12. Jahrhundert
erstmals urkundlich erwähnten Gemein-
de gibt. Auf rund 250 Seiten werden Be-
richte und Fotos, darunter viele Abbil-
dungen historischer Postkarten, im an-
sprechenden Layout präsentiert. Autor
ist der Bundestagsabgeordnete Christi-
an Jung, der zwar nicht aus Muggen-
sturm stammt, jedoch in der Region ver-
wurzelt ist.
In Berlin beschäftigt er sich als libera-
ler Politiker in der Fraktion von Christi-
an Lindner mit Verkehrspolitik, ausge-
bildet ist Jung aber als promovierter His-
toriker. In den vergangenen Jahren hat
er sich durch lange Archivarbeit und die
Erschließung von bisher nicht zugängli-
chen Quellen mit Muggensturm beschäf-
tigt. Dabei baut er auf einer Ortschronik
aus dem Jahr 1985 auf, die von Ernst
Schneider herausgegeben wurde. Aller-
dings war in dem Vorgängerwerk wenig
über die Zeit von Nationalsozialismus
und französischer Besatzung zu lesen.
Vielleicht waren manche Familien zu ge-
nerationennah mit Nazi-Schergen ver-
bunden, das Schweigen daher noch zu
allmächtig.
Deshalb hat Jung nun mit den letzten
lebenden Zeitzeugen gesprochen, denn
auch in Muggensturm „verblasste die Er-
innerung an dunkle Zeiten“. Das Lese-
buch soll, so schreibt Jung in seinem Vor-
wort, „eine Mahnung sein, was in einem
Dorf und einer Gemeinde passieren
kann, wenn die Prinzipien der im 19.
Jahrhundert und danach hart erkämpf-
ten Demokratie und des liberalen
Rechtsstaats außer Kraft gesetzt werden
und die Folgen bis in die Gegenwart an-
dauern.“
Das Lesebuch zeigt, wie sich Muggen-
sturm von einem landwirtschaftlich ge-
prägten Dorf zu einer modernen Ge-
meinde wandelte, in dem gerade das
weltweit größte Distributionszentrum ei-
nes Kosmetikkonzerns entstanden ist.
Wo früher Felder zu finden waren, er-
streckt sich inzwischen über 17 Hektar
ein klimaneutrales Zentrallager. Mug-
gensturm profitiert hier von der Nähe
zur Autobahn A 5. Doch die Gemeinde
hat auch eine reiche Industriegeschich-
te: Eine alte Postkarte aus den 1920er
Jahren zeigt die lokale Filiale der Deut-
schen Steinzeugfabrik. Die im Volks-
mund „D’Steinzeug“ genannte Firma
war ein wichtiger Arbeitgeber über Mug-
gensturm hinaus. Ebenso bekannt war
die Kartonagefabrik Dreyfuß & Roos
(genannt: „D’Schachtel“), die sich bis
zur nationalsozialistischen Zeit im Ei-
gentum einer jüdischen Familie befand.
Ab den 1920er-Jahren gab es mit der Ba-
dischen Obst- und Frühgemüsebau-
GmbH einen weiteren wichtigen Arbeit-
geber in der Gemeinde, der auf die land-
wirtschaftlichen Erfahrungen der Bevöl-
kerung als Arbeitskräftepool zurückgrei-
fen konnte.
Mit dem Unternehmen war auch eine
Konservenfabrik verbunden. Bekannt
war der Slogan „Muggensturmer Konser-
ven ‚5 vor 12‘tellerfertig“. Das Unter-
nehmen bestand bis 1972. Heute erin-
nert sich nicht einmal mehr das angeb-
lich so umfassende Internet an die Fir-
ma – auch deshalb sind Lokalchroniken
so wichtig. Übrigens leisteten zum wirt-
schaftlichen Aufschwung und der Finan-
zierung von kleinen und mittelständi-
schen Unternehmen auch die Banken ei-
nen nicht unwichtigen Beitrag. In den
Jahren 1929 und 1930 wurde für viele
Gemeinden rund um Rastatt eine Be-
zirkssparkasse gegründet, die aus der
Sparkasse Rastatt hervorging. In Mug-
gensturm wurde eine Zweigstelle mit ei-
gener Kontenführung eingerichtet. Als
Vorsitzender der Zweigstelle amtierte
der jeweilige Bürgermeister, die ersten
Räumlichkeiten waren im Rathaus ange-
siedelt. Erst 1959 zog die Bezirksspar-
kasse in ein eigenes Haus.
Daneben wurde 1904 die „Spar- und
Kreditbank“ als Genossenschaft gegrün-
det, die sich seitdem einige Male umbe-
nannt hat. Es ist überaus erfreulich, dass
in der Chronik der Gemeinde Muggen-
sturm auch Platz für die Bankenge-
schichte ist. Denn manche Heimat-
bücher blenden dieses Thema leider
komplett aus. Erfreulich sind bei dem
vorliegenden Buch auch der wissen-
schaftliche Anspruch mit zahlreichen
Quellenbelegen und dass es ohne Rekla-
me auskommt. Muggensturm, so scheint
es, ist eine Gemeinde, die floriert, weil
die Bürger, und auch ihr Bürgermeister
Dietmar Späth, seit vielen Jahren enorm
dazu beitragen. JOCHEN ZENTHÖFER
Christian Jung / Ernst Schneider: Tradition durch
Erinnerung. Die Geschichte von Muggensturm.
Verlag Regionalkultur, Ubstadt-Weiher 2019. 256
Seiten. 19,90 Euro.
D
ie weltweite Konjunkturabkühlung
hat die Wirtschaft Europas voll er-
fasst. Vor allem die Industrie leidet un-
ter dem seit Monaten rückläufigen Welt-
handel. Eine Trendwende ist derzeit
nicht absehbar. Die Ankündigung noch
höherer amerikanischer Zölle auf chine-
sische Waren und chinesische Abwehr-
zölle bedeuten vielmehr eine Eskalation
des Konflikts – Handelsströme zwi-
schen den beiden weltgrößten
Volkswirtschaften werden eben-
so weiter zurückgehen wie Inves-
titionen der Unternehmen auf-
grund der hohen Unsicherheit.
Die große Gefahr des Protektio-
nismus, die von der Politik, vor
allem in den Vereinigten Staa-
ten gerne kleingeredet wird,
zeigt sich in voller Schärfe.
Zu den globalen Problemen kommen
hausgemachte in der EU hinzu. Vor al-
lem der seit 2016 unkalkulierbare Bre-
xit-Prozess hat Großbritannien und der
EU wirtschaftlich geschadet. Der Wachs-
tumsverlust in der EU dürfte über die
letzten drei Jahre bei rund einem halben
Prozentpunkt gelegen haben. Für
Deutschland könnte er noch höher sein,
da allein die Exporte Deutschlands ins
Vereinigte Königreich heute um 7 Mrd.
Euro unter dem Wert von 2015 liegen.
Schwerer zu quantifizieren, aber eben-
falls nicht unerheblich, sind die wirt-
schaftlichen Bremseffekte, die durch die
politischen Turbulenzen in Italien ausge-
löst worden sind – Stillstand in Italien
und neue Ängste vor einer Schuldenkri-
se.
Die Hoffnungen, dass die EZB das
Wachstum in der Eurozone wieder in
Gang setzen könnte, werden ziemlich si-
cher enttäuscht werden. Die EZB hat ihr
Pulver weitgehend verschossen. Eine
weitere Herabsetzung der Einlagenzin-
sen von den gegenwärtigen -0,4 Prozent
und neue Anleihekäufe werden kaum
Wirkung entfalten. Es ist eine Illusion
zu glauben, dass allein die Ankündi-
gung weiterer Maßnahmen das Zu-
kunftsvertrauen der privaten Haushalte
und Unternehmen wieder steigern wird.
Die Nebeneffekte der Geldpolitik sind
inzwischen so stark, dass eher
das Gegenteil zu befürchten ist.
Wenn etwa die Sparer von dauer-
haft niedrigen Erträgen ausge-
hen müssen, werden Sie noch
mehr sparen müssen, um ihre
Vermögensziele zu erreichen.
Gefordert sind jetzt vielmehr
die nationalen Regierungen.
Strukturreformen, die die Be-
schäftigungslage und die Produktivität
verbessern, wären wichtig, aber sie wir-
ken nur mittelfristig. Rasch wirksam
wäre dagegen eine Rückführung der ho-
hen staatlichen Abgaben, die auf den
Einkommen von privaten Haushalten
und Unternehmen lasten. Bei einer re-
kordhohen Steuerquote und beträchtli-
chen Haushaltsüberschüssen sind in
Deutschland (aber auch anderswo)
Spielräume vorhanden. Geht der Ein-
kommensentzug durch den Staat zu-
rück, steigt die private Nachfrage, wie
man an der amerikanischen Wirtschaft
sehen kann, die trotz aller Belastungen
durch den Handelskrieg immer noch re-
lativ kräftig expandiert. Staatliche Aus-
gabenprogramme im Bereich von Infra-
struktur und Bildung müssen durch Ent-
lastungen nicht in Frage gestellt werden,
wenn Prioritäten gesetzt sind und auf
teure Wahlgeschenke verzichtet wird.
Der Autor ist Chefvolkswirt der Allianz.
Dieüberforderte EZB
Von Michael Heise
D
as Zusammentreffen von digitaler
Revolution, Bedrohung der Globa-
lisierung durch Handelspolitik so-
wie das sehr niedrige Niveau von Zinssät-
zen und Inflationsraten bildet einen faszi-
nierenden Stoff für an Forschung interes-
sierte Ökonomen. Wir stellen im Folgen-
den vier neue Arbeitspapiere vor.
Die Beziehung zwischen der Globalisie-
rung und dem Rückgang der realen Zin-
sen war kürzlich ein Thema auf dem geld-
politischen Symposion von Jackson Hole
(F.A.Z. vom 26. August 2019). Aufgenom-
men wird dieses Thema auch von einer
von Jean-Marc Natal und Nicolas Stoffels
veröffentlichten Arbeit („Globalization,
Market Power, and the Natural Interest
Rate”). Ihre wichtigste These lautet: Die
Globalisierung liefert in den vergangenen
50 Jahren eine wichtige, obgleich weitge-
hend unterschätzte Erklärung für die Ent-
wicklung des Realzinses in den Industrie-
nationen.
Demnach hat der mit der Globalisie-
rung verbundene Wettbewerb die Wirt-
schaft zunächst belebt, aber gleichzeitig
die Marktmacht von Unternehmen be-
schränkt. Das Ergebnis war ein steigen-
der Realzins bis in die frühen achtziger
Jahre. „In den nachfolgenden Jahrzehn-
ten fiel der Zins angesichts einer reifen-
den Globalisierung und nachlassender
Gewinne aus dem Wettbewerb wieder auf
das Niveau der frühen siebziger Jahre“,
schreiben Natal und Stoffels. „Im Falle
nachhaltiger Zunahmen der Marktmacht
von Unternehmen im vergangenen Jahr-
zehnt, die in der jüngeren Literatur be-
hauptet werden, würde die Geschwindig-
keit des Falls des natürlichen Zinses noch
akzentuiert.“ Die Autoren kommen zu
dem Schluss, dass eine Rückkehr der lang-
fristigen Zinsen zu Niveaus, wie es sie frü-
her gab, wenig realistisch erscheint.
Zu den wichtigen Gründen, die in der
neueren Literatur für den Fall des Realzin-
ses in den vergangenen Jahren genannt
wird, zählt der Verfall der Preise für viele
Kapitalgüter wie Maschinen und Ausrüs-
tungen in den vergangenen Jahrzehnten.
Dieser Verfall gilt absolut, aber auch im
Verhältnis zu Konsumgüterpreisen. Am
augenfälligsten ist dies für Ausrüstungs-
güter in der Informationstechnologie.
In einem von fünf Autoren verfassten
und vom Internationalen Währungsfonds
veröffentlichten Arbeitspapier („The
Price of Capital Goods: A Driver of Invest-
ment under Threat“) wird mit Verweis
auf empirische Analysen darauf verwie-
sen, dass dieser Prozess von der Globali-
sierung profitiert hat: „Der weitreichende
Rückgang des relativen Preises für Ma-
schinen und Ausrüstungen wurde getrie-
ben vom schnelleren Wachstum der Pro-
duktivität in den Kapitalgüter produzie-
renden Branchen der Wirtschaft im Ver-
gleich zum Rest der Wirtschaft sowie ei-
ner zunehmenden Verflechtung des Han-
dels, die heimischen Produzenten Anlass
gab, ihre Preise zu reduzieren und Effi-
zienzgewinne zu suchen.“ Beschränkun-
gen des internationalen Handels hätten
dann nachteilige Folgen für die Investiti-
onsneigung.
Die Frage nach wachsender wirtschaft-
licher Macht von Unternehmen vor allem
in den Vereinigten Staaten ist seit ein
paar Jahren ein Forschungsgebiet, auf
dem zahlreiche Arbeiten erschienen sind.
Ebenfalls vom Internationalen Währungs-
fonds wurde eine von Federico J. Díez,
Jiayue Fan und Carolina Villegas-Sán-
chez geschriebene Arbeit („Global Decli-
ning Competition“) herausgegeben, die
dieses Thema unter einem globalen Ge-
sichtspunkt betrachtet. „Marktmacht ist
zurück im Zentrum von politischen und
akademischen Diskussionen“, heißt es.
Grundsätzlich kommen sie zu dem
Schluss, dass in den Jahren 2000 bis 2015
der Wettbewerb in der Welt abgenommen
hat, erkennbar an der zunehmenden
Macht von Unternehmen, Preise zu set-
zen. Diese Beobachtung gilt in erster Li-
nie für Unternehmen in Industrienatio-
nen; in Schwellenländern ist sie weniger
ausgeprägt. Zum zweiten lässt sich inter-
national wie in den Vereinigten Staaten
beobachten, dass es die ohnehin schon er-
folgreichen Unternehmen sind, die einen
besonders großen Einfluss auf ihre Preise
haben. Die Giganten aus dem Silicon Val-
ley sind ein gutes Beispiel für diesen
Trend.
Diese globalen Entwicklungen werden
für Großbritannien durch eine von der
Bank of England herausgegebenen Ar-
beit bestätigt („Market Power and Moneta-
ry Policy“). Am erfolgreichsten arbeiten
demnach die Unternehmen, die ohnehin
schon erfolgreich und meist international
tätig waren. Beide Arbeiten stellen die in-
teressante Frage, was daraus für die Geld-
politik folgt. Die Ergebnisse sind nicht
eindeutig: Eine wachsende Macht zur
Preissetzung von Unternehmen kann die
Inflationsrate stärker ausschlagen lassen.
Das ist die schlechte Nachricht. Die gute
Nachricht lautet, dass nach Ansicht der
Autoren in einer stärker konzentrierten
Wirtschaft die Wirksamkeit geldpoliti-
scher Maßnahmen steigt.
GERALD BRAUNBERGER
Wirtschaftlicher Wandel
Die Geschichte von Muggensturm
N
ationale und internationale Ko-
operationen haben besonders in
den Jahren nach 2000 ein beachtli-
ches Niveau erlangt. Gegenwärtig aller-
dings sind sie dabei zu erodieren. Der
freie Welthandel ist bedroht, weil einige
Staaten Chinas Konkurrenz auf den Welt-
märkten als unfair empfinden und sich
dagegen durch Protektionismus zu weh-
ren versuchen. Der italienische Innenmi-
nister Salvini, der in Deutschland auf viel
Unverständnis stößt, zieht in der Flücht-
lingspolitik die Notbremse, weil er sich
von den Europäern auf der Grundlage
des Dublin-Abkommens alleingelassen
fühlt. Die globale Klimapolitik tritt auf
der Stelle, weil jedes Land befürchtet,
dass sich bei eigener Vorleistung andere
Länder um ihren angemessenen Beitrag
herumdrücken. Die Liste der Beispiele
ließe sich beliebig verlängern.
Bei allen Unterschieden im Detail wei-
sen die Beispiele ein identisches Muster
auf: Es geht immer darum, dass einzelne
Akteure in einer Kooperation sich die Vor-
teile aneignen wollen, aber eigene Beiträ-
ge zurückhalten und sich so Sondervortei-
le zu verschaffen suchen – mit der Folge,
dass sich die Kooperationspartner ausge-
beutet fühlen. Free riding, also das Tritt-
brettfahren, kommt wieder in Mode.
Nun wissen wir nicht erst aus der Theo-
rie, sondern schon aus der Alltagserfah-
rung, dass Kooperationen, die das Tritt-
brettfahren nicht wirksam unterbinden
können, gar nicht erst zustande kommen
oder aber über kurz oder lang zerbre-
chen.
Der öffentliche und auch der wissen-
schaftliche Diskurs identifiziert als
Grund in aller Regel den Egoismus der
Akteure, oder anders gesagt: ihre Gier.
Diese Einstellung wird dann moralisch
kritisiert, und die Kritiker setzen – zumin-
dest in weiten Teilen des öffentlichen Dis-
kurses – auf moralische Appelle und auf
moralische Verurteilung derer, die den
Appellen nicht folgen.
Es gibt aber noch einen anderen
Grund dafür, dass Akteure vorrangig
ihre eigenen Vorteile verfolgen und so-
gar verfolgen müssen. In Kooperationen
haben sie immer damit zu rechnen, dass
ihre Beiträge von anderen per Trittbrett-
fahren ausgebeutet werden. Dagegen kön-
nen sie sich, solange diese Gefahr nicht
unterbunden ist, nur durch Zurückhal-
tung eigener Beiträge wehren: Schutz ge-
gen die drohende Ausbeutung durch an-
dere ist hier der Grund. Dieser Grund
hat bislang weder in der Ökonomik noch
in der Ethik noch im öffentlichen Dis-
kurs hinreichend Beachtung gefunden.
Dabei ist er bereits Mitte des 17. Jahrhun-
derts von Thomas Hobbes explizit be-
nannt worden: Er spricht vondefensio,
also Verteidigung beziehungsweise
Selbstverteidigung; sich in solchen Situa-
tionen kooperativ zu verhalten, zeuge
nicht von besonderer Tugend, sondern
„hieße eher sich selbst als Beute darbie-
ten – wozu niemand verpflichtet ist“.
Diese Einsicht trägt nicht nur zu ei-
nem besseren Verständnis von Dilemma-
ta bei Gemeinschaftsgütern wie dem glo-
balen Klimaschutz bei. Dieselbe Problem-
struktur finden wir auch bei Gütern und
Dienstleistungen vor, die unter Wettbe-
werbsbedingungen produziert und ange-
boten werden. Unter den Konkurrenten
auf derselben Marktseite strebt jeder Ak-
teur nach eigenen Vorteilen, um nicht ab-
gehängt zu werden. Diese Logik gilt so-
gar präventiv, weil selbst Marktführer be-
fürchten müssen, morgen oder übermor-
gen von anderen überholt und aus dem
Markt gedrängt zu werden.
Daher muss man vorsichtig sein, Un-
ternehmen und ihren Managern Gier als
Grund zu unterstellen. Die Gewinnorien-
tierung ist vielmehr der von der Markt-
wirtschaft verordnete Systemimperativ:
Ihm verdanken wir – unter einer geeigne-
ten Rahmenordnung – den breiten Wohl-
stand westlicher Gesellschaften, womit
nicht nur materielle Güter gemeint sind,
sondern auch die ärztliche Versorgung,
höhere Lebenserwartung, Muße, reiche
kulturelle Erfahrungen und dergleichen
mehr.
Trotz der identischen Problemstruktur
bei Gemeinschafts- und Wettbewerbsgü-
tern, die in der Ökonomik als Gefange-
nendilemma bezeichnet wird, gibt es
zwei bedeutende Unterschiede. Zum ei-
nen wollen wir bei Gemeinschaftsgütern
wie dem Klimaschutz eine Kooperation
zustande bringen, während wir bei Wett-
bewerbsgütern Kooperationen, also Kar-
telle, zu verhindern suchen und zu die-
sem Zweck ein Kartellamt einrichten.
Zum Zweiten gilt die Verfolgung eigener
Sondervorteile durch Trittbrettfahren
bei Gemeinschaftsgütern als moralisch
fragwürdig oder gar verwerflich, wäh-
rend sie im Wettbewerb nicht etwa nur
moralisch erlaubt, sondern in einer
Marktwirtschaft sogar moralisch geboten
ist, weil der Wettbewerb durch Preisunter-
bietung und Qualitätssteigerung dem
Wohl aller am besten dient. In beiden Fäl-
len aber sehen sich die Akteure mit der-
selben Problemstruktur und mit dersel-
ben Anreizstruktur konfrontiert, die sie
bei Gefahr des Untergangs zwingt, in je-
der Entscheidung vorrangig auf ihre eige-
nen Interessen zu achten: Selbst Akteure
mit hochmoralischer Einstellung und in-
trinsischer Motivation können sich die-
ser Logik auf Dauer nicht entziehen.
Für den öffentlichen und besonders für
den ethischen Diskurs ergeben sich drei
Schlussfolgerungen von zentraler Bedeu-
tung.
Erstens: Aus dieser Problemstruktur
gibt es keine individuellen moralischen
Auswege, weil das Resultat der Kooperati-
on vom einzelnen Akteur nicht kontrol-
liert werden kann, sondern immer auch
davon abhängt, was die anderen tun. Ap-
pelle an die Einzelnen helfen hier nicht;
vielmehr sind es die institutionellen Rege-
lungen, die für den moralischen Gehalt
der Systemergebnisse sorgen.
Zweitens: Kooperation und Moral müs-
sen durch institutionelle Regelungen er-
möglicht werden, die die Akteure glaub-
würdig vor Ausbeutung durch Trittbrett-
fahren schützen, indem dieses durch Sank-
tionen so verteuert wird, dass die Akteure
schon aus Eigeninteresse kooperativ han-
deln.
Drittens: In dieser Problemstruktur
kann sich der einzelne Akteur nur wie
der berühmt-berüchtigte Homo oecono-
micus verhalten – nicht aus Gier, son-
dern aus Selbstschutz gegen die Ausbeu-
tung durch andere. Der Homo oeconomi-
cus ist kein Menschenbild. Als generelle
Verhaltensannahme macht er Sinn nur in
der Defensio-Version. Die Verfolgung
vorrangig der eigenen Interessen in sol-
chen Problemstrukturen ist weder ein mo-
ralischer Defekt noch überhaupt ein ech-
tes „Motiv“, sondern ein von der Pro-
blemstruktur aufgezwungener Systemim-
perativ, mit dem wir bei Gemeinschafts-
gütern und Wettbewerbsgütern differen-
ziert umgehen müssen. Es handelt sich
um ein Theoriekonstrukt, das nicht auf
„den Menschen“ allgemein und auch
nicht auf die einzelnen Menschen an-
wendbar ist; es dient nur dazu, die aggre-
gierten Ergebnisse des Handelns vieler
Akteure in Dilemmastrukturen zu erklä-
ren beziehungsweise zu prognostizieren.
Die Quintessenz: Menschen lassen
sich nicht systematisch ausbeuten. Dies
hat normativ keine Ethik bis heute je ver-
langt und wird empirisch auch von der ex-
perimentellen Wirtschaftsforschung ein-
drucksvoll bestätigt. Wenn Letztere in ih-
ren Experimenten aber auch kooperative
Einstellungen und Verhaltensweisen wie
Fairness oder Altruismus aufweisen
kann, sollte sie sich der Voraussetzung
bewusst sein, dass für ihre Probanden die
gröbsten Formen der Ausbeutung bereits
unterbunden sind – durch Faktoren wie
genetische Prädisposition, Kultur, Erzie-
hung sowie durch sanktionsbewehrte for-
melle oder informelle Institutionen.
Wenn die Ökonomik diese Aspekte
stärker in ihren Analysen berücksichtigen
und auch öffentlich kommunizieren wür-
de, könnte sie einen wirkungsvolleren
Beitrag zum politischen und öffentlichen
Diskurs leisten – und damit auch zur Lö-
sung der gesellschaftlichen Herausforde-
rungen beitragen.
Prof. Dr. Dr. em. Karl Homannwar bis 2008 Profes-
sor für Philosophie und Wirtschaftsethik an der Lud-
wig-Maximilians-Universität München.
WIRTSCHAFTSBÜCHER
Illustration Peter von Tresckow
DER VOLKSWIRT
Globalisierung, Wettbewerb, Zins und Kapital
Ein Blick in die neuere Forschungsliteratur
Alles nur Gier?
Europlatz Frankfurt
Grund wirtschaftlicher
Entscheidungen
ist häufig nicht der
Egoismus, sondern
der Selbstschutz gegen
die Ausbeutung
durch andere Akteure.
Von Karl Homann