Frankfurter Allgemeine Zeitung - 02.09.2019

(lily) #1

FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG Politik MONTAG, 2. SEPTEMBER 2019·NR. 203·SEITE 5


„Bereit, Argumente anzuhören“
Die Aussichten, dass das Mandat für
den Einsatz der Bundeswehr im
Kampf gegen die Terrororganisation
„Islamischer Staat“ (IS) in Syrien und
im Irak verlängert wird, wachsen, der
Widerstand der SPD nimmt ab. Der bis-
lang strikt gegen eine Mandatsverlän-
gerung über den 31. Oktober dieses
Jahres hinaus eingetretene kommissari-
sche Vorsitzende der SPD-Bundestags-
fraktion, Rolf Mützenich, sagte der
Frankfurter Allgemeinen Sonntagszei-
tung: „Ich bin immer bereit, mir Argu-
mente anzuhören.“ Umstände könnten
sich jederzeit ändern. Die Obleute der
SPD in den Ausschüssen für Verteidi-
gung und für Auswärtiges, Fritz Felgen-
treu und Nils Schmid, hatten sich in
dem Sinne geäußert, dass der Einsatz
der deutschen Aufklärungstornados
auch über den Oktober hinaus erforder-
lich sei. (elo.)

Rettungsschiffe weiter blockiert
Im zentralen Mittelmeer sind seit dem
Wochenende drei Schiffe privater Hilfs-
organisationen mit geretteten Migran-
ten an Bord blockiert. Am Samstag
nahm die „Alan Kurdi“ der Regensbur-
ger Organisation Sea-Eye 13 tunesi-
sche Migranten von einem überlade-
nen Holzboot auf. Rom und Valletta be-
kräftigten die Sperrung ihrer Häfen für
die „Alan Kurdi“ und für andere priva-
te Rettungsschiffe. Auf die Erlaubnis,
einen Hafen anzulaufen, warten weiter-
hin die vor Malta liegende „Eleonore“
des deutschen Kapitäns Claus-Peter
Reisch mit 101 Menschen an Bord so-
wie die „Mare Jonia“ der italienischen
Organisation Mediterranea Saving Hu-
mans mit noch rund 30 Migranten an
Bord vor der italienischen Insel Lampe-
dusa. Die Lage auf der „Eleonore“ ist
nach Angaben des Kapitäns nicht
mehr tragbar. Die Dresdner Hilfsor-
ganisation Mission Lifeline, die Reisch
unterstützt, kündigte an, dass im
Notfall auch eine Einfahrt in einen
Hafen ohne Erlaubnis durchgesetzt
werde. (rüb.)

Franziskus ernennt 13 Kardinäle
Papst Franziskus hat am Sonntag 13
Geistliche zu Mitgliedern des Kardi-
nalskollegiums ernannt, darunter zehn
im Alter unter 80 Jahren. Gleich zwei –
die Spanier Miguel Ángel Ayuso Giu-
xot als Präsident des Päpstlichen Rates
für den Interreligiösen Dialog und Cris-
tóbal López Romero, der Erzbischof
von Rabat (Marokko) – stehen für die
Bedeutung, die Papst Franziskus dem
Dialog mit anderen Religionen, beson-
ders mit dem Islam, zumisst. Der aus
der Tchechoslowakei stammende Je-
suit Michael Czerny ist in der römi-
schen Kurie Franziskus’ Mann für das
Thema Migration. Erstmals seit lan-
gem hat der Papst wieder eines der gro-
ßen norditalienischen Bistümer berück-
sichtigt. Seine Wahl fiel auf den Erzbi-
schof von Bologna, Matteo Zuppi. Der
gebürtige Römer gehört der Gemein-
schaft Sant’Egidio an und besitzt als ei-
ner der Architekten des Friedensab-
kommens in Moçambique aus dem
Jahr 1992 auch die Staatsbürgerschaft
jenes afrikanischen Landes. Aus West-
europa hat der Papst den Erzbischof
von Luxemburg, den Jesuiten Jean-
Claude Hollerich, in das Kardinalskol-
legium berufen. Deutsche, allen voran
der Berliner Erzbischof Heiner Koch,
gingen abermals leer aus. Die übrigen
neuen wahlberechtigten Kardinäle
stammen aus Portugal, Kongo, Kuba,
Guatemala und Indonesien. Durch die
jüngsten Ernennungen erhöht sich die
Zahl der wahlberechtigten Kardinäle
auf 127. Von ihnen wurden 67 und da-
mit mehr als Hälfte seit dem Beginn
des Pontifikates von Papst Franziskus
im März 2013 ernannt. (D.D.)

Mehr als 100 Tote im Jemen
Bei einem Luftangriff der von Saudi-
Arabien geführten Militärkoalition auf
ein Gefängnis im Jemen sind nach An-
gaben des Internationalen Komitees
vom Roten Kreuz (IKRK) mindestens
hundert Menschen getötet worden.
Die Militärkoalition teilte mit, sie habe
ein Waffenlager der Houthi-Rebellen
beschossen, in dem Drohnen und Rake-
ten gelagert worden seien. Vertreter
der Houthi und Einwohner sagten da-
gegen, es habe sich um ein Gefängnis
gehandelt. (Reuters)

Angriff der Hizbullah
Bei einem Angriff der libanesischen
Hizbullah auf israelische Ziele sind am
Sonntagabend eine israelische Kaser-
ne und mindestens ein gepanzertes
Fahrzeug der israelischen Streitkräfte
nahe der Demarkationslinie zum Liba-
non getroffen worden. Dies gab die is-
raelische Armee bekannt. Über Tote
oder Verletzte äußerte sie sich zu-
nächst nicht. Die Hizbullah habe meh-
rere Panzerabwehrlenkwaffen einge-
setzt. Israel griff im Gegenzug Ziele im
Süden Libanons an. Der libanesische
Ministerpräsident Saad Hariri rief
Amerika und Frankreich auf, einer Es-
kalation zwischen seinem Land und Is-
rael entgegenzuwirken. Das libanesi-
sche Fernsehen zeigte Bilder brennen-
der Einrichtungen im Grenzdorf Ma-
run al Ras. Der Hizbullah-Sender Al
Manar gab bekannt, der Angriff auf Is-
rael sei für jene zwei Mitglieder der
schiitischen Miliz erfolgt, die vor einer
Woche nach einem israelischen An-
griff in Beirut getötet worden waren.
Der Hizbullah-Anführer Hassan Nas-
rallah hatte einen Gegenschlag damals
schon angekündigt. (stah.)

WASHINGTON, 1. September. Was mit ei-
ner normalen Verkehrskontrolle begann,
endete in Szenen, die an einen Krimi erin-
nerten – mit Verfolgungsjagd und Schuss-
wechseln. Die Polizeibehörden in den
Zwillingsstädten Midland und Odessa im
westlichen Texas mussten am Samstag-
abend bekanntgeben, dass sieben Men-
schen getötet, der mutmaßliche Täter ein-
geschlossen, und rund 20 verletzt worden
seien. Zu dem Schützen wurde offiziell
nur mitgeteilt, dass es sich um einen Mit-
te 30 Jahre alten, weißen Mann handele,
dessen Motiv noch völlig unklar sei.Der
Fernsehsender CNN berichtete unter Beru-
fung auf Sicherheitskreise, es handele sich
bei dem Täter um einen 36 Jahre alten
Mann namens Seth Ator, der bisher nur
mit kleineren Delikten polizeilich in Er-
scheinung getreten sei.
Laut Polizeiangaben wollten Beamte
am Samstagnachmittag auf der Schnell-
straße von Midland nach Odessa den Wa-
gen des mutmaßlichen Täters anhalten.
Der Fahrer griff jedoch zu einem Gewehr
und zielte damit durch die Heckscheibe
auf die Beamten. Er gab mehrere Schüsse
ab, traf einen Polizisten und raste dann da-
von. Michael Gerke, der Polizeichef aus
Odessa, berichtete, dass der Fahrer auf
der Flucht wahllos aus seinem Fahrzeug
geschossen und andere Autofahrer und
Fußgänger getroffen habe. Dann habe er
seinen Wagen verlassen, sei in ein Postau-
to gestiegen und weitergefahren.
Im Chaos der Ereignisse war zwischen-
zeitlich davon die Rede, dass es zwei
Schützen in unterschiedlichen Autos
gebe. Wohl wegen des Fahrzeugwechsels
war die Polizei kurzzeitig selbst von mehr
als einem Täter ausgegangen. Die Behör-
den in Odessa teilten zunächst über Face-
book mit, dass ein oder zwei Angreifer
„durch Odessa fahren und wahllos auf
Leute schießen“. Bewohner der Stadt rie-
fen sie auf, sich von den Straßen fernzu-
halten und „extreme Vorsicht“ walten zu
lassen. Die Metropolregion Midland/
Odessa wurde abgeriegelt, Studenten der
Universität von Texas wurden angewie-
sen, Schutzräume aufzusuchen. Am Ende
erschoss die Polizei den mutmaßlichen
Täter auf dem Parkplatz eines Kinos in

Odessa. Unter den Verletzten befanden
sich drei Polizisten. Ein 17 Monate altes
Baby wurde von einer Kugel im Mundbe-
reich getroffen.
Am Samstagnachmittag schrieb Präsi-
dent Donald Trump auf Twitter, Justizmi-
nister William Barr habe ihn über den Vor-

fall informiert. Der Gouverneur von Te-
xas, Greg Abbott, sprach von einem „sinn-
losen und feigen Angriff“. Er werde nicht
zulassen, dass Texas von „Hass und Ge-
walt“ überzogen werde. Er wollte noch im
Laufe des Sonntags nach Odessa reisen,
um sich ein Bild von der Lage zu machen.

Wie stets vermischten sich die Erklärun-
gen, man bete für die Angehörigen der Op-
fer, sogleich mit einer politischen Debatte
über das Waffenrecht. Erst Anfang August
war es im texanischen El Paso zu einem
Schusswaffenangriff gekommen, bei dem
22 Personen getötet und 24 verletzt wor-
den waren. Das FBI stufte den Fall als ter-
roristische Tat ein, da der Täter zuvor ein
rechtsradikales, gegen Migranten gerichte-
tes Manifest veröffentlicht haben soll.
Kurz nach der Tat von El Paso tötete ein
Mann neun Personen in Dayton im Bun-
desstaat Ohio.
Allein im August sind damit 51 Men-
schen in Amerika bei Schusswaffenangrif-
fen getötet worden. 2019 gab es inzwi-
schen 38 Angriffe dieser Art. Das Justizmi-
nisterium in Washington definiert „mass
shootings“ als Gewalttaten, bei denen min-
destens drei Personen, der Täter nicht mit-
gezählt, getötet werden. Es handelt sich
um einen politischen, nicht um einen
rechtlichen Begriff; er umfasst sowohl
Amokläufe als auch Taten mit terroristi-
schem Hintergrund. Er ist der zentrale Be-
griff in der seit Jahren andauernden De-
batte über das amerikanische Waffen-
recht. In dieser geht es vor allem darum,
ob strengere Kontrollen über den Hinter-
grund von Waffenkäufern nötig sind und
ob (halb)automatische Sturmgewehre aus
dem Verkehr gezogen werden sollten.
Trump hatte Anfang August geäußert,
dass er bereit sei, das Waffenrecht zu refor-
mieren und Personen vor dem Waffenkauf
besser überprüfen zu lassen. Später äußer-
te er sich widersprüchlich darüber, ob er
tatsächlich eine Gesetzesänderung unter-
stützen werde. Die Demokraten unterstell-
ten ihm, vor der Macht der „National Rifle
Association“, der wichtigsten Interessen-
gruppe der Branche, in die Knie zu gehen.
Nach einem Schusswaffenangriff verspre-
che er stets Gesetzesänderungen, zu de-
nen es aber nie komme. Nancy Pelosi, die
„Sprecherin“ des Repräsentantenhauses
und ranghöchste Demokratin im Kon-
gress, schrieb noch am Samstag auf Twit-
ter: „Genug ist genug.“ Die Republikaner
im Senat müssten ihre Blockade aufgeben
und ein Waffenrecht des gesunden Men-
schenverstandes unterstützen.

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PEKING, 1. September


K


urz vor Mitternacht am Samstag-
abend sandte die Hongkonger Poli-
zei eine Aufforderung an alle Ra-
dio- und Fernsehstationen: „Bitte verbrei-
ten Sie folgende Botschaft so schnell wie
möglich und wiederholen Sie sie in ange-
messenen Abständen.“ Für eine Region
mit freier Presse war das ein ungewöhn-
licher Tonfall. „Radikale Demonstranten
haben den Kundendienstbereich der
U-Bahn-Station Mong Kok verwüstet und
in der U-Bahn-Station Prince Edward
Bürger angegriffen und Eigentum beschä-
digt“, hieß es weiter. Daraufhin habe die
Polizei in den Stationen die Angreifer fest-
genommen, „um die Gewalt zu stoppen“.
Videos, die Aktivisten über die Aktion
verbreiteten, zeigen etwas gänzlich ande-
res: Polizisten, die mit Schlagstöcken
wahllos auf junge Leute in einem Abteil
einschlagen und Pfefferspray in eine
Gruppe von Menschen sprühen, die über
eine Rolltreppe offenbar aus der Station
gelangen wollten. Ein junges Pärchen,
das völlig aufgelöst auf dem Boden kau-
ert, die Hände zum Schutz erhoben und
vor Entsetzen schreit, während es weiter
mit Pfefferspray besprüht wird. Andere
mit blutenden Platzwunden am Kopf, de-
nen nach Aussage von Sanitätern, die der
Protestbewegung nahestehen, über Stun-
den eine ambulante Versorgung verwehrt
wurde. Der U-Bahn-Betreiber hatte die
Eingangstore zu der Station verriegelt.
Dass Metro-Stationen zur neuen
Frontlinie des Konflikts werden würden,
hatte sich in den vergangenen Tagen ab-
gezeichnet. Die städtische Verkehrsge-
sellschaft war vom Nachrichtensprecher
des chinesischen Staatsfernsehens wüst
beschimpft worden, weil sie leere Züge
bereitgestellt hatte, um Demonstranten
eine sichere Abreise zu ermöglichen,
nachdem eine Station von der Polizei um-
stellt worden war. Auch die Tatsache,
dass viele Demonstranten zu ihren Aktio-
nen mit der U-Bahn anreisten, erregte
Pekings Zorn.
Der zeigte Wirkung: Der Verkehrs-
betreiber kooperiert nun eng mit den Si-
cherheitskräften und schließt regelmä-
ßig Stationen, um den Demonstranten
die An- und Abreise zu erschweren. In
Aktivistenkreisen heißt es, Sonderzüge
würden für die Polizei bereitgestellt, um
ihre Einsätze zu erleichtern und Festge-


nommene abzutransportieren. Deshalb
richtet sich nun die Wut der Aktivisten
gegen den Metro-Betreiber. In Graffiti
wird er als „Kommunistische Bahn“ ver-
unglimpft. Fahrkartenautomaten wur-
den zerstört, Fensterscheiben eingeschla-
gen und eine Station unter Wasser ge-
setzt.
Der Konflikt hat am Wochenende eine
neue Eskalationsstufe erreicht. Zehntau-
sende Demonstranten versammelten
sich am Samstag zunächst friedlich in der
Innenstadt, obwohl die Polizei das verbo-
ten hatte. Auch eine Welle von Festnah-
men prominenter Aktivisten hielt sie
nicht ab. Im Gegenteil: Die Wut darüber
animierte einige, Molotow-Cocktails und
Pflastersteine zu werfen und eine Barri-
kade in Brand zu setzen. Die Polizei setz-
te große Mengen Tränengas und Wasser-
werfer mit blauer Farbe ein, um Demons-
tranten später zu identifizieren. Nach Po-
lizeiangaben wurden allein am Samstag
63 Personen festgenommen, darunter
ein 13 Jahre alter Junge, der laut Polizei
zwei Brandsätze mit sich trug. Allerdings
wird auch von Sanitätern berichtet, die
festgenommen worden seien, weil bei ih-
nen Verbandsscheren gefunden wurden.
Im Internet kursieren Videos, auf denen
Sicherheitskräfte sich als Aktivisten ver-
kleidet unter die Demonstranten mi-
schen und Teilnehmer festnehmen.
In der Stadt geht die Angst um. Dazu
trug am Sonntag ein Bericht bei, wonach
Demonstranten von unbekannten Män-
nern mit Messern angegriffen worden sei-
en. Für Verunsicherung sorgt auch die
kürzliche Verlegung von Soldaten und ge-
panzerten Fahrzeugen. Das sei wie beim
Massaker vom 4. Juni 1989 in Peking,
sagt ein Universitätsprofessor am Tele-
fon. Auch damals habe man Soldaten aus
anderen Regionen herbeigeschafft, die
frisch indoktriniert gewesen seien und
keine Informationen über die Lage vor
Ort gehabt hätten. „Es ist beängstigend“,
sagt der Mann. In den vergangenen Ta-
gen habe sich die Lage so sehr zugespitzt,
dass Hongkong nicht mehr wiederzuer-
kennen sei. Angst mache ihm auch, dass
in der Nähe seiner Universität Bereit-
schaftspolizisten Stellung bezogen hät-
ten. An diesem Montag beginnt in Hong-
kong das neue Schuljahr und an den
Hochschulen das neue Semester. Die Re-
gierung in Peking hofft, dass dann die
Zahl der Teilnehmer an den Protesten all-
mählich zurückgeht und sie an Dynamik
verlieren. Doch Schülergruppen haben
schon zum Boykott aufgerufen. Chinas
Parteimedien fordern nun, Schüler, die
dem Unterricht fernbleiben, von der
Schule zu werfen, und Lehrer, die sich
mit ihnen solidarisieren, zu entlassen.
Am Sonntag verbarrikadierten sich
Tausende Demonstranten in einem Ein-
kaufszentrum im Stadtteil Tung Chung,
nachdem die Polizei ihren Versuch verei-
telt hatte, den Flughafen lahmzulegen.
Aktivisten holten eine chinesische Fah-
ne von einem Regierungsgebäude und
setzten sie in Brand – ein Akt, der auf
dem chinesischen Festland die nationa-
listische Stimmung gegen die Protest-
bewegung weiter anheizen dürfte.

Flachdachfavorit
Der Range Rover Evoque im Großen
Fahrbericht

job.LONDON, 1. September. Politiker auf
beiden Seiten des politischen Grabens ha-
ben am Wochenende darüber beraten, wie
sie die kommende Plenarwoche zu ihren
Gunsten entscheiden können. Keir Star-
mer, der Brexit-Koordinator der Labour
Party, gab sich am Sonntag zuversichtlich,
dass die Opposition eine Mehrheit im Un-
terhaus für ein Gesetz erhalten wird, dass
Premierminister Boris Johnson die Hände
binden und einen „No-Deal Brexit“ un-
möglich machen wird. Johnson hielt an
seiner Position fest, dass ohne die Bereit-
schaft, in jedem Falle am 31. Oktober aus-
zuscheiden, die Chancen auf einen verbes-
serten Deal mit der Europäischen Union
schwinden. Zugleich lancierte die Regie-
rung eine Kampagne, die über die Auswir-
kungen des Brexits informieren soll.
Begleitet wurden die politischen Manö-
ver von Demonstrationen gegen John-
sons Entscheidung, das Parlament ab 9.
September für fünf Wochen in den Urlaub
zu schicken. Überall im Land gingen Men-
schen auf die Straße und protestierten ge-
gen den „undemokratischen“ Beschluss;
in London zählten die Veranstalter hun-
derttausend. Auf einer der Kundgebun-
gen verglich Schattenschatzkanzler John
McDonald den Premierminister implizit
mit Adolf Hitler, als er sagte, die Briten
hätten schon andere „Diktatoren“ in die
Knie gezwungen.
Starmer gab keine Details über das ge-
plante Gesetzgebungsverfahren preis. Im
Ergebnis werde es Johnson aber zwingen,

eine weitere Verlängerung der Austritts-
frist zu beantragen, sollte er in Brüssel kei-
ne Veränderungen am Austrittsabkom-
men aushandeln können. Johnson strebt
insbesondere an, den Backstop aus dem
Vertrag zu streichen, durch den das König-
reich in einer einseitig nicht aufkündbaren
Zollunion mit der EU bleiben muss, um so
die unsichtbare Grenze auf der irischen In-
sel aufrechtzuerhalten. Nach seinen Ge-
sprächen in Berlin, Paris und auf dem
G-7-Gipfel in Biarritz hatte sich Johnson
zuversichtlich gezeigt, dass die Europäi-
sche Union darüber verhandeln würde.
Doch EU-Verhandlungsführer Michel Bar-
nier schrieb im „Sunday Telegraph“, dass
die Europäische Union mit der Backstop-
Regelung schon „maximale Flexibilität ge-
genüber einem Nicht-Mitgliedstaat“ ge-
zeigt habe. Er sei daher „nicht optimis-
tisch“, dass ein Austritt Großbritanniens
ohne Deal noch verhindert werden könne.
Die Regierung erhöhte am Wochenen-
de den Druck auf die konservativen Abge-
ordneten, gegen den Gesetzentwurf der
Opposition zu stimmen. Zeitungen be-
richteten, Abgeordneten sei damit ge-
droht worden, bei den nächsten Wahlen
nicht wieder aufgestellt zu werden. Etwa
zwanzig Brexit-Gegner aus der Tory-
Fraktion sollen Gespräche mit der Oppo-
sition geführt haben. Am Montag trifft
Johnson mit No-Deal-Gegnern in seiner
Fraktion zusammen. Die Gruppe, der
auch die früheren Minister Philip Ham-
mond und David Gauke angehören, ver-
langt angeblich Belege für Johnsons

Überzeugung, dass seine Verhandlungsli-
nie erfolgreich sei.
Den Gegnern Johnsons bleibt nur we-
nig Zeit, um das Gesetz durch beide Kam-
mern zu bringen und die Unterschrift der
Königin zu erhalten, bis das Parlament
wieder ruht. Der für die No-Deal-Vorberei-
tungen zuständige Minister Michael Gove
ließ offen, wie die Regierung auf einen
Sieg der Opposition reagieren würde.
Noch herrscht Unklarheit darüber, wie bin-
dend das geplante Gesetz wäre, das an die-
sem Dienstag eingebracht werden soll.
Sollte Johnson die erste Abstimmung
verlieren, rechnen viele damit, dass er Neu-
wahlen auf den Weg bringen werde. Dafür
müsste er allerdings eine Zweidrittelmehr-
heit im Haus erreichen oder ein Misstrau-
ensvotum verlieren. Die Labour Party for-
dert zwar seit Jahren Neuwahlen, will aber
verhindern, dass der Wahltermin einen
No-Deal-Brexit wahrscheinlicher macht.
Das könnte passieren, wenn Johnson die
Wahl in den frühen November – also die
Tage nach dem Austrittstermin – legen
würde, weil das Parlament in den Wochen
davor nicht mehr tagen würde.
Gove ließ am Sonntag eine Kampagne
anlaufen mit dem Titel „Get Ready for
Brexit“. Mehr als hundert Millionen Euro
soll die Regierung bezahlt haben, um
über die Auswirkungen eines EU-Aus-
tritts aufzuklären. Gove widersprach in
der BBC früheren Einschätzungen der Re-
gierung und versicherte, auch ein No-
Deal-Brexit würde zu „keinerlei Engpäs-
sen bei frischer Nahrung“ führen.

ROM, 1. September. Am Freitag hat
Giuseppe Conte im Vatikan Papst Fran-
ziskus getroffen. Anlass war die Trauer-
feier für Kardinal Achille Silvestrini, der
am Donnerstag im Alter von 95 Jahren
gestorben war. Der Papst tauschte mit
dem geschäftsführenden und designier-
ten neuen italienischen Ministerpräsi-
denten ganz offensichtlich freundliche
Wort aus. Womöglich hat er ihm auch
viel Glück bei den schwierigen Verhand-
lungen zur Bildung einer neuen Koaliti-
on aus linkspopulistischer Fünf-Sterne-
Bewegung und sozialdemokratischem
Partito Democratico (PD) gewünscht.
Conte kann jeden Beistand gebrau-
chen. Die Koalitionsverhandlungen kom-
men nur schleppend voran, dabei drängt
die Zeit. Vor allem Fünf-Sterne-Chef Lui-
gi Di Maio, der um sein politisches Über-
leben und um seinen Posten als Vize-Re-
gierungschef kämpft, stellt immer neue
Forderungen und setzt Ultimaten. Am
Samstag ging Conte ein weiteres Mal zu
Staatspräsident Sergio Mattarella, der
ihm am Donnerstag im Quirinalspalast
formal den Auftrag zur Bildung einer
neuer Regierung erteilt hatte. Mattarella
hat dem Vernehmen nach klargemacht,
dass es keinen Plan B gibt: Entweder die
Linkskoalition unter Führung Contes
kommt zustande, oder es gibt vorgezoge-
ne Wahlen. Für eine Neuauflage der ge-
scheiterten Koalition zwischen Fünf-
Sterne-Bewegung und rechtsnationalisti-
scher Lega ist Mattarella nicht zu haben.
Conte traf bei dem traurigen Anlass
im Vatikan viele alte Bekannte. Auch
Kardinal Silvestrini kannte Conte gut.
Der einflussreiche Geistliche und Kir-
chendiplomat aus Ravenna gründete
1980 in Rom die Studienstiftung „Villa
Nazareth“. Im Wohnheim der Stiftung,
die sich vor allem der Förderung begab-
ter Studenten aus dem unterentwickel-
ten Süden Italiens verschrieben hat, leb-
te Anfang der achtziger Jahre mit einem
Vollstipendium der Jurastudent Giusep-
pe Conte aus dem apulischen Volturara
Appula. Der lernte in der „Villa Naza-
reth“ nicht nur seinen Gönner Silvestri-
ni, sondern auch Pietro Parolin kennen.
Parolin war damals Dozent und Betreuer


am Kolleg der Stiftung, heute ist er der
mächtige Kardinalsstaatssekretär im Va-
tikan. Die „Villa Nazareth“ wurde über
die Jahre zur Denkfabrik des italieni-
schen Links-Katholizismus. Dieser in
den meisten westlichen Gesellschaften
heute dominierenden Richtung ist der
Kampf gegen Armut und Umweltzerstö-
rung wichtiger als etwa die Verteidigung
überkommener Dogmen. Die geistigen
und geistlichen Väter dieser Denkschule
in Italien sind die Kardinäle Silvestrini
und Parolin. Deren Schutzherr im Vati-
kan ist seit 2013 Papst Franziskus, ihr
Säulenheiliger der wundertätige und pro-
phetische italienische Kapuzinermönch
und Armenpriester Pio von Pietrelcina
(1887 bis 1968). Von Giuseppe Conte
heißt es, er trage in seiner Jackentasche
immer ein Heiligenbild von Padre Pio.
Man muss sich diese Herkunft und
diesen Hintergrund in Erinnerung ru-
fen, um Giuseppe Contes Brandrede im
Senat gegen Innenminister Matteo Salvi-
ni von der Lega zu verstehen. Dabei zieh
Conte seinen Minister nicht nur rück-
sichtsloser persönlicher Machtambitio-
nen. Er warf ihm auch vor, religiöse
Symbole wie Kruzifix und Rosenkranz,
dazu die Anrufung der Jungfrau Maria
für politische Zwecke zu missbrauchen.
Dies seien „Episoden religiöser Bewusst-
losigkeit, welche die Gefühle der Gläubi-
gen verletzen können und zugleich die
laizistischen Grundlagen des modernen
Staates zu verdunkeln drohen“, sagte
Conte. Salvini zog daraufhin seinen Ro-
senkranz aus der Jacke und küsste ihn.
Eine Koalition von „gezähmten“
Fünf-Sterne-Rebellen und Sozialdemo-
kraten, dazu geführt von dem Linkska-
tholiken Giuseppe Conte, wäre ganz
nach dem Geschmack des Vatikans un-
ter Franziskus und Kardinalstaatssekre-
tär Pietro Parolin sowie der italieni-
schen Bischofskonferenz. Auch im jüngs-
ten Leitartikel des jesuitischen Wochen-
blattes „Civiltà Cattolica“, dessen Chef-
redakteur Antonio Spadaro zu den engs-
ten Vertrauten des Papstes gehört, wird
Giuseppe Conte unzweideutig unter-
stützt: Er solle rasch eine Regierung bil-
den und mit seinem Kabinett den Haus-
halt verabschieden, heißt es da.

Herzstillstand
Versuche mit einem Gerät zur
Gesundheitskontrolle

In Hongkong geht die


Angst um


Auf der Straße gegen Johnson


Demonstrationen gegen Beurlaubung des Parlaments / Opposition plant No-Deal-Gesetz


Wichtiges in Kürze


Mit dem Segen des Papstes


Conte weiß die Kirche hinter sich / Von Matthias Rüb


Viele Tote und ein angeschossenes Baby


Ein Amoklauf in Texas verschärft den Streit über das Waffenrecht / Von Majid Sattar


Urlaub in Dosen
Rundgang über den Caravan-Salon
in Düsseldorf

Polizisten prügeln


wahllos auf


Demonstranten ein,


Aktivisten werden mit


Messern angegriffen:


Der Konflikt in der


Stadt spitzt sich


dramatisch zu.


Von Friederike Böge


Es regt sich Widerstand:Demonstranten gehen am Samstag in London gegen die Beurlaubung des Parlaments auf die Straße. Foto dpa
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