Frankfurter Allgemeine Zeitung - 02.09.2019

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SEITE 4·MONTAG, 2. SEPTEMBER 2019·NR. 203 Politik FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG


Frankfurter Zeitung
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E


sgibt keinen anderen Platz in Euro-
pa, auf dem es mir so schwer fällt,
meine Stimme zu erheben. In meiner
deutschen Muttersprache das Wort an Sie
alle zu richten. Verehrter Staatspräsident
Duda, ich stehe hier in Demut und in
Dankbarkeit. Sie haben mich eingeladen,
mit Ihnen, mit Ihren Landsleuten zu ge-
denken. Heute vor achtzig Jahren überfiel
mein Land, Deutschland, sein Nachbar-
land Polen – Ihr Heimatland. Meine
Landsleute entfesselten einen grausamen
Krieg, der mehr als fünfzig Millionen
Menschenleben kosten sollte, unter ihnen
Millionen polnische Bürgerinnen und
Bürger.
Dieser Krieg war ein deutsches Verbre-
chen. Davon zeugt die Geschichte dieses
Ortes. Vom ersten Tag des Krieges an nah-
men die Deutschen Warschau unter Be-
schuss. Jahrelang wüteten sie in dieser
Stadt. Sie machten ganze Stadtviertel
dem Erdboden gleich. Sie deportierten
ihre Bewohner. Sie ermordeten Männer,
Frauen und Kinder. Polen, seine Kultur,
seine Städte, seine Menschen – alles Le-
bendige sollte vernichtet werden.
Der Terror begann in Wielun – ein Ort,
von dessen Schicksal bis heute viel zu we-
nige in meinem Land wissen. Heute Mor-
gen haben wir, verehrter Präsident Duda,
dort gemeinsam der ersten Opfer des
deutschen Überfalls gedacht. Oft bemü-
hen wir den Begriff „unermesslich“,
wenn wir diesen Krieg beschreiben. Wir
sprechen vom unermesslichen Leid, das
Deutschland über Europa gebracht hat.
Ermessen können wir das Leiden tatsäch-
lich nicht. Aber „unermesslich“ bedeutet
nicht, dass wir von dem Bemühen befreit
sind, das Leiden der Opfer mitzufühlen.
Nein, die Vergangenheit ist nicht abge-

schlossen. Im Gegenteil: Je länger dieser
Krieg zurückliegt, desto wichtiger wird
das Erinnern. Ein Krieg ist beendet,
wenn die Waffen schweigen. Seine Fol-
gen aber sind ein Erbe für Generationen.
Dieses Erbe ist ein schmerzhaftes Erbe.
Wir Deutsche nehmen es an, und wir tra-
gen es weiter. Als deutscher Bundespräsi-
dent gemeinsam mit der deutschen Bun-
deskanzlerin sagen wir heute allen Polin-
nen und Polen: Wir werden nicht verges-
sen. Wir vergessen die Wunden nicht, die
Deutsche Polen zugefügt haben. Wir ver-
gessen das Leiden der polnischen Famili-
en ebenso wenig wie ihren Mut zum Wi-
derstand. Wir werden niemals vergessen.
Nigdy nie zapomnimy!
Vor über eintausend Jahren kam der
erste deutsche Gast nach Polen. Jener
Gast mit Namen Otto, er trat barfuß in
dieses Land als einfacher Pilger im Zei-
chen von Frieden und Demut. Ebenso ste-
he ich heute barfuß vor dem polnischen
Volk, als Mensch, als Deutscher, beladen
mit großer historischer Last. Nichts kann
die Vergangenheit ungeschehen machen.
Worte können den Schmerz nicht heilen.
Taten können das Verlorene nicht zurück-
bringen. Ich stehe barfuß vor Ihnen –
doch ich bin beseelt vom Geist der Versöh-
nung, den Polen uns geschenkt hat!
Dort steht das Kreuz, dort rief der pol-
nische Papst am Pfingstfest vor 40 Jahren
in die Menge: „Sende aus deinen Geist
und erneuere das Angesicht der Erde! Die-
ser Erde!“ Diese Erde, diesen Kontinent
hat Polen erneuert. Es ist Polens Geist –
es ist euer Geist der Befreiung, der den Ei-
sernen Vorhang zerrissen hat. Es ist euer
Geist der Versöhnung, der uns Deutschen
den Neubeginn geschenkt hat. Es ist euer
Geist der Erneuerung, in dem wir gemein-

sam in ein neues, ein friedliches Europa
gelangt sind. Dieser Geist, er soll auch
heute von diesem Platz in die Welt hinaus-
wehen! Schaut auf das Grabmal des Unbe-
kannten Soldaten! Schaut auf den Helden-
mut und die unbezwingbare Freiheitslie-
be der polnischen Nation – sie stehen als
leuchtendes Beispiel für die vielen stol-
zen Nationen Europas, die heute hier ver-
sammelt sind.
Schaut auf die Staatsgäste aus dreißig
Ländern! Sie alle, deren Vorfahren in je-
nem Krieg gekämpft und gelitten haben,
sie zeigen heute miteinander, dass der
Wille zu einer gemeinsamen Zukunft stär-
ker ist als die trennende Kluft der Vergan-
genheit. Und schaut auch auf dies: Dass
auf diesem Platz, an diesem Tag ein deut-
scher Präsident vor Ihnen stehen und spre-
chen darf – das zeigt das lebendige Wun-
der der Versöhnung. Die Versöhnung ist
eine Gnade, die wir Deutsche nicht ver-
langen konnten, aber der wir gerecht wer-
den wollen. Daran, an unserer Verantwor-
tung, sollt ihr uns messen.

U


nsere Verantwortung – sie gilt Euro-
pa! Das vereinte Europa ist die ret-
tende Idee. Es ist die Lehre aus Jahrhun-
derten von Krieg und Verwüstung, von
Feindschaft und Hass. Ja, dieses Europa
hat das Schlechteste des Menschen gese-
hen und dennoch, von Neuem, auf sein
Bestes gesetzt. Das vereinte Europa setzt
auf die Kraft von Humanismus und Auf-
klärung, auf Freiheit und Recht, auf den
Reichtum seiner Sprachen und Kulturen.
Dieses Europa ist und bleibt ein Projekt
der Hoffnung. Ich weiß wohl, mein Land
trägt für dieses Europa eine besondere
Verantwortung. Weil Deutschland – trotz
seiner Geschichte – zu neuer Stärke in Eu-

ropa wachsen durfte, deshalb müssen wir
Deutschen mehr tun für Europa. Wir müs-
sen mehr beitragen für die Sicherheit Eu-
ropas. Wir müssen mehr einbringen für
den Wohlstand Europas. Wir müssen
mehr zuhören für den Zusammenhalt Eu-
ropas. Diese Verantwortung wollen wir
Deutsche annehmen. Wir wollen dies mit
Demut tun. Vor dem Spiegel unserer Ge-
schichte haben wir Deutsche allen
Grund, die glücklichsten Europäer zu
sein. Aber wir haben keinerlei Grund, uns
für die besseren Europäer zu halten.
Unsere Verantwortung, sie gilt auch
der transatlantischen Partnerschaft. Wir
alle blicken an diesem Jahrestag mit
Dankbarkeit auf Amerika. Die Macht sei-
ner Armeen hat – gemeinsam mit den Ver-
bündeten im Westen und im Osten – den
Nationalsozialismus niedergerungen.
Und die Macht von Amerikas Ideen und
Werten, seine Weitsicht, seine Großzügig-
keit haben diesem Kontinent eine andere,
eine bessere Zukunft eröffnet.
Herr Vizepräsident (Mike Pence, Anm.
d. Red.), das ist die Größe Amerikas, die
wir Europäer bewundern und der wir ver-
bunden sind. Dieses Amerika hat der
Welt die Augen geöffnet für die unbändi-
ge Kraft der Freiheit und der Demokratie


  • gerade auch uns Deutschen. Diesem
    Amerika war das vereinte Europa immer
    ein Anliegen. Dieses Amerika wollte ech-
    te Partnerschaft und Freundschaft in ge-
    genseitigem Respekt. Vieles davon
    scheint heute nicht mehr selbstverständ-
    lich. Deshalb: Lasst uns nicht vergessen,
    was uns stark gemacht hat – diesseits und
    jenseits des Atlantiks! Lasst uns das Ge-
    meinsame bewahren in dieser Welt voller
    Veränderung und schwindender Gewiss-
    heiten!


Wir wissen wohl: Europa muss stärker
und selbstbewusster werden. Aber wir wis-
sen auch: Europa soll nicht stark sein
ohne Amerika – oder gar gegen Amerika.
Sondern Europa braucht Partner. Und ich
bin sicher, auch Amerika braucht Partner
in dieser Welt. Also lasst uns diese Part-
nerschaft pflegen! Lasst uns den An-
spruch bewahren, dass der Westen mehr
ist als eine Himmelsrichtung!

U


nsere Verantwortung, sie bedeutet
für uns Deutsche auch dies: Nie wie-
der Nationalismus! Nie wieder dürfen
Deutsche rufen: „Deutschland, Deutsch-
land über alles!“ Nie wieder sollen Natio-
nen sich über andere Nationen erheben –
Menschen über andere Menschen, Ras-
sen über andere Rassen. Nie wieder soll
die Vernunft verloren gehen. Nie wieder
sollen Hass und Selbstsucht entfesselt
werden im Zusammenleben der Völker.
Unsere Väter und Mütter haben aus der
Geschichte gelernt. Über den Gräbern
der Toten haben sie einander die Hand
zur Versöhnung gereicht. Gemeinsam ha-
ben sie einen neuen Weg in die Zukunft
gefunden – den Weg der guten Nachbar-
schaft, den Weg der Zusammenarbeit,
mit Regeln für den Frieden, mit verbrief-
ten Rechten für alle Menschen. Liebe Part-
ner, liebe Freunde, den Geist der Versöh-
nung wollen wir bewahren! Den Weg der
Gemeinsamkeit müssen wir weitergehen!
Als deutscher Gast trete ich barfuß vor
Sie auf diesen Platz. Ich blicke in Dankbar-
keit auf den Freiheitskampf des polni-
schen Volkes. Ich verneige mich in Trauer
vor dem Leid der Opfer. Ich bitte um Ver-
gebung für Deutschlands historische
Schuld. Ich bekenne mich zu unserer blei-
benden Verantwortung.

WIELUN/WARSCHAU, 1. September

E


s istnoch dunkel, in dieser Nacht
zum Sonntag, gegen drei Uhr, als
in der Kleinstadt Wielun auf dem
Platz der Legionen die Menschen zusam-
menströmen. Kein Vogel rührt sich in
den Bäumen. Es ist still, wie es 1939 ge-
wesen sein mag, in jener Nacht zum 1.
September vor 80 Jahren. Wenig später
war damals etwas Ungewöhnliches über
der Stadt zu hören: „Jericho-Trompeten“,
die Sirenen Dutzender deutscher Sturz-
kampfbomber mit ihrem markzersetzen-
den Heulton. Danach die Einschläge von
Bomben. 1200 Zivilisten fanden den Tod,
viele davon im Schlaf; die ersten Opfer
waren im Krankenhaus zu beklagen, das
auf dem Dach mit einem Rot-Kreuz-Sym-
bol gekennzeichnet war.
80 Jahre danach sind am Sonntag die
Präsidenten Deutschlands und Polens,
Frank-Walter Steinmeier und Andrzej
Duda, mitten in der Nacht nach Wielun
gekommen. Warum dorthin? Der Zweite
Weltkrieg habe in Danzig begonnen,
hieß es immer, mit der Beschießung der
Westerplatte, eines polnischen Muniti-
onsdepots, durch den Panzerkreuzer
„Schleswig-Holstein“. Der Angriff auf
die Westerplatte und am selben Tag auf
die Polnische Post in Danzig: alles ver-
filmt und (in Günter Grass’ „Blechtrom-
mel“) literarisch beschrieben. Der An-
griff auf Wielun, den die Gedenktafeln in
der Stadt auf 4.40 Uhr früh datieren – mit-
hin einige Minuten vor Danzig –, war
jahrzehntelang fast vergessen. Bis das
Kriegsverbrechen an diesem Ort vor eini-
gen Jahren ins öffentliche Bewusstsein
gerückt wurde, zunächst in Polen selbst.
Nun gibt es eine traurige Konkurrenz zwi-
schen der alten Hansestadt Danzig im
Norden und dem ebenfalls im Mittelalter
gegründeten, heute 23 000 Einwohner
zählenden Wielun im Süden: Wo hat nun
eigentlich der Krieg begonnen? Wielun
betreffend hat die Frage noch eine ande-
re Dimension: Warum nur hat eine Luft-
waffeneinheit – unter dem Kommando
von Wolfram von Richthofen, des späte-
ren Generalfeldmarschalls der Luftwaffe


  • dieses Städtchen ohne Militär und In-
    dustrie in Schutt und Asche gelegt? Histo-
    riker nennen die Erprobung der damals
    noch relativ neuen Stuka-Bomber als
    Grund (tatsächlich verlor die Luftwaffe
    bei Wielun gleich am ersten Tag mehrere
    Flugzeuge). Ein anderer (deutscher) Wis-
    senschaftler behauptet, nahe der Stadt
    sei zuvor polnische Kavallerie in Stellung
    gegangen, daher liege kein Kriegsverbre-
    chen vor. Oder war es womöglich der Ver-
    such, dem Feind gleich am ersten Tag zu
    zeigen, wozu deutsche Soldaten fähig
    sind?
    Kurz vor 4.40 Uhr treffen auf dem
    Platz der Legionen die Präsidenten ein.
    Das Abschreiten der Ehrenkompanie ver-
    läuft ungewohnt, kein roter Teppich, nur
    der Asphalt der Stadt Wielun. Dahinter
    wehen an Masten zwei Fahnen, die Po-
    lens und die deutsche. Um genau 4.
    Uhr ertönen die Sirenen. Steinmeier
    kann sich willkommen fühlen, mehr
    noch: bei Freunden. In seiner frei gehalte-
    nen Rede erklärt Gastgeber Duda, wie es
    zu dieser Feier kam: Der deutsche Kolle-
    ge habe vor einem Jahr gefragt, wo Polen
    diesen Jahrestag begehen werde; er habe
    geantwortet: Zur Auswahl stehen Wielun
    und Warschau. „Da hat Steinmeier ge-
    sagt: Fahren wir nach Wielun.“ Der Bun-
    despräsident wolle verstärkt die „unbe-
    kannten Orte der Vernichtung“ würdi-
    gen, heißt es dazu im Bundespräsidial-
    amt, so wie kürzlich am Ort des Massa-
    kers in Fivizzano in der Toskana.
    Die Entscheidung für Wielun, wo Zivi-
    listen im Schlaf getötet wurden, rechnet
    Duda seinem Gast hoch an. „Sie sind
    hier, und das ist eine Form der morali-
    schen Wiedergutmachung. Sie sind hier
    und stellen sich der Wahrheit.“ Diese
    Wahrheit mache frei und führe zur „Ver-
    söhnung“ – ein Wort, das im offiziellen
    polnischen Geschichtsdiskurs der letzten
    Jahre selten geworden ist.
    Doch wer sich auf dem Platz umhört,
    vor und während der Zeremonie, wird
    viele versöhnliche Stimmen hören. „Gut,
    dass Steinmeier da ist“, sagt ein 60 Jahre
    alter Einwohner Wieluns, der sich als
    „Zbyszek, historisch interessierter Elek-
    triker“ vorstellt. „Wer war der Erste, der
    um Entschuldigung bat? Brandt? Auch
    Helmut Kohl hat es getan.“ Auch der Bun-
    despräsident wird es heute in Wielun sa-
    gen: „Ich bitte um Vergebung“ – auf Pol-
    nisch und auf Deutsch. Wer die Nazi-Ver-
    brechen als eine „Marginalie“ der deut-
    schen Geschichte darstelle, „der richtet
    sich selbst“, sagt er in Wielun auch. Es
    sei vielmehr an der Zeit, in Deutschland
    und Berlin „neue und angemessene Zei-
    chen“ der Erinnerung zu setzen – eine


Anspielung auf die laufenden Bemühun-
gen, in der deutschen Hauptstadt einen
Gedenkort für die polnischen Opfer von
Krieg und Besatzung einzurichten. We-
nig später wird Steinmeier im Museum
Überlebende des Krieges in Wielun tref-
fen, etwa die 92 Jahre alte Zofia Burcha-
cinska. „Er hat um Vergebung gebeten“,
sagt die rüstige Frau danach kurz und
bündig, „und wir vergeben.“ Steinmeier
streicht zum Abschied einem alten Mann
über den Rücken, drückt Frau Burchacins-
ka die Hand. Vielleicht ist Wielun wirk-
lich „eine Stadt des Friedens und der Ver-
söhnung“ geworden, wie es der Bürger-
meister einleitend gesagt hatte. Die Stadt
hat zwei Partnerstädte – eine in West-,
die andere in Ostdeutschland, beide sind
heute hier vertreten; eine dritte pol-
nisch-deutsche Partnerschaft ist in Vorbe-
reitung: mit einer Stadt in Nordrhein-

Westfalen, wo „Wielton“, eine etwa 20
Jahre alte Wieluner Firma – man höre
und staune – Lkw-Teile produzieren
lässt.
Von Wielun reisen die Präsidenten
nach Warschau, wo mit etwa 15 Staats-
und Regierungschefs der größere Teil der
Feierlichkeiten stattfindet. Hier knallen
nicht nur die Salutschüsse – aus Kano-
nen – viel lauter; hier wurde auch lauter,
heftiger und viel zur aktuellen Politik ge-
sprochen. Duda, Steinmeier und der ame-
rikanische Vizepräsident Mike Pence lau-
tet die Reihenfolge der Redner. Donald
Trump hatte abgesagt – offiziell wegen
des nach Florida ziehenden Hurrikans,
doch die polnische Presse nannte ein gan-
zes Bündel möglicher anderer, halbwegs
plausibel erscheinender Gründe, etwa
den gerade anlaufenden Parlamentswahl-
kampf in Polen.

Steinmeier verband Demut („als deut-
scher Gast trete ich barfuß vor Sie auf die-
sen Platz“) mit „Dankbarkeit“ für den
„Freiheitskampf des polnischen Volkes“.
Das war auf dem Pilsudski-Platz im Her-
zen der polnischen Hauptstadt bezie-
hungsreich: Hier hatte Johannes Paul II.
1979 vor einer Million Menschen um Got-
tes Geist gebeten, der „das Angesicht die-
ser Erde“ erneuern möge. Steinmeier zi-
tierte den polnischen Papst und sagte mit
Blick auf 1989: „Diese Erde, diesen Konti-
nent hat Polen erneuert. Es ist euer Geist
der Befreiung, der den Eisernen Vorhang
zerrissen hat.“ Wohl nie zuvor hat ein
Bundespräsident so emphatisch vom pol-
nischen Freiheitsstreben und seinen Aus-
wirkungen gesprochen – wohl ahnend,
dass Pence ihn anschließend noch etwas
übertrumpfen würde.
Der Amerikaner sagte: „Wenn jemand
an der Berufung der Menschheit zur Frei-
heit zweifelt, möge er auf Polen schau-
en.“ Amerika und Polen seien weiterhin
für eine gemeinsame Verteidigung und
würden „unsere Verbündeten auffor-
dern, ihre gegenseitigen Verpflichtungen
zu erfüllen“.
Pence, der sich auch als Vertreter von
„zehn Millionen polnischen Amerika-
nern“ vorstellte, bezog sich mehrfach auf
Trump, der am Denkmal des Warschauer
Aufstands 2017 eine seiner wichtigsten
Reden überhaupt gehalten hatte; damals
hatte der Präsident davon gesprochen,
die westliche Zivilisation werde allen Ge-
fahren zum Trotz siegreich sein und blei-
ben wie das polnische Volk. Pence zitier-
te schließlich noch Alexander Solscheni-
zyn, der als Ursache aller Grausamkeit
der Moderne Folgendes benannt habe:
„Die Menschen haben Gott vergessen.“
Auf andere Weise schlug Duda den Bo-
gen zur Gegenwart: Er erinnerte an die
Kriege in Jugoslawien und Ruanda, um
dann auf Russlands Vorgehen gegen
Georgien und die Ukraine hinzuweisen.
Aggressoren fühlten sich vom Wegschau-
en der anderen stets „ermuntert“, mahn-
te Duda; ob er in Erinnerung hatte, dass
fünf Jahrestage zuvor, 2014, kurz nach
der Krim-Annexion, der damalige Bun-
despräsident Joachim Gauck in Danzig
fast genau dasselbe gesagt hatte? Es gebe
in jüngster Zeit eine „Rückkehr imperia-
listischer Tendenzen“ und Grenzrevisio-
nen, sagte Duda unter Anspielung auf
Russland; auf so etwas müsse es „Sanktio-
nen und entschlossene Schritte“ geben.
Eine symbolische Sanktion hatte Polen
zu diesem Jahrestag selbst verhängt:
Russlands Präsident Wladimir Putin war
jib.WIESBADEN, 1. September. Hes- nicht eingeladen.
sens Ministerpräsident Volker Bouffier
(CDU) hat einen vorzeitigen Rückzug
nicht ausgeschlossen und sich nur ver-
halten optimistisch über den Erfolg ei-
ner Krebsbehandlung geäußert. Auf
die Frage, ob er ähnlich wie sein Vor-
gänger Roland Koch einem möglichen
Nachfolger den Vorteil geben könnte,
als Ministerpräsident in den Wahl-
kampf zu gehen, sagte Bouffier dem
Hessischen Rundfunk: „Das werden
wir dann beraten, wenn es so weit ist.
Aber dafür spricht viel.“ Angesprochen
auf seine Krebserkrankung, äußerte
Bouffier: Er sei sehr dankbar, „dass
nach allem, was wir jetzt wissen“, und
„jedenfalls im Moment“ die Krankheit
besiegt sei, auch wenn man das „nie so
genau auf Dauer“ wisse. „Wenn das wei-
ter so bleibt, werde ich meine Aufgabe
mit Freude und voller Kraft machen.“
Die Äußerungen dürften die Spekula-
tionen über seine Nachfolge verstärken.
Bereits Ende Februar hatte die Hessi-
sche Staatskanzlei über eine Krebser-
krankung des 67 Jahre alten Minister-
präsidenten informiert. Von einem „be-
grenzten Hautkrebs“ war die Rede, der
durch eine Strahlentherapie entfernt
werden sollte. „Die Behandlung erfolgt
ambulant, und Herr Ministerpräsident
Bouffier wird seine Amtsgeschäfte fort-
führen“, hieß es. Nach einer Reha trat
Bouffier dann Ende April erstmals wie-
der öffentlich auf und äußerte, er habe
sich „gut erholt“. Trotzdem gehen auch
innerhalb der hessischen CDU viele da-
von aus, dass ein Wechsel in naher Zu-
kunft stattfinden könnte. In dem Inter-
view sagte Bouffier, der seit mehr als 22
Jahren in unterschiedlichen Positionen
in der Hessischen Landesregierung ak-
tiv ist, nun auch: „Und wenn dann der
Punkt kommt, an dem man sagt:,Jetzt
ist es aber mal gut‘, dann gehe ich da-
von aus, dass die hessische CDU wie
bisher auch eine klare Antwort gibt.“
Als möglicher Nachfolgekandidat wird
in Wiesbaden Finanzminister Thomas
Schäfer (CDU) gehandelt.


moja. FRANKFURT, 1. September.
Acht Zweierteams bewerben sich um
den SPD-Vorsitz. Die 16 Kandidaten
haben nach einer mehrwöchigen Be-
werbungszeit die notwendigen Krite-
rien erfüllt, sie erhielten bis Fristab-
lauf am Sonntagabend die nötige Un-
terstützung von mindestens fünf Unter-
bezirken, einem Bezirks- oder einem
Landesverband, wie die SPD in Berlin
mitteilte. Die Kandidaten werden sich
ab Mittwoch auf insgesamt 23 Regio-
nalkonferenzen der Basis präsentie-
ren. Mitte Oktober werden die knapp
440 000 Parteimitglieder dann über
die neuen Vorsitzenden abstimmen.
An diesem Montag soll der Wahlvor-
stand der SPD zusammenkommen, um
das Kandidatenfeld endgültig zu bestä-
tigen. SPD-Vorsitzender wollen wer-
den Bundesfinanzminister Olaf Scholz
gemeinsam mit der Brandenburger
Landtagsabgeordneten Klara Geywitz,
der frühere nordrhein-westfälische Fi-
nanzminister Norbert Walter-Borjans
und die Bundestagsabgeordnete Saskia
Esken, Niedersachsens Innenminister
Boris Pistorius und Sachsens Integrati-
onsministerin Petra Köpping, die Vor-
sitzende der SPD-Grundwertekommis-
sion, Gesine Schwan, und der stellver-
tretende Parteivorsitzende Ralf Steg-
ner. Ebenso Europa-Staatsminister Mi-
chael Roth und die frühere nordrhein-
westfälische Familienministerin Chris-
tina Kampmann. Auch kandidieren
die Bundestagsabgeordneten Karl Lau-
terbach und Nina Scheer, Flensburgs
Oberbürgermeisterin Simone Lange
und der Oberbürgermeister von Baut-
zen, Alexander Ahrens. Schließlich die
Bundestagsabgeordnete Hilde Mat-
theis und der Verdi-Chefökonom
Dierk Hirschel.
Einige Unklarheit hatte es über die
angekündigte Kandidatur des Satiri-
kers Jan Böhmermann gegeben. Nach
seinen Worten hatte er die SPD-Mit-
gliedschaft in Köthen (Sachsen-An-
halt) erhalten, der SPD-Landesver-
band hatte am Samstag allerdings wi-
dersprochen.


Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier bei der Gedenkfeier der Republik Polen zum 80. Jahrestag des Kriegsbeginns


Ein Tag für Wahrheit und Versöhnung


Bouffier spricht


über Rückzug


Acht Zweierteams


bewerben sich um


SPD-Vorsitz


„Euer Geist der Versöhnung hat uns den Neubeginn geschenkt“


Den Ort Wielun kennt


in Deutschland kaum


jemand. Dabei begann


hier vor achtzig Jahren


der Zweite Weltkrieg.


Von Gerhard Gnauck


Zeichen der Versöhnung:Die Präsidenten Duda und Steinmeier in Wieluń Foto dpa

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