Frankfurter Allgemeine Zeitung - 02.09.2019

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SEITE 6·MONTAG, 2. SEPTEMBER 2019·NR. 203 Ereignisse und Gestalten FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG


A


ls der Krieg in die dritte Wo-
che ging, verstand William L.
Shirer die Welt nicht mehr. Er
müsse, so notierte der ameri-
kanische Rundfunkjournalist
am 20. September 1939 in sein Berliner Ta-
gebuch, „den Deutschen erst noch finden,
der irgendetwas schlecht findet an der Zer-
störung Polens durch Deutschland“. Und
diese Überzeugung von der eigenen Recht-
schaffenheit, vermerkte Shirer konster-
niert, sei „selbst unter denen, die das Re-
gime nicht mögen“, weit verbreitet. All
die moralischen Einstellungen der Außen-
welt in Bezug auf den deutschen Überfall
auf Polen, so Shirer weiter, das blanke Ent-
setzen und die scharfe Verurteilung des
deutschen Vorgehens fänden unter den
Deutschen kaum ein Echo.
Landauf, landab, so scheint es, herrsch-
te im September 1939 die Gewissheit, auf
der richtigen Seite zu stehen. Es spricht ei-
niges dafür, dass diese Stimmungslage
nicht erst in jenen Tagen entstanden ist,
sondern ihre Wurzeln in jener Mischung
aus Wut, Verzweiflung und Verachtung
hat, mit der die deutsche Gesellschaft
nach dem Ersten Weltkrieg lagerübergrei-
fend auf die Wiedererstehung des polni-
schen Staates und den damit einhergehen-
den Verlust der ehemaligen Ostprovinzen
des Reiches reagiert hatte: Die Zweite Pol-
nische Republik galt als „ein Staat, der
nicht sein durfte“, wie der Historiker Hein-
rich August Winkler treffend formulierte,
ein „Saisonstaat“, der sich auf unrechtmä-
ßige, ja verbrecherische Weise weite Ge-
biete des deutschen Ostens angeeignet
habe. Ein Krieg, der dieses, wie es hieß,
„schreiende Unrecht“ der „territorialen
Amputation“ wiedergutmachen würde,
war nicht unpopulär und wurde von vie-
len als rechtmäßig angesehen.
Aber dass die deutsche Bevölkerung
meinte, nicht nur das Recht, sondern auch
die Moral auf ihrer Seite zu haben, hat
noch einen weiteren Grund: die Darstel-
lung des deutschen Überfalls auf Polen als
einen legitimen Akt kriegerischer Gewalt
zur Verhinderung von Schlimmerem.
Dazu bediente sich die nationalsozialisti-
sche Propaganda eines spezifisch antipol-
nischen Feindbildes, wonach die Deut-
schen Opfer polnischer Gewalt seien, auf
die – schützend, vorbeugend oder rächend


  • mit eigener Gewalt zu entgegnen nicht
    nur gerechtfertigt, sondern geradezu not-
    wendig erschien. Wer im Sommer 1939
    eine Tageszeitung zur Hand nahm, der
    wurde mit finsteren Geschichten über ver-
    meintliche „polnische Greuel“ an der deut-
    schen Minderheit in Polen konfrontiert:
    Zahllose Meldungen über Vergewaltigun-
    gen, Misshandlungen, Zerstückelungen
    und Morde waren geprägt von einer er-
    staunlich expliziten Beschreibung der Ge-
    walt angeblicher polnischer Täter sowie
    der anschaulichen Darstellung verstüm-
    melter und zerstörter Körper der deut-
    schen Opfer. So wurden „unhaltbare Zu-
    stände“ suggeriert – die einer humanitä-
    ren Katastrophe: Jenseits der Grenze sei-
    en unschuldige Deutsche einem erbar-
    mungslosen „Ausrottungsfeldzug“ hilflos
    ausgeliefert.
    Im Sommer 1939 gelang es dem natio-
    nalsozialistischen Propagandaapparat,
    den deutschen Überfall auf Polen als eine
    humanitäre Intervention zugunsten der
    bedrohten deutschen Minderheit zu cha-
    rakterisieren. Die Durchschlagskraft die-
    ser propagandistischen Vorbereitung des
    Feldzugs lag nicht zuletzt daran, dass sie
    anschlussfähig war an zeitgenössisch po-
    puläre Deutungsmuster aus der jüngeren
    deutschen Vergangenheit. Ihre Wurzeln
    liegen in den Debatten des 19. Jahrhun-
    derts über das Auseinanderfallen der eth-
    nisch definierten Nation und ihrer staatli-
    chen Ordnung, die sich nach dem Ersten
    Weltkrieg und der territorialen und demo-
    graphischen Neuordnung Ostmitteleuro-
    pas zuspitzten. Denn die durch den Ver-
    sailler Vertrag bestimmte Abtretung der
    ehemaligen Ostgebiete des Reiches an Po-
    len bedeutete, dass in dem wiedererstan-
    denen Staat eine große Anzahl von Men-
    schen lebte, die zwar eine polnische
    Staatsangehörigkeit besaßen, aber gleich-
    wohl als untrennbarer Bestandteil des
    deutschen Volkes angesehen wurden. Die
    sogenannten Volksdeutschen galten –
    „aus dem Volkskörper herausgerissen“ –
    als besonders wehrlose Opfer der „Schan-
    de von Versailles“.
    Potenziert wurde diese Wahrnehmung
    durch ein Polen-Bild, das sich in der unmit-
    telbaren Nachkriegszeit mit ihren spezifi-
    schen Gewalt- und Verlusterfahrungen,
    nach 1918 herauskristallisiert hatte. Be-
    sonders wichtig dafür sind die Freikorps-
    kämpfe in Oberschlesien, die von 1919 bis
    1921 von beiden Seiten mit hohem Ge-
    walteinsatz geführt worden waren. Insbe-
    sondere die Erinnerung an diese „Abstim-
    mungskämpfe“ im deutsch-polnischen
    Grenzgebiet und ihre literarische Verarbei-
    tung schufen neue antipolnische Feindbil-
    der: Nach 1921 etablierte eine auflagen-
    starke Freikorpsliteratur die Vorstellung,
    dass die Polen zu Gewalt neigende Barba-
    ren seien, die mit großer Brutalität wehrlo-
    se Deutsche ermordeten. In zahllosen Ro-
    manen und Schauspielen wurden die Po-
    len als „Strolche und Verbrecherkolon-
    nen“, als „Bestien“, „Galgengesichter“
    und „Mordbrenner“ gezeichnet, die wie
    Heuschreckenschwärme über wehrlose
    deutsche Zivilisten herfielen.
    Um die rücksichtslose Gewaltbereit-
    schaft der Polen zu veranschaulichen,
    schilderten die Autoren besondere Grau-
    samkeiten: Da werden Deutsche an Scheu-
    nentore genagelt, ihre Leichname ent-
    hauptet und in Flüsse geworfen; Deutsche
    werden „in bestialischer Weise zu Tode ge-
    schlagen“, ausgepeitscht, getreten, geprü-
    gelt und gefoltert. Eingeschlagene Zahn-
    reihen, zerstörte Schädeldecken, ausgesto-
    chene Augen, abgeschnittene Ohren und
    Genitalien waren fester Bestandteil dieser


Erinnerungsliteratur. Im wohl einfluss-
reichsten Buch der Freikorpsliteratur, Ar-
nolt Bronnens „O.S.“, heißt es beispiels-
weise, die Polen „mordeten, tausend
Mann gegen zwanzig, die Deutschen auf
viehische Weise. Von den siebzehn Land-
jägern wurde nicht einer verschont, von
den sechs Polizisten wurden drei ge-
schlachtet, drei zu Krüppeln geschlagen
und gefangen“.
Alle gängigen Feindbilder summierte
Kurt Oskar Bark in seinem Buch „Deut-
sche Wacht an der Weichsel“: „Das da drü-
ben sind Bestien! Das da drüben mordet
Verwundete, das da drüben hat hundert-
zwanzig Männer erst ausgezogen und
dann erschlagen, das da drüben hat die
beiden Schwestern in gleicher Weise er-
mordet. Das da drüben, der weiße Adler,
kennt kein Völkerrecht, kennt keine Hei-
ligkeit des Wortes, kennt kein Menschen-
tum, kein Menschenrecht. Das da drüben
ist ein giftiges Tier der Wildnis.“ Es waren
diese Texte, die – in vergleichsweise ho-
hen Auflagezahlen – ein neues antipolni-
sches Feindbild erzeugten, das nicht mehr
nur eine auf vermeintliche kulturelle
Rückständigkeit abhob, sondern den Po-
len eine spezifische Gewaltbereitschaft zu-
schrieb, die für deutsche Zivilisten jeden
Alters und beiderlei Geschlechts fürchter-
liche Folgen habe. Hier bildeten sich jene
Vorstellungen und Begriffe, mit denen das
NS-Regime Jahre später vor dem deut-
schen Überfall auf Polen seine eigene Ge-
waltanwendung legitimieren konnte.

N


achdem die polnische Regie-
rung im Frühjahr 1939 der
NS-Führung unmissverständ-
lich signalisiert hatte, dass sie
für einen von Hitler ursprüng-
lich anvisierten gemeinsamen deutsch-pol-
nischen Krieg gegen die Sowjetunion
nicht zur Verfügung stand, rückte Polen in
den Mittelpunkt deutscher Expansionsplä-
ne. Dabei sah Hitler den Propagandaappa-
rat vor der Herausforderung, eine Stim-
mung herbeizuführen, in der „die innere
Stimme des Volkes selbst langsam nach
Gewalt zu schreien beginnt“. Dazu sei es,
so Hitlers Überlegungen, nicht notwendig
und kaum zielführend, „die Gewalt als sol-
che zu propagieren“. Vielmehr müssten
aktuelle Ereignisse und Entwicklungen so
präsentiert werden, „dass im Gehirn der
breiten Masse des Volkes ganz automa-
tisch allmählich die Überzeugung ausge-
löst werde: wenn man das eben nicht im
Guten abstellen kann, dann muss man es
eben mit Gewalt abstellen; so aber kann
es auf keinen Fall weitergehen“.
Um eine solche Atmosphäre der Dring-
lichkeit zu erzeugen, griff die deutsche
Propaganda auf jene antipolnischen Feind-
bilder zurück, die sich infolge der Frei-
korpskämpfe der Jahre 1919 bis 1921 fest
etabliert hatten. Sie verknüpfte das Feind-
bild der gewalttätigen, grausamen Polen
mit einer Inszenierung der deutschen Min-
derheit als wehrloses Opfer. Zunächst kon-
zentrierte sich die Propaganda noch auf

düstere Warnungen vor polnischer
„Kriegshetze“, „Expansionsgier“ und
„Großmannssucht“, um Polen als die ei-
gentliche Gefahr für den Frieden zu brand-
marken und innerhalb der Bevölkerung
diffuse Bedrohungsgefühle vor einem pol-
nischen Angriffskrieg zu schüren. An die-
se Warnungen knüpfte auch das Haupt-
amt Sicherheitspolizei an: Dort arbeitete
man unter der Leitung von Reinhard Hey-
drich intensiv an der Inszenierung von
„polnischen Grenzzwischenfällen“. Sie
mündeten schließlich in der Nacht vom


  1. August auf den 1. September 1939 im
    angeblichen Überfall „polnischer Insur-
    genten“ auf den „Sender Gleiwitz“, der als
    Rechtfertigung für den Angriff auf Polen
    genommen wurde.
    Ab Juni 1939 lancierte Joseph Goebbels
    eine sich sukzessiv radikalisierende „Greu-
    elpropaganda“, in deren Mittelpunkt das
    Leiden der Volksdeutschen an der extre-
    men Gewaltbereitschaft der Polen stand.
    Im Juni und Juli wurde dieses Mittel noch
    vergleichsweise zurückhaltend eingesetzt:
    Goebbels hatte angeordnet, die konstruier-
    ten Meldungen über Gewalt gegen die
    Volksdeutschen in Polen noch nicht auf
    die Titelblätter der Zeitungen zu heben.
    Vielmehr sollten sie ab der zweiten Seite
    gedruckt werden, um in der Summe den
    Eindruck „unhaltbarer Zustände“ zu evo-
    zieren. Ziel war es, so Goebbels, den „Topf
    bei leichtem Feuer am Kochen halten“. In
    der deutschen Presse erschienen darauf-


hin eine Fülle größerer und kleinerer Mel-
dungen, die – in schriller Tonalität und
mit wilden Übertreibungen – von Boykot-
ten deutscher Geschäfte in Polen, der
Schließung deutscher Kindergärten („Aus-
rottung deutscher Kindergärten“), der
Streichung von Schulausflügen („Polens
ruhmreicher Kampf gegen deutsche Kin-
der“) sowie einzelnen Verhaftungen
durch die polnische Polizei berichteten.
Im August 1939, wenige Wochen vor
dem deutschen Angriff, änderte Goebbels
seine Strategie: „Greuelmeldungen“, so
ordnete er am 10. August 1939 an, sollten
„von heute an groß auf der ersten Seite er-
scheinen“. Es sei jedoch dringend zu be-
achten, dass „Sprache und Aufmachung
noch nicht hundertprozentig“ sein soll-
ten, da „noch eine weitere Steigerung mög-
lich sein“ müsse. Die „Greuelmeldungen“
sollten „keine langatmigen Feuilletons“,
sondern „straff und knapp“ formulierte
„plakative Meldungen“ sein. Von nun an
beherrschten vermeintliche „polnische
Greueltaten“ an Angehörigen der deut-
schen Minderheit täglich die Schlagzeilen.

M


ühelos ließe sich aus den
Titelschlagzeilen des „Völ-
kischen Beobachters“ die
Kernthese der „Greuelpro-
paganda“ komponieren:
Da wurden „Deutsche wie Vieh ver-
schleppt“, waren „volksdeutsche Kinder
auf der Flucht“ vor dem „unerträglichen
Wüten der polnischen Terrorbanden“, die
„Volksdeutsche entmannt und zu Tode ge-
prügelt“ hätten. „Polens Terror wächst
von Tag zu Tag“, meldete die Zeitung, „Po-
len verbrennen Kinder vor den Augen ih-
rer Mütter“, setzten „500 Zloty auf den
Kopf eines jeden Deutschen aus“, so dass
auch eine „hochschwangere Frau und ihr
vierjähriges Kind mit Kolbenschlägen ge-
tötet“ worden seien.
Mit dieser Flut an Fake News, die sich
im Sommer 1939 über der deutschen Be-
völkerung ergoss, sollte der kommende
Krieg als defensive Reaktion auf „polni-
sche Greuel“, als humanitäre Intervention
zugunsten der Volksdeutschen legitimiert
werden. Die massenhafte Gewalt gegen
Polen im September 1939 wurde auch da-
durch vorbereitet, dass die Nationalsozia-
listen sich einer Rhetorik der Menschen-
rechte bedienten, in deren Zentrum das
Leiden der Volksdeutschen an der notori-
schen Gewaltbereitschaft der Polen stand.
In den ersten Tagen nach dem Ein-
marsch der Wehrmacht ist es im Septem-
ber 1939 indes tatsächlich zu gewalttäti-
gen Ausschreitungen gegen Angehörige
der deutschen Minderheit gekommen. Be-
ruhten die „Greuelmeldungen“ im August
1939 im Kern auf freier Erfindung, so
kann kein Zweifel daran bestehen, dass
die Volksdeutschen in der Frühphase des
Krieges zwischen die Fronten geraten wa-
ren und zu Opfern von Gewalt wurden.
Insbesondere in der Provinz Posen und in
Westpreußen kam es zu massiven Über-
griffen auf Angehörige der deutschen Min-
derheit. Im Chaos und in der Panik der ers-
ten Kriegstage verdächtigten polnische Be-
hörden die deutsche Minderheit, eine
„fünfte Kolonne“ Hitlers zu sein, die
durch Spionage, Diversion und Verrat Po-
len in den Rücken fallen würde. Dieser
Verdacht war keineswegs unbegründet:
Der SS- und Polizeiapparat und die Wehr-
macht hatten tatsächlich Angehörige der
deutschen Minderheit für Sabotagetätig-
keiten angeworben.
In der aufgeheizten Atmosphäre gingen
die polnischen Behörden in summari-
schem Verfahren gegen Angehörige der
deutschen Minderheit vor und trafen da-
mit auch und vor allem Unschuldige. Da-
bei verhafteten sie etwa 15 000 Volksdeut-
sche und trieben sie unter chaotischen Be-
dingungen und kaum zureichender Versor-
gung auf Fußmärschen in das Landesinne-
re. Immer wieder kam es zu Übergriffen
durch Wachmannschaften, an denen sich
aber auch die Einwohner vieler Dörfer
und Gemeinden beteiligten, die von den
Marschkolonnen durchquert wurden. Zu
den schlimmsten Ausschreitungen gegen
die deutsche Minderheit kam es in Brom-
berg in Westpolen. Polnische Soldaten
und Angehörige einer Bürgerwehr ermor-
deten dort am 3. und 4. September 1939
Hunderte deutsche Einwohner der Stadt.
Insgesamt dürfte die Zahl der im Septem-
ber 1939 getöteten Volksdeutschen bei
etwa 4500 liegen. Allerdings ist zu berück-
sichtigen, dass nicht alle von ihnen ermor-
det wurden. Manche kamen auch als Ange-
hörige der polnischen Armee oder durch
deutsche Luftangriffe ums Leben.
Die deutsche Propaganda wiederum
nutzte diese gewalttätigen Ausschreitun-
gen für eine weitere Verschärfung des anti-
polnischen Feindbildes, indem sie die
Zahl der ermordeten Volksdeutschen in
grotesker Weise auf 58 000 erhöhte. Diese
Morde an Volksdeutschen waren für die
NS-Führung hilfreich. Sämtliche im Zuge
der „Greuelpropaganda“ erhobenen Vor-
würfe schienen sich zu bestätigen. Daraus
erwuchs die Möglichkeit, jede Form der ei-
genen zukünftigen Gewaltanwendung für
alternativlos zu erklären: Stand man doch
in einer Auseinandersetzung mit „barbari-
schen Untermenschen“, die zuerst selbst
zivilisatorische Grenzen überschritten hät-
ten. „In jede Amts- und Dienststube“, so
kündigte der Generalgouverneur Hans
Frank an, „kommt jetzt ein Bild von er-
mordeten Volksdeutschen, damit jeder Be-
amte ununterbrochen diese Warnung vor
Augen hat: Hüte dich vor der polnischen
Mentalität, denke an die Ermordeten.“ In
diesem Sinne wurde die Anwendung von
massiver Gewalt während des Krieges als
couragierte Verteidigung Wehrloser legiti-
miert: Das, was „polnische Bestien“ volks-
deutschen Männern, Frauen und Kindern
angetan hätten, rechtfertigte aus der Per-
spektive der Nationalsozialisten jegliche
Gewalt gegen Polen, bis hin zu den unzäh-
ligen Massakern an polnischen Zivilisten.

Damit wurde eine Gewaltpraxis legiti-
miert, die bereits auf eine mörderische
Entgrenzung zielte, noch bevor die Wehr-
macht am 1. September 1939 in Polen ein-
gefallen war. Denn bereits im Sommer
1939 stellte Reinhard Heydrich, der Chef
der Sicherheitspolizei, die Einsatzgrup-
pen auf, polizeiliche Spezialformationen,
die im Rücken der Wehrmacht in Polen
einmarschieren sollten, um Angehörige
der polnischen Elite zu ermorden und die
Bildung einer Widerstandsbewegung im
Keim zu ersticken. Um ihre Männer auf
den kommenden Einsatz vorzubereiten,
vermittelten die Kommandeure ihren Ein-
heiten auch den Eindruck, dass es bei dem
bevorstehenden Einsatz darum gehe, eine
humanitäre Katastrophe abzuwenden:
„Es wurde davon gesprochen“, so erinner-
te sich der Polizist Horst W., „dass die
Volksdeutschen im pol. Raum in größter
Gefahr seien und dass der Vormarsch der
Wehrmachtseinheiten ein Wettlauf um
das Leben der Volksdeutschen würde.“
Derart eingestimmt, ermordeten Mit-
glieder der Einsatzgruppen bis Ende 1939
mehr als 40 000 Menschen. Diese Morde
der Formationen des SS- und Polizeiappa-
rates waren integraler Bestandteil der
deutschen Eroberung Polens. Sie galten
als grundlegende Voraussetzung der
Durchsetzung deutscher Herrschaft in Po-
len und waren ein entscheidendes Mittel
zur Etablierung einer nationalsozialisti-
schen Ordnung. An diesen Maßnahmen
beteiligten sich auch Angehörige der deut-
schen Minderheit, die eben nicht nur eine
entscheidende Funktion bei der Legitimie-
rung nationalsozialistischer Gewalt hat-
ten, sondern unmittelbar nach dem deut-
schen Einmarsch ermächtigt wurden, an
der deutschen Besatzungsherrschaft zu
partizipieren.
Insbesondere im „Volksdeutschen Selbst-
schutz“, einer paramilitärischen Einheit,
erhielten die Volksdeutschen weitgehende
Gewaltlizenzen. Eine der Schlüsselfiguren
dieser Miliz, Himmlers Adjutant und Füh-
rer des Selbstschutzes in Westpreußen, Lu-
dolf Alvensleben, erklärte wiederholt, dass
ihm das Frühstück nicht schmecke, wenn
er nicht zuvor 20 Polen „umgelegt“ habe.
Bei Besprechungen mit seinen Mannschaf-
ten, hatte er in der Regel nur eine Frage:
„Wieviel Pollackensind bisher umgelegt?“
Hatten Einheiten in einem bestimmten
Zeitraum aus von Alvenslebens Perspekti-
ve zu wenig Polen erschossen, versuchte
er, die Erschießungszahlen durch das Er-
teilen von Rügen in die Höhe zu treiben.
Nachdem einer seiner Kommandeure in ei-
nem bestimmten Zeitraum keine Erschie-
ßungen durchgeführt hatte, fragte von Al-
vensleben nach dessen Beruf: „Nach mei-
ner Antwort, dass ich Landwirt bin“, so er-
innerte sich der Kommandeur, „meinte
von Alvensleben, dass ich dann wohl
Schweine schlachten könne.“ Laut jünge-
ren Schätzungen ermordeten die Einhei-
ten des „Volksdeutschen Selbstschutzes“
in den ersten Monaten der Besatzung bis
zu 30 000 Menschen.

D


ie Massenmorde in den ersten
Wochen und Monaten der
deutschen Besatzung gaben ei-
nen Vorgeschmack auf die
kommenden Jahre nationalso-
zialistischer Herrschaft. 2078 Tage lang
stürzte die deutsche Besatzung im Zwei-
ten Weltkrieg die polnische Bevölkerung
in eine Welt, die gänzlich anders struktu-
riert war als zu gewöhnlichen Zeiten. Die
Ausübung und das Erleiden von Gewalt
waren unter der deutschen Besatzung
nichts Außergewöhnliches mehr, sondern
alltägliche Phänomene. Diese Allgegen-
wart von Gewalt zerstörte soziales Ver-
trauen, erzeugte eine Atmosphäre um sich
greifender Angst und löste Gefühle des
Ausgeliefertseins aus. „Das nervöse Le-
ben von Tag zu Tag zehrt uns ungemein
aus“, so notierte der polnische Wider-
standskämpfer und Arzt Zygmunt Klu-
kowski in seinem Tagebuch, „ständig Un-
ruhe und Unsicherheit, nicht nur darüber,
was mit uns in einem Monat oder in einer
Woche, sondern sogar, was mit uns in ei-
ner Stunde sein wird. Wir leben in perma-
nenter Angst vor Durchsuchungen, Verhaf-
tungen, Prügeln, der Inhaftierung oder In-
ternierung in irgendeinem entfernten La-
ger, vor der Aussiedlung und natürlich vor
der Erschießung, die angesichts des un-
menschlichen Quälens in den Gefängnis-
sen und Lagern letztlich nicht immer der
schlechteste Ausweg ist.“
Die Bilanz ist erschütternd: Kaum ein
Land wurde von der deutschen Besatzung
härter getroffen als Polen. Von etwa 35
Millionen Menschen in den Landesgren-
zen von 1938 überlebten über vier Millio-
nen die deutsche Herrschaft nicht, dar-
unter drei Millionen Juden. Das bedeutet,
dass an jedem einzelnen Tag der deut-
schen Besatzungsherrschaft im Durch-
schnitt fast 2000 Menschen ihr Leben ver-
loren haben. Bis heute trifft man, wie
Klaus-Michael Mallmann formulierte, in
bestimmten Milieus der bundesrepublika-
nischen Gesellschaft auf die Vorstellung,
die Gewalt der Nationalsozialisten sei
eine nur eine – gelegentlich überzogene –
Reaktion auf die „polnischen Greuel“ an
den Volksdeutschen. So schrieb Ernst Nol-
te 1987: „Der Krieg gegen Polen begann
mit einem tendenziellen Genozid auf pol-
nischer Seite. Ob die deutsche Minderheit
überlebt hätte, wenn der Krieg länger als
drei Wochen gedauert hätte, muss zweifel-
haft erscheinen.“ Dies zeigt die Wirkungs-
macht antipolnischer Feindbilder und das
Bedürfnis, die deutsche Gewaltgeschichte
als defensive Reaktion auf „asiatische Ta-
ten“ zu deuten: Die Mörder, das waren die
anderen.
XXX

Der Verfasser ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am
Lehrstuhl für Neuere und Neueste Geschichte der
RWTH Aachen.

Die Nationalsozialisten haben den Überfall auf Polen mit Berichten


über angebliche Greuel an der deutschen Minderheit in Polen


über Monate propagandistisch vorbereitet. Dabei konnten sie an


ältere antipolnische Feindbilder anknüpfen.


Von Dr. Daniel Brewing


Das Volk soll selbst

nach Gewalt schreien


  1. September 1939:Während deutsche Truppen in Polen einfallen, verbreiten die Zeitungen im Reich Falschnachrichten
    über polnische Angriffe auf deutsches Gebiet. Fotos ullstein bild; epd

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