Süddeutsche Zeitung - 02.09.2019

(John Hannent) #1
Schlechte Zeiten für den Wald: Die Brasilia-
ner roden ihn mit dem Feuer, in Mitteleuro-
pa vernichten Borkenkäfer die Fichte. Ge-
meinhin wird der Klimawandel für die La-
ge des Waldes verantwortlich gemacht.
Doch sind die Ursachen nicht vielschichti-
ger? Der Waldwissenschaftler und Vegeta-
tionshistoriker Hansjörg Küster hat aufge-
schrieben, was Wald überhaupt ist. Sein
Buch „Der Wald“ (C.H. Beck, München
2019 ) ist eher Kulturgeschichtsschreibung
als Naturkunde. Denn der Wald sieht so
aus, wie die Menschen ihn haben wollten.
Sie kultivierten ihn.

SZ: Sie lehren und forschen in Hannover
an einem geobotanischen Institut. Wie be-
urteilen Sie, was sich derzeit in den deut-
schen Wäldern abspielt?
Hansjörg Küster: Man kann das durchaus
als dramatisch bezeichnen. Durch die dau-
erhaft hohen Temperaturen und die Tro-
ckenheit vermehren sich die Borkenkäfer
wie kaum jemals zuvor. Zwei Generationen
pro Jahr sind die Regel, in manchen Gegen-
den gibt es sogar drei Käfergenerationen.
Die fressen dann doppelt oder eben drei-
mal so schnell.

In der aktuellen Ausgabe der Zeitschrift
Wild und Hundist zu lesen, Ende der
1940er-Jahre habe es eine Borkenkäfer-
Plage von ähnlichem Ausmaß gegeben.
Sind die Sorgen übertrieben?
Es stimmt. Wir erleben nicht die erste Bor-
kenkäfer-Plage. Das ist seit Jahrzehnten
zu sehen. Aber die heutige wird durch den
Klimawandel eindeutig verschärft. Der Kä-
fer vermehrt sich nun mal besser, wenn es
warm und trocken ist – und an der Erwär-
mung gibt es keine Zweifel.

Aber ist die Kalamität denn nicht eine Fol-
ge forstlicher, also menschengemachter
Waldkultivierung? Profitieren die Buch-
drucker, wie die vorherrschende Schäd-
lingskäferart heißt, nicht hauptsächlich
von verfehlter Forstwirtschaft?
Die Förster haben einen Fehler gemacht.
Sie haben Monokulturen gepflanzt. Hier
können sich die Käfer wesentlich leichter
ausbreiten. Und dann haben sie noch einen
Fehler gemacht. Sie hätten die Fichten frü-
her ernten müssen. Nicht erst nach hun-
dert, sondern schon 70 Jahren. Jüngere
Bäume sind weniger anfällig.

Das scheint aber keine neue Erkenntnis
zu sein. Warum haben sie die Bäume nicht
früher geerntet?
Die Rahmenbedingungen des Marktes wa-
ren nicht günstig genug. Es lohnte sich
nicht, das Holz zu verkaufen. Abgesehen
davon fehlt es oft an Personal, um die Wäl-
der schnell genug zu durchforsten.

Sie werden es als Wissenschaftler, der
sich mit Wäldern und Forsten befasst,
nicht gern hören, aber wie es aussieht,
sind die Förster an der aktuellen Katastro-
phe zu großen Teilen selbst schuld.
Ein solches Urteil wird der Leistung der
Förster nicht gerecht. Sie haben schließ-
lich erst mal dafür gesorgt, dass wir über-
haupt Wald haben! Bevor sie großflächig
aufgeforstet haben, gab es keinen Wald,
wie wir ihn heute kennen. Wo vor 300 Jah-
ren auf einem Hektar zwei Bäume standen
und das schon als Wald registriert wurde,
stehen heute 2000 Bäume. Sie brauchen
sich nur Landschaftsbilder von Wilhelm
von Kobell anschauen, und Sie werden sich
wundern, wie wenige Bäume darauf zu se-
hen sind.

Das Volkslied „Im Wald, da sind die Räu-
ber“ und das Märchen von „Hänsel und
Gretel“ vermitteln aber ein anderes Bild.
In lichten Wäldern könnte sich kein Räu-
ber verstecken, und Kinder würden sich
kaum verlaufen.
Das täuscht. Weite Teile der heutigen Fich-
tenwälder waren im Mittelalter Ackerland.
In manchen Wäldern im Münchner Osten

sind die Spuren der mittelalterlichen
Ackeranlagen noch gut zu sehen. Es gab
mehr Waldwiesen als Wald, doch die wur-
den eben auch zum Wald gezählt. Wir kön-
nen das leider nicht ganz genau beziffern,
weil nicht dokumentiert wurde, wie viele
Festmeter verarbeitet wurden. Es steht
aber fest, dass die Waldfläche in Mitteleu-
ropa in den letzten 300 Jahren um ein Viel-
faches zunahm. Auch in den letzten sechs,
sieben Jahrzehnten ist die Zahl der Bäume
noch einmal sehr deutlich gestiegen. So
viel Wald wie heute gab es wohl seit den Eis-
zeiten nicht mehr. Nur hat man den Fehler
gemacht, dass beim Aufforsten nur eine
Baumart verwendet wurde.

Mit dem Merkantilismus entdeckten die
Menschen den Wald und das Holz als öko-
nomischen Faktor. Wurde der Beruf des
Försters zum Zweck der Naturausbeu-
tung geschaffen?
So einfach ist das nicht. Schließlich haben
Förster den Begriff der Nachhaltigkeit er-
funden, der heute für die Ökologie so wich-
tig ist. Man wollte nachhaltig Holz erzeu-
gen, weil man es im Bergbau für Schmel-
zen von Erz brauchte. So kam man auf die
Monokulturpflanzungen, im Harz und in
Norwegen zuerst.

Also doch reine Forstökonomie.
Auch durch die Forstwissenschaft hat das
Prinzip der Nachhaltigkeit eine breitere Ba-
sis bekommen. Der Wald dient längst nicht
mehr nur der Nutzung, sondern auch dem
Schutz und der Erholung. Man erinnerte

sich an Horaz und seine Idee des „utile dul-
ci“. Schon im 19. Jahrhundert wollten man-
che Förster einen möglichst schönen Wald.
Man pflanzte Kirsche und Obstbäume an
die Ränder.

Naja, wenn man sich die Waldränder an-
schaut,unterscheiden sie sich in ihrer Mo-
notonie oft kaum von den Rändern der
Maisfelder, nur dass sie höher sind.
Manchmal könnte man freilich noch viel
mehr machen. Dennoch lieben die Deut-
schen ihren Wald. Seit Anfang des 20. Jahr-
hunderts gehen sie in den Wald zum Wan-
dern. Der Schwarzwald und der Harz wur-
den Urlaubsziele. Das kennt man aus Län-
dern wie Großbritannien und Frankreich
nicht. Dort erholen sich die Menschen am
Meer, sie fahren nicht ins Massive Central.
Die Monokultur ist auch fürs Artensterben
verantwortlich – nicht nur bei Insekten.
Wie die Landwirtschaft Arten wie das Reb-
huhn zurückdrängte, ist die Forstwirt-
schaft dafür verantwortlich, dass kaum
noch Birk- und Haselhühner vorkommen.
Birk- und Haselwild bräuchte lichte Wäl-
der. Der Wolf auch. Aber lichte Wälder gibt
es kaum mehr, allenfalls noch auf Truppen-
übungsplätzen. Wenn diese Wälder auch
zuwachsen, bekommen wir ein riesiges
Problem mit dem Wolf.

Warum?
Er wird in die Siedlungen ausweichen. Der
Wolf meidet dichten Wald. Um wieder lich-
te Wälder zu bekommen, müssten wir Men-
schen finden, die sie pflegen, zum Beispiel
Menschen, die wieder Schafe durchtrei-
ben. Die müssten dann aber auch davon le-
ben können. Für die Artenvielfalt, auch
fürs Klima, wäre schon viel ausgerichtet,
wenn die Landwirte wieder mehr Hecken
anlegen würden. Doch es sieht so aus, dass
eher noch mehr bestehende Hecken ver-
nichtet werden.

Haben nicht auch Förster Baumarten wie
Birke, Weide und sogar Buche als Waldun-
kraut bezeichnet und radikal vernichtet?
Diese Vorgehensweise ist passé. Worauf es
bei einem modernen Wald ankommt, ist
Vielfalt, Vielfalt, Vielfalt. Ich hoffe, dass kei-
ner mehr auf Monokulturen setzt.

Angenommen, die Menschen würden sich
darauf verständigen, den Wald nicht

mehr als Wirtschaftsfaktor zu begreifen,
sondern ihn wachsen lassen, wie er will.
Wozu braucht man dann noch Förster?
Wir brauchen wieder mehr Förster, allein
schon, um den Borkenkäferbefall frühzei-
tig zu erkennen und entsprechend zu re-
agieren.

Mit Verlaub, einen Käferbaum erkennen
auch geschulte Waldarbeiter. Braucht es
nicht eher mehr Waldarbeiter, die jetzt
schnell aufräumen?
Die Förster pauschal zu verdammen, wäre
genauso falsch, wie wenn Sie sagen wür-
den: Die Autobauer sind an allem schuld.
Aus meiner Sicht wäre es ein Trugschluss,
die Natur heute wieder sich selbst zu über-
lassen. Der Wald braucht Kultur. Wir kön-
nen nicht alles verwildern lassen.

Warum nicht?
Wir müssen den Wald so gestalten, dass er
weiterhin Nutzen bringt und gleichzeitig
schützt und Erholung bietet. Nachhaltig-
keit im Wald heißt, Ökonomie, Ökologie
und Soziales zu verbinden. Dazu muss
man viel Geld in die Hand nehmen. Was
Förster gemacht haben, ist immer ein Ver-
such gewesen. Und wenn heute Entschei-
dungen getroffen werden, wissen wir erst
nach 70, 80 Jahren, wie gut sie waren.

Die Fichte war in weiten Teilen Deutsch-
lands, in denen sie gepflanzt wurde, nicht
autochthon. Wie man sieht, ist sie nun ge-
scheitert. Welcher Baumart geben Sie die
besten Chancen?
Man muss alles ausprobieren, auch ge-
bietsfremde Arten wie die Douglasie kön-
nen an manchen Orten sehr gut gedeihen.
Nur eins ist sicher: Wieder Monokulturen
anzulegen, wäre ein Fehler.

interview: rudolf neumaier

MEDIAPLAYER


Ein Stromausfall setzt alles auf Null. Auch
das Gehirn von Howard Wakefield, seines
Zeichens verbitterter Vorstadtvater und
misanthropischer Jurist. Vor Langeweile
gelähmt, pendelt er tagein tagaus zwi-
schen Manhattan und der New Yorker Sub-
urb. Der Stromausfall lässt die eingespiel-
te Maschinerie aus dem Takt geraten, Ho-
ward geht einfach nicht nach Hause in sein
steriles, austauschbares Leben. Stattdes-
sen folgt er einem Waschbären, den er in
der finsteren Einfahrt beim Plündern der
Mülltonne überrascht. Er landet auf dem
Dachboden über seiner eigenen Garage.
Es ist nur eine kleine Verwerfung im vor-
städtischen Raum-Zeit-Kontinuum, doch
in „Wakefield“, nach der gleichnamigen
Erzählung, die Nathaniel Hawthorne er-
funden und später E.L. Doctorow neu auf-
geschrieben hat, das Initialmoment für
Howards Flucht. Eine surreale Flucht im
Geiste ist das, denn Howard geht nicht fort,
sondern bleibt auf dem Dachboden. Aus
dem Giebelfenster hat er nämlich einen
perfekten Blick auf das Haus – und seine
Familie. Er entscheidet sich, zu beobach-
ten, wie seine Frau Diana und die Zwillings-
töchter auf sein Fehlen reagieren. Er
scheint der Familie eine Falle zu stellen:
Wie lange brauchen sie, um sein Verschwin-
den zu begreifen, zu akzeptieren und zu
verarbeiten? Ihre Loyalität steht auf dem
Prüfstand, denn er kann sich ja jederzeit
dazu entscheiden, mit einem Tusch wieder
aus der Versenkung aufzutauchen.
Howard Wakefield ist im Selbstzerstö-
rungsmodus und das Publikum ist in sei-
nem Kopf gefangen. Denn Autorin und Re-
gisseurin Robin Swicord, die 2008 für ihr
Drehbuch zu „Der seltsame Fall des Benja-
min Button“ für einen Oscar nominiert
wurde, bleibt nah an Doctorows Kurz-
geschichte, die in Gedankenströmen aus
Howards Perspektive erzählt ist. Darin gibt
er sich als selbstgerechter und missgünsti-
ger Kleingeist, der den Pausenknopf zu sei-
nem Leben gedrückt hält und dem sein Um-
feld herzlich egal ist. Im Voice Over kom-
mentiert er sarkastisch sein Handeln und
blickt auf seine Ehe mit Diana zurück. Wie
er sie seinem besten Kumpel ausgespannt
hat, wie sie ihn nach der Eroberung plötz-
lich langweilte und er trotzdem eine besitz-
ergreifende Eifersucht an den Tag legt. Un-
terdessen vergehen Wochen und Monate,
und aus Howard wird ein eigenbrötleri-
scher Obdachloser, der wie die Waschbä-
ren Essensreste aus der Mülltonne kratzt.
Einen solch sperrigen, ja unsympathi-
schen, Charakter zum Protagonisten zu
machen, verlangt eine gehörige Portion
Selbstvertrauen. Zu schnell wird aus ei-
nem Antihelden ein schnöder Mistkerl. Ro-
bin Swicord gelingt jedoch eine verschrobe-
ne Charakterstudie, die trotz der sehr limi-
tierten Perspektive ironische Distanz ein-
zunehmen vermag. Denn Swicord konter-
kariert und entlarvt Howards Tiraden mit
kleinen Verschiebungen in seinem Verhal-
ten. Als er sich zu Beginn über Dianas sor-
genvolle Anrufe mokiert, bebildert Swi-
cord seine Ausführungen zur ehelichen
Dauerüberwachung mit Howard selbst,
der gemütlich in einem Schaukelstuhl sitzt
und mit einem Feldstecher das Geschehen
in seinem Wohnzimmer beaufsichtigt.


Dieser Howard ist kein angenehmer Zeit-
genosse und Swicord hat das Glück, dass
sie „Breaking Bad“-Star Bryan Cranston
für diese Rolle gewinnen konnte. Denn der
geht im Verfall dieses Unsympathen auf
und haucht ihm dennoch eine gewisse
Menschlichkeit ein. Nach und nach sät er
Selbstzweifel in Howards zuvor sehr selbst-
gefälligem Weltbild. Es wird klar: Er ver-
wechselt seine Überheblichkeit mit Überle-
genheit, ist aber zu arrogant, um zu erwä-
gen, dass er selbst falsch liegen könnte.
Er wird spätestens dann selbst zum Ver-
suchskaninchen seines eigenen Experi-
ments, als die Familie ohne ihn in den ge-
wohnten Sommerurlaub fährt. Denn nun
ist er tatsächlich auf sich selbst zurückge-
worfen und muss auf seine eigenen Schwä-
chen und Laster reagieren. „Ich habe mei-
ne Familie nie verlassen. Ich habe mich ver-
lassen“, stellt er beinahe reumütig fest und
muss hoffen, dass er nicht wie Hawthornes
Wakefield zum „Ausgestoßenen des Uni-
versums“ wird, einer jenen, die es für ein
paar Minuten wagen, aus ihrem Platz im
starren System auszubrechen und dann
nicht mehr zurückkönnen. sofia glasl


Wakefieldist als DVD, Blu-ray und Video on De-
mand erhältlich.


von anke sterneborg

Ü


ber hundert Jahre hinweg schauen
sie uns an, die Menschen der Wei-
marer Republik: Ein Mann in
Arbeitskleidung, mit Schiebermütze und
schwerer, aber locker geschulterter Last.
Ein Industrieller mit ins Leere gehendem
Blick, die Hände zu einer frühen Version
der Merkel-Raute gefügt. Eine junge Frau,
die ihr kritisch blickendes Antlitz auf den
eingeknickten Fingern ihrer Hände ruhen
lässt. Eine ältere Dame mit in sich gekehr-
tem Lächeln unter der schwarzen Hutkap-
pe. Die Belichtungszeiten sind noch recht
lang, den Schnappschuss gibt es noch
nicht. In der Konzentration der Blicke wir-
ken die Männer und Frauen oft streng,
manchmal sogar grimmig.
All dies sind Fotos von August Sander,
der die Menschen des 20. Jahrhunderts
katalogisiert hat, und von Hans G. Caspari-
us, dem als Standfotograf auf den Filmsets
sehr intime, einfühlsame Porträts ge-
lungen sind. Aber auch jede Menge Selbst-
inszenierungen, die in den hypermoder-
nen Photomaton-Automaten entstanden
sind, um die sich damals die Menschen
scharten, von denen auch mal mehrere in
einem Automatengeschäft standen. Mit
sich allein in der Kabine verlieren die Men-
schen ihre Scheu vor dem Apparat, sie wir-
ken frei und ungekünstelt in ihrer teils
hemmungslosen Selbstinszenierung, auch
nach dem Vorbild der bewunderten Film-
stars.

Und dazwischen eine elegante, junge Da-
me, deren finsterer Blick von einem
schwarzen Spitzenschleier verhangen ist.
Verrucht wirkt sie, und ein wenig gefähr-
lich. Sie trägt den bizarren Namen Speedy
Schlichter und war die Muse und das Mo-
del, die Ehefrau und die Domina des Künst-
lers Rudolf Schlichter, der sich für seine
Neigungen schämte und sie in seiner
Kunst sublimierte. In ihrem Blick und ih-
rer Erscheinung verdichtet sich vieles, was
die Zeit ausmacht, die Sorge um die Zu-
kunft in unsicheren Zeiten, die Lust am
Spiel mit den Geschlechterrollen, der
Hang zum Verruchten und Halbseidenen
im pulsierenden Nachtleben der Metropo-
le. Und damit ist man auch schon mitten-
drin in einer Ausstellung, die unter dem Ti-
tel „Kino der Moderne“ den Film der Wei-
marer Republik würdigt, 100 Jahre nach ih-
rer Gründung. Das für die Kunst der klu-
gen Vernetzung bekannte Ausstellungs-
haus der Berliner Kinemathek am Potsda-
mer Platz ist die zweite Station der zusam-
men mit der Bonner Kunst- und Ausstel-
lungshalle der Bundesrepublik Deutsch-
land konzipierten Schau. Nicht einfach nur
ums Kino geht es hier, sondern um die kom-
plexen Wechselwirkungen zwischen einer
sich rasant verändernden Welt und der
noch jungen Kunst des Films, darum wie
sie aufeinander reagieren, sich gegenseitig
inspirieren und beflügeln.
Hungrig verschlingt die junge Kunst al-
les, was ihr unter die Linse kommt, verleibt
sich alles ein, was genauso jung und mo-
dern und ungesichert ist wie sie selber. Sie
ist neugierig auf alles, was in der Welt pas-

siert, in Literatur, Musik, Architektur, Mo-
de und Wissenschaft. Das neue Bauen und
das Design des Bauhauses findet sich in
den Innenausstattungen der Filmwohnun-
gen wieder, die Ideen der Psychoanalyse
tauchen in den stürzenden Kulissen des
„Dr. Caligari“ auf, „Die Geheimnisse einer
Seele“ manifestieren sich in albtraumhaf-
ten Doppelbelichtungen und frenetischen
Schnittfolgen, ebenso wie die Traumata
des Ersten Weltkrieges in „Flucht“ und
„Zuflucht“.
Auf 800 Quadratmetern in drei Etagen
erwacht im Zusammenspiel von Filmaus-
schnitten, Fotos, Modellen, Objekten, Do-
kumenten und den opulenten Szenenbild-
entwürfen und Kostümskizzen aus der
Sammlung der Kinemathek noch einmal
das ungeheure Potenzial, das Deutschland
zwischen den beiden Weltkriegen hatte. Es
sind die letzten Jahre der Unschuld, als in
diesem irren Tanz auf dem Vulkan noch

alles möglich war, bevor nach Hitlers
Machtergreifung alle Hoffnungen im natio-
nalsozialistischen Furor erstickt wurden.
Nicht nur aus historischen, sondern auch
aus sehr aktuellen Gründen lohnt es, über
diese Zeit nachzudenken. Ein kleiner

Raum ist auch der Entstehung der Fernseh-
serie „Babylon Berlin“ gewidmet, die die-
sen zugleich historischen und gegenwärti-
gen Moment in den Babelsberger Filmstu-
dios neu auferstehen lässt.

Die Geschichte des Films der Weimarer
Republik ist auch eine Hommage an die flir-
rende Metropole Berlin, sie ist eine „Sinfo-
nie der Großstadt“ und eine Feier der
„Menschen am Sonntag“. Und eine Emanzi-
pationsgeschichte: Die Haare und die Rock-
säume werden gekappt, Frauen bekom-
men das Wahlrecht, sie senken ihre Blicke
nicht mehr demütig, sondern schauen her-
ausfordernd in die Welt. Mit der neuen Frei-
heit entstehen neue Berufe, neben Stenoty-
pistinnen und Telefonistinnen auch die
„Filmarbeiterinnen“, denen in Berlin ein ei-
genes Kapitel gewidmet ist. 21 weibliche
Filmschaffende werden da vorgestellt, ne-
ben berühmten Stars wie Leni Riefenstahl,
Lotte Reiniger und Thea von Harbou wer-
den vergessene gewürdigt, wie die Doku-
mentarfilmerin Ella Bergmann-Michel,
die sich ihre Kamera auf Empfehlung von
Joris Ivens kaufte, die Drehbuchautorin-
nen Jane Bess und Irma von Cube oder die

Kinobesitzerin und Produzentin Liddy He-
gewald. An einer Hörstation erzählen sie
von ihren Kämpfen und Erfolgen. Immer-
hin rund zehn Prozent der Drehbücher
schrieben damals die Frauen, viele ihrer
Filme sind heute verschollen, mehr noch
als von ihren männlichen Kollegen.
Und Speedy Schlichter? Die war ganz
klassisch vor allem Muse und Modell. Da-
bei aber auch durchaus modern und selbst-
bewusst. In „Tagebuch einer Verlorenen“
kann man sie in einer kleinen Szene als
Schatten von Louise Brooks sehen. Und in
einem Foto sind ihre Beine in den schwar-
zen Schnürstiefeln zu sehen, von denen Ru-
dolf Schlichter besessen war.

Kino der Moderne. Film in der Weimarer Republik,
Museum für Film- und Fernsehen, Berlin. Bis 13.Ok-
tober, Katalog im Sandstein Verlag erschienen,
29 Euro. Infos unter: http://www.deutsche-kinemathek.de

Niedersachsen, August 2019: Ein vom Borkenkäfer zerstörter Fichtenwald.FOTO:DPA

Wo Wolf und Schäfer sich Guten Tag sagen


„Pflanzt vielfältig!“ Der Pflanzenökologe Hansjörg Küster über die Monokultur als Ursache der Waldschäden


Weg des


Waschbären


Bryan Cranston versteckt sich in
„Wakefield“ auf dem Dachboden

Hansjörg Küster, geboren
1956 in Frankfurt am
Main, ist Professor für
Pflanzenökologie am
Institut für Geobotanik
der Leibniz Universität
Hannover.
FOTO: PRIVAT

Die junge Kunst hat Hunger


Die Deutsche Kinemathek würdigt das Kino der Moderne. Die Ausstellung ist auch eine Hommage


an die flirrende Metropole Berlin und zeigt das ungeheuere Potenzial, das Deutschland mal hatte


Es geht um die Wechselwirkung
zwischen einer sich rasant
verändernden Welt und dem Kino

ANZEIGE

Starke Frauenin Schwarz-Weiß: Louise Brooks und Speedy Schlichter in dem Film „Tagebuch einer Verlorenen“ von 1929. FOTO: DEUTSCHE KINEMATHEK; G.W. PABST ARCHIV

10 HF2 (^) FEUILLETON Montag,2. September 2019, Nr. 202 DEFGH
Noch wirkt die Familie intakt, aber der
Wahnsinnnaht. FOTO: KSM

Free download pdf