Süddeutsche Zeitung - 02.09.2019

(John Hannent) #1
von philipp selldorf

I


n Erwartung des nächsten Spiels
nach der Länderspielpause würde
sich für den FC Bayern jetzt dieser ur-
alte Trick der psychologischen Subversi-
on anbieten. Dieses Spiel ist nämlich kein
gewöhnliches Spiel, sondern eines, das
die Fußball-Nation in die Zukunft blicken
lässt, weil vom Ausgang der Partie zwi-
schen RB Leipzig und dem FC Bayern ein
Signal für den Ausgang der ganzen Sai-
son ausgehen könnte. Womöglich mar-
kiert diese Begegnung den Anbruch eines
seit langem geweissagten neuen Zeital-
ters, in dem den altreichen Münchnern
durch die neureichen Leipziger ein zwei-
ter ernstzunehmender Konkurrent ne-
ben Borussia Dortmund entsteht. Und wo-
möglich werden die Münchner daher
gleich mal dafür sorgen wollen, dass es so-
weit längst noch nicht ist.
Es wäre also lediglich typisch, wenn
die Bayern in Kürze nach geübter Art ein
paar Informationen darüber verbreiten
würden, dass sie sich sehr für den derzeit
herausragenden Leipziger Spieler interes-
sieren und dessen baldige Übernahme
planen. Allerdings müssten sich die Bay-
ern dann auch daran erinnern, dass sie
ebenjenem herausragenden Leipziger na-
mens Timo Werner schon in den vergan-
genen Monaten entsprechende Avancen
gemacht haben – dies aber in einer so we-
nig schmeichelhaften Art, dass Werner
seinen Vertrag mit RB Leipzig um drei
Jahre verlängerte, weil er an den eindeuti-
gen Absichten der Münchner zweifeln
musste. Seitdem scheint Werner den Bay-
ern beweisen zu wollen, dass es ein Feh-
ler war, ihn nicht geholt zu haben. Die
drei Tore, die er am Wochenende schoss,
waren gewissermaßen seine Antwort auf
die Hymnen, die eine Woche zuvor auf
den Münchner Kollegen Robert Lewan-
dowski gedichtet worden waren.
Torjäger Werner gegen Torjäger Le-
wandowski, der verlustpunktfreie Her-
ausforderer Leipzig mit dem Winnerty-
pen Julian Nagelsmann gegen den Titel-
champion München mit seiner aufge-
motzten Star-Kollektion – bereits am
vierten Spieltag ergibt sich eine Konfron-
tation, die viel Raum zur Überhöhung bie-
tet. Das klinische Konstrukt RB Leipzig
wird von Kennern zwar schon lange als
potenziell konkurrenzfähiges Gegenmo-
dell zum Münchner Erfolgsprinzip einge-
schätzt, aber dass es jetzt schon so weit
sein könnte, muss trotzdem erst bewie-
sen werden. Die Bundesligavermarkter,
die das neumodische Duell zwischen
dem Retortenriesen und dem Traditions-
giganten anpreisen, könnten von einer
Enttäuschung eingeholt werden, wenn
die Bayern dem Emporkömmling nach
bewährter Spielverderbermanier eine Ab-
fuhr erteilen sollten. Zumal der dritte
Großverein, die angeblich zu höchsten
Hoffnungen berechtigende Borussia aus
Dortmund, an diesem dritten Spieltag ei-
ne unschöne Begegnung mit der Wirklich-
keit hatte. Die Niederlage bei Union Ber-
lin sah nicht aus wie ein gewöhnlicher
Ausrutscher, sondern wie die Bestäti-
gung skeptischer Prognosen, wonach die-
ses Team eine wesentliche Titel-Kompo-
nente vermissen lässt: Das klassische
Hinfahren-und-Weghauen, das gehört of-
fensichtlich nicht zu seinem Repertoire.


von saskia aleythe

Berlin– Es war der letzte Tag im August,
dochSebastian Kehl fühlte wieder den
April. Den Februar, den März, vielleicht
auch den Mai dieses Jahres. Der Chef der Li-
zenzspielerabteilung von Borussia Dort-
mund wähnte sich in einer Vergangenheit,
die sie im Verein längst abgeheftet zu ha-
ben glaubten, verstaut im Aktenordner auf
dem Dachboden im hintersten Eck.
„Ich hatte mir erhofft, dass wir schon
ein Stück weiter sind“, sagte Kehl, neben
ihm die Kabine von Union Berlin, aus der
nach dem 3:1 gegen den BVB die Musik
dröhnte. Die Niederlage gegen den Aufstei-
ger erfüllte Kehl mit Melancholie, und er
sagte: „Das hat mich heute schon an einige
Phasen in der letzten Saison erinnert.“
Für die Köpenicker hingegen war der
letzte Tag im August fast so schön wie je-
ner Tag Ende Mai, als sie den erstmaligen
Aufstieg in die Bundesliga feierten, im Rele-
gationsspiel gegen Stuttgart. Rasenstücke
hatten sie damals mit nach Hause genom-
men, dieses Mal waren es drei Punkte ge-
gen Dortmund. „Die waren nicht budge-
tiert“, sagte Union-Trainer Urs Fischer, wie
Schweizer es eben nüchtern ausdrücken,
„aber es ist schön, dass sie da sind.“
Direkt neben ihm suchte sein Lands-
mann Lucien Favre nach Erklärungen, war-
um seine Dortmunder mit all ihren Ambiti-
onen schon jetzt gestrauchelt waren, beim
Aufsteiger, mit einem verdienten 1:3(1:1).
Sofort landete man tatsächlich wieder in
der Vorsaison, an deren Ende – trotz zwi-
schenzeitlichem Neun-Punkte-Vorsprung

des BVB – der FC Bayern doch wieder die
Meisterschale stemmen durfte. „Wir ha-
ben die Konzentration verloren und die Ge-
duld“, sagte Favre. Oder, in den Worten von
Marco Reus: „Wir haben uns im gesamten
Spiel einfach komplett dumm angestellt.“
Nach 22 Minuten war ein Beben durch
die Alte Försterei gegangen. Unions Mari-
us Bülter hatte einen Eckball von Kapitän
Christian Trimmel im Strafraum dankend
angenommen und mit einem Flachschuss
ins Eck eingenetzt – die Szene wirkte ein-
studiert, die BVB-Abwehr war angesichts
der Laufwege der Unioner überrascht, und
Kehl analysierte später: „Das ist das dritte
Mal in Folge, dass wir in Rückstand gera-
ten. Das darf einer Mannschaft mit so ei-
ner hohen Qualität nicht passieren.“ Auch
Augsburg (am Ende 5:1) und Köln (3:1) hat-
ten gegen den BVB geführt.
Dass die Sommerpause tatsächlich ein
Ende gefunden hat, merkte man nicht je-
dem Dortmunder an. „Es darf uns nicht
passieren, dass wir immer diesen Weckruf
brauchen“, sagte Kehl. Drei Minuten nach
dem Rückstand waren die Dortmunder
hellwach, allerdings nur kurz: Reus schick-
te Sancho, der flankte auf Alcácer, 1:1.
Weckruf? Von wegen. Der Treffer er-
munterte die Dortmunder, die ohne die ver-
letzten Axel Witsel und Thorgan Hazard an-
getreten waren, nicht gerade, weiter kreati-
ve Lösungen zu suchen. Und es begann,
was Union-Trainer Fischer später in klare
Worte packte: „Wir waren eklig. Die Mann-
schaft hat um jeden Zentimeter ge-
kämpft.“ Der BVB schob sich den Ball zu,
Union attackierte. Ein Fernschuss von Juli-

an Weigl landete am Außenpfosten (42.), ei-
nen Schuss von Reus lenkte Union-Keeper
Rafal Gikiewicz am Tor vorbei (45.).
„1:1 ist nicht schlecht in der Halbzeit“,
sagte BVB-Trainer Favre, „ich denke, wir
haben ein wenig gedacht, es wird wie in
Köln in der zweiten Halbzeit.“ Dort hatte
der BVB die Partie durch späte Tore ge-
dreht, nun aber waren es die Berliner, die,
beflügelt durch die flirrende Atmosphäre,
ihre Chancen nutzen. Nach der Pause klär-
te BVB-Verteidiger Manuel Akanji einen ho-

hen Ball direkt in den Lauf von Sebastian
Andersson, der mit seinem Versuch zwar
noch scheiterte – aber den Abpraller nutz-
te wieder Bülter, schon stand es 2:1 (50.) für
Union. Nach dem 0:4-Auftakt gegen Leip-
zig bescherte der Angreifer seiner Elf die
ersten Bundesliga-Heimtore überhaupt.
„Beim 2:1 ist das Stadion explodiert“,
sagte Andersson, der in der 75. Minute sei-
nen eigenen Treffer bejubeln konnte: Wie-
der hatte der BVB einen Eckball nicht gut
verteidigt. „Der letzte Pass war heute oft
nicht gut, wir haben oft sehr schlampig ge-
spielt“, monierte Kehl. Was besonders irri-
tierte, war die Ideenlosigkeit des BVB nach
der Pause. Gepasst wurde nur noch in der
Abwehrreihe oder über die Außenbahnen,
kaum ein Ball landete in der Zentrale. „Wir
haben überhastet gespielt. Es war schwer,
die Tiefe zu finden, weil sie sehr, sehr hoch
waren“, sagte Favre.
Überhaupt war von einem Aufbäumen
der Dortmunder während des Spiels nichts
zu sehen. Favre nutzte eine Trinkpause in
der Mitte der zweiten Halbzeit nicht für ei-
ne Ansprache, er bereitete stattdessen Aus-
wechslungen vor. „Du hast gemerkt, dass
die Berliner heute einen größeren Willen
hatten“, sagte Julian Brandt. Und das ist
vielleicht das Alarmierendste an dieser Nie-
derlage: dass eine Mannschaft, die in die-
ser Saison mit neuer Ernsthaftigkeit und ei-
nem verstärkten Kader um die Titel mit-
spielen will, weniger um einen Sieg kämpft
als ein Aufsteiger mit dem Ziel Klassener-
halt. Für einen Kulturwandel haben die Bo-
russen ein bisschen Zeit – nach der Länder-
spielpause wird Leverkusen erwartet.

Weiterschlummern trotz des Weckrufs


DrittesSpiel, erste Niederlage: Nach dem 1:3 bei Aufsteiger Union Berlin stellt sich der selbsternannte Mitfavorit
Borussia Dortmund ein mieses Zeugnis aus: „Wir haben uns komplett dumm angestellt“

Beim Spiel in Köpenick hat die Berliner
Polizei nach Auseinandersetzungen
zwischen beiden Fanlagern Pfeffer-
spray eingesetzt und dabei wohl einige
Gäste-Fans verletzt. Wie die Polizei am
Sonntag mitteilte, mussten Einsatz-
kräfte die rivalisierenden Fans tren-
nen, nachdem sich ungefähr 100 Union-
Fans auf den Gästeblock zubewegt hat-
ten. Bei den Auseinandersetzungen
wurden drei BVB-Anhänger festge-
nommen. Nach Polizeiangaben ver-
suchten weitere Gästefans, die Festge-
nommenen zu befreien, was die Polizis-
ten durch den Einsatz von Reizgas ver-
hinderten. Die Fanhilfe Dortmund
schrieb auf Twitter, dabei seien mehre-
re Fans verletzt worden. dpa

Gelsenkirchen– Hertha-Trainer Ante Co-
vic sprach diese beiden Sätze mit einer
Selbstverständlichkeit aus, als wären es Al-
lerweltssätze. In Wahrheit handelte es sich
um zwei Tatsachenfeststellungen, wie sie
auf Schalke – jedenfalls nach dem Empfin-
den der Einheimischen – schon seit einem
halben Menschenleben nicht mehr ausge-
sprochen wurden. Der eine Satz lautete:
„Schalke wurde dann immer dominanter.“
Der andere Satz hieß: „Und dann klingelt’s
nochmal.“ Eine dritte Bekanntmachung
von nahezu unglaubhaftem Gehalt wurde
später auf dem Videowürfel angezeigt:
Schalke 04 drei, Hertha BSC null.
Zwar gibt es sicher ein paar Menschen in
Gelsenkirchen, die sich noch daran erin-
nern können, wann Schalke 04 das letzte
Mal ein Heimsieg in der Bundesliga ge-
glückt war. Diese Menschen müssen aber
über das Gedächtnis eines Albert Einstein
verfügen, denn der bis zum Hertha-Spiel
letzte Erfolg der Königsblauen geschah in
einer Zeit, als die Bäume kahl waren und
der Bundestrainer noch im wohlverdien-
ten Winterschlaf ruhte. Am 20. Januar
2019 gewannen sie durch Tore von Daniel
Caligiuri 2:1 gegen Wolfsburg, man schrieb
den 18. Spieltag, und es entstand die irrige
Hoffnung, dass die überaus verflixte Sai-
son doch noch einen versöhnlichen Verlauf
nehmen könnte. Doch abgesehen von ei-
nem Pokalspiel gegen Fortuna Düsseldorf
hat dann kein einziger Gäste-Trainer mehr
wie Ante Covic am Samstag davon berich-
tet, dass die Schalker seine Mannschaft be-
herrscht hätten, weshalb es irgendwann
„geklingelt“ habe, logischerweise.
Der Berliner Trainer hat den Verlauf der
Partie objektiv geschildert, dennoch muss-
ten die Herthaner schon einen wesentli-
chen Teil dazu beitragen, dass auf dem Vi-
deowürfel Treffer für die Hausherren ver-

meldet werden konnten. Die Verteidiger Ni-
klas Stark und Karim Rekik erledigten mit
zwei Eigentoren jenen Teil der Arbeit, mit
dem die Schalker weiterhin ihre Probleme
haben. Schalke hat jetzt wieder eine stabile
Defensivordnung und eine Mannschaft,
die diszipliniert und Mann für Mann das
strategische Konzept verwirklicht. Es gibt
sogar die Ansätze eines organisierten Spiel-
aufbaus, und mit dem wiederentdeckten
Franko-Marokkaner Amine Harit einen
Spieler, der auch den Schöngeistern Freu-
de macht. Aber das Toreschießen fällt den
Schalkern auch nach der beachtlichen Re-
novierung durch den neuen Trainer David
Wagner nicht leichter als in der chaoti-
schen Vorsaison mit dem nach und nach
überforderten Coach Domenico Tedesco.

Während der Nationalspieler Stark gnä-
digerweise eine eher ins Zufällige gerichte-
te Hereingabe von Caligiuri ins Netz beför-
derte (38.), vollendete Rekik einen gegneri-
schen Konter (48.), bei dem Mittelstürmer
Guido Burgstaller vom Laufweg bis zur Fin-
te alles richtiggemacht hatte – mit Ausnah-
me des wichtigsten Kapitels. Ohne Rekiks
Nachhilfe hätte er aus acht Metern Entfer-
nung zwei Meter vorbeigeschossen. Und
das Stöhnen im Stadion wäre ähnlich groß
gewesen wie in jenem Moment kurz vor
der Pause, als der bärtige Österreicher
dem desorientierten Hertha-Kollegen
Stark mitten im Strafraum listig und
höchst geschickt den Ball gestohlen hatte


  • um dann höchst ungeschickt das quasi
    leere Tor zu verfehlen.


Burgstaller ist ein Spieler, der Schalke in
gewisser Weise den Spiegel vorhält. Er be-
sitzt viele gute Eigenschaften, ist eifrig wie
ein Schwerarbeiter und dem Klub mit Hin-
gabe zugetan, wie er just durch den Rück-
zug aus dem Nationalteam belegt hat. Aber
dass er den Status des Stammspielers hat,
offenbart auch, dass dieser große Klub
sportlich relativ klein geworden ist. Bis vor
ein paar Jahren stürmten Männer wie Jef-
ferson Farfán, Raúl, Klaas-Jan Huntelaar,
Julian Draxler oder Leroy Sané für Schal-
ke. Nun ist es Burgstaller, der keine Bril-
lanz, aber immerhin Wagners Spiel-Devise
verkörpert: „Immer angelaufen, immer ge-
bohrt“ hätten seine Spieler, lobte der Trai-
ner, die Eigentore seien „erzwungen“ wor-
den, „weil die Jungs einfach da waren.“
Zum Schluss gab es sogar noch ein ori-
ginäres Schalke-Tor, das erste der Saison.
Auch Jonjoe Kenny, der Schütze des 3:0,
steht stellvertretend für ein Schalke, das
auf dem Weg nach oben wieder ziemlich
tief unten anfangen muss. Kenny, 22, engli-
scher Juniorennationalspieler, ist eine
Leihgabe des FC Everton. Der Rechtsvertei-
diger hat die passenden Eigenschaften,
um ein Publikumsliebling zu werden. Aber
ob es sich Schalke leisten kann, Kenny auf
Dauer einreihen zu dürfen, das hängt von
den finanziellen Möglichkeiten ab, und die-
se werden durch die Hinterlassenschaften
der Vergangenheit arg strapaziert. Wenn
am Dienstag der Transfermarkt schließt,
werden die teuren Profis Nabil Bentaleb
und Jewhen Konopljanka wohl noch das
Budget belasten. Die Bemühungen, ihnen
einen neuen Arbeitgeber zu vermitteln,
blieben bisher vergeblich und haben kaum
noch Aussicht auf Erfolg. Ohne frisches
Geld aber wird es auch keinen neuen Mittel-
stürmer geben, der eine Alternative zu
Burgstaller bietet. philipp selldorf

Es ist selten geworden, dass die Lösungen
vonfrüher im Fußball heute noch gefragt
sind. Der Libero ist ausgestorben, der lan-
ge Ball ist verpönt, und Trainer, die Medi-
zinbälle schleppen lassen, gelten als altmo-
disch. Doch nun scheint, wenn auch in ab-
gewandelter Form, ein Mittel zurückzu-
kommen, das Mannschaften seit Jahrzehn-
ten in Krisenzeiten wählen. „Die Trinkpau-
se war’s“, so hat Kapitän Manuel Neuer das
6:1 des FC Bayern gegen Mainz 05 erklärt.
„Nach einer Trinkpause gönnen sich die
Bayern ein Sixpack gegen Mainz“, schrieb
die Nachrichtenagentur DPA. Auch das
Spiel zwischen Leverkusen und Hoffen-
heim wandelte sich Berichten zufolge nach
einer Trinkpause. Und am zweiten Spiel-
tag begründete Oliver Glasner, Trainer des
VfL Wolfsburg, das 3:0 gegen Hertha BSC
ebenfalls mit den Effekten eines entspre-
chenden Umtrunks.
In der Geschichte des deutschen Fuß-
balls gibt es berühmte Beispiele: Helmut
Rahn legte am Abend nach dem 3:8 bei der
WM 1954 in der Vorrunde gegen Ungarn ei-
ne Trinkpause ein und beendete sie der Le-
gende nach erst im Morgengrauen. Im Fi-
nale schoss er dann die entscheidenden To-
re zum Titel. Auch 1974 stahlen sich die spä-
teren Weltmeister angeblich für Trinkpau-
sen aus dem Trainingslager in Malente da-
von. Dass sich Profis noch immer hie und
da klassische Trinkpausen gönnen, weiß
man, seit ein Voyeur den Verteidiger Mar-
tin Hinteregger im Trainingslager des
FC Augsburg beim Torkeln filmte. „Hier
spricht der Bierkapitän“, sangen die Spie-
ler der deutschen U21 gerade bei der EM.
„Darf ich bitte mal die Bierbäuche sehen?“
Die moderne Trinkpause ist dagegen ei-
ne weitaus gesündere. Für die Bayern fand
sie am Samstag Mitte der ersten Halbzeit
beim Stand von 0:1 statt. Es gab wahr-
scheinlich Wasser und taktische Anweisun-
gen. Es wurde angeblich nicht mal ge-
raucht. sebastian fischer


Marius Bülter breitete die Arme weit aus,
warum auch nicht: Er hätte ja vor Freude
das ganze Stadion umarmen können. Nach
22 Minuten zum ersten Mal, nach 50 Minu-
ten schon wieder, da lief der 26-Jährige er-
neut in Richtung Bank und feierte seinen
Treffer mit den Ersatzspielern von Union
Berlin. Bülter weiß ja selber noch ganz ge-
nau wie das ist: in seinem Sport nicht erste
Wahl zu sein. Erst über Umwege ist er im
reiferen Sportleralter im Profifußball ge-
landet, nun belohnte er sich mit zwei weg-
weisenden Toren gegen den BVB. „Das war
heute mein größtes Spiel“, sagte er: „Ich ha-
be selber nicht damit gerechnet, aber jetzt
ist es ein geiles Gefühl.“
Innerhalb von 15 Monaten hat sich das
Leben von Bülter radikal geändert. Bis
zum Ende der Saison 2017/18 spielte er
noch beim SV Rödinghausen in der Regio-
nalliga West, vierte Liga also, weit weg von
Bundesligapartien. Doch mit 20 Toren
empfahl er sich für höhere Aufgaben und
wurde vom FC Magdeburg verpflichtet, in
diesem Sommer dann vom Zweitliga-Ab-
steiger weiter verliehen an Union Berlin.

„Das ist schwer zu realisieren“, sagte Bül-
ter, als er nach dem 3:1 gegen den BVB vor
den Reportern stand und man ihm anmerk-
te, dass alles ganz schön aufregend ist. Von
Kamera zu Kamera musste er ziehen, mit
zwei Treffern gegen Borussia Dortmund
ist man natürlich der Mann des Abends.
Eine Fußballakademie hat er nie be-
sucht, als er 18 Jahre alt war, sah man bei
Preußen Münster keine Perspektive für
ihn. Bülter konzentrierte sich auf die Schu-
le, machte Abitur und absolvierte schließ-
lich ein Maschinenbau-Studium, kickte ne-
benher bei Rödinghausen. Bei einem Pro-
betraining beim VfL Osnabrück fiel er
durch, Trainer Maik Walpurgis wollte ihn
nicht. Ereignisse, an die Bülter nicht mehr
zurückdenken will. „Ich verschwende dar-
an keine Gedanken, ich bin froh, dass es
jetzt so gekommen ist“, sagte er. Es gehöre
viel Glück dazu, so spät den Sprung ins gro-
ße Geschäft zu schaffen. Aber hart daran
gearbeitet hat er ja.
Als er wegen einer Schambeinentzün-
dung nicht mit der Mannschaft trainieren
konnte, nahm er sich einen privaten Trai-
ner. „Er hat mir geholfen, was die Ernäh-
rung angeht, und er hat mir Trainings-
übungen gezeigt.“ Zehn Kilogramm Mus-
kelmasse hat Bülter angeblich zugelegt,
nun ist er nicht mehr nur torgefährlich,
sondern auch durchsetzungsstark. Seinen
ersten Treffer gegen Dortmund erzielte er
nach einstudierter Ecke, der zweite war ein
feiner Abstauber vor BVB-Torwart Bürki.
In zwei Wochen werde sich niemand an
die Tore erinnern, sagte Bülter, die Mecha-
nismen des Geschäfts seien bekannt. „Ich
fange jetzt nicht an, rumzuspinnen“, fügte
er noch hinzu, er hoffe aber auf weitere Ein-
sätze für Union. Er weiß ja, wie schnell sich
alles ändern kann. saskia aleythe

DEFGH Nr. 202, Montag, 2. September 2019 HMG 23


BUNDESLIGA-TITELKAMPF

Alle Augen


auf Leipzig


„DieTrinkpause


war’s“


Basketball
Das hoch eingeschätzte deutsche
Team verliert zum Auftakt der
WM gegen Frankreich 28

Bayernsport
In der dritten Liga verzeichnet
der FC Bayern II einen
abrupten Leistungsabfall 22

HÄNGENDE SPITZE


Polizei setzt Reizgas


gegen Fans ein


Der Bohrer


Schwerarbeiter Burgstaller ist stilprägend beim 3:0 gegen die Berliner Hertha, dem ersten Schalker Heimsieg seit Januar


Spätzünder


Vor15 Monaten noch Viertligist, jetzt
BVB-Bezwinger: Marius Bülter

In Münster und Osnabrück wurde
das Talent noch nicht erkannt

SPORT


„Es warmein größtes Spiel. Es ist ein megageiles Gefühl“, stellte Marius Bülter fest, Doppel-Torschütze und Zeremonienmeister in der Alten Försterei. FOTO: PAUL ZINKEN/DPA

HEUTE


Schont weder sich noch seine Gegner: Der Schalker Guido Burgstaller gibt nie Ruhe
und erschreckthier Marvin Plattenhardt. FOTO: LARS BARON / GETTY
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