N
ein, das große politische Be-
ben wird dieser Wahlsonntag
zwar erst mal nicht auslösen.
Mit Blick auf die Bundesebe-
ne hat das aber herzlich wenig
zu sagen. Auch wenn es in Sachsen trotz
der dramatischen Verluste der CDU zu ei-
ner von ihr geführten Regierung reicht,
heißt das kaum, dass die verunsicherte
Partei in Berlin wieder das Kreuz breitma-
chen kann. Auch wenn der sozialdemokra-
tische Ministerpräsident in Brandenburg
mithilfe eines weiteren Koalitionspart-
ners die Macht behält, wird die schwer tau-
melnde SPD sich nicht wieder fangen. Vor
allem aber: Auch wenn die AfD in beiden
Bundesländern nicht stärkste Partei ge-
worden ist, so sagt das keineswegs, dass
der rechte Höhenflug beendet ist. Nach
den Wahlen in Brandenburg und Sachsen
zeigt sich noch schärfer als zuvor, dass die
alten, politisch einigermaßen übersichtli-
chen Zeiten endgültig vorbei sind.
CDU und SPD müsste spätestens dieser
Sonntag den Anstoß geben, sich darüber
klar zu werden, was sie künftig sein wol-
len und, wichtiger noch, sein können,
wenn das Label Volkspartei einfach nicht
mehr passt. Sehr klar leuchtet das Ergeb-
nis dieser beiden Landtagswahlen im Os-
ten auch die Tatsache aus, dass die großen
ideologischen Gegenspieler mittlerweile
Grüne und AfD sind; also hier die
Repräsentanten eines städtischen, gebil-
deten, kosmopolitischen Milieus und dort
die Propagandisten des Nationalstaats al-
ter Prägung, die auf Abschottung gegen
Migranten pochen und die Klimakrise zu-
mindest verharmlosen wenn nicht gar
leugnen.
Das grellste Licht wirft dieser Wahl-
sonntag auf den Erfolg der AfD – und da-
mit auf die Frage, wie die demokratischen
Parteien dieser Partei, in der sich etliche
Demokratieverächter, Europafeinde und
Rassisten tummeln, das Wasser abgraben
können. Es bringt, auch das haben die
Wahlen gezeigt, jedenfalls nichts, darauf
zu hoffen, dass ihre zunehmende Radikali-
sierung die AfD nennenswert Wählerstim-
men kostet. Es jagt ihr auch keine Sympa-
thisanten ab, als konservative Partei etwa
eine inhumane Flüchtlingspolitik zu pro-
pagieren oder den Staat als handlungsun-
fähig darzustellen. Das hat zuletzt die CSU
schmerzhaft erfahren. Und so bleibt, ob-
wohl das keineswegs originell ist, den poli-
tischen Konkurrenten der AfD nur, sich
eindeutig von ihr und ihren Inhalten zu
distanzieren, die Leer- und Schwachstel-
len dieser Partei bloßzulegen, und auch ra-
dikal selbstkritisch nach den Ursachen
für den Boom der Rechten zu suchen.
Was nach diesen Wahlen ebenso offen-
sichtlich ist: Bündnisse aus mindestens
drei Partnern werden künftig nicht die
Ausnahme, sondern die Regel bilden. Und
damit wächst die Gefahr, dass Bürger
noch weniger das Gefühl haben, wirklich
zwischen unterschiedlichen Konzepten
wählen zu können. Dem Verdruss, den das
nach sich ziehen würde, können die Partei-
en nur dann etwas entgegensetzen, wenn
sie auch und gerade in Regierungsbünd-
nissen ihre Unterschiede deutlich heraus-
stellen – und konstruktiv streiten.
Aber selbst wenn das geschähe: Es wä-
re nicht genug. Hinzukommen müssten,
mehr als in vergangenen Jahrzehnten, Per-
sönlichkeiten, die den demokratischen
Parteien ein Gesicht geben. Alleine deren
Programmatik war zwar auch früher
nicht genug, um Wähler zu gewinnen.
Aber seitdem politische Bindungen zer-
bröseln und Wählermilieus zerfallen,
spielt eine noch viel größere Rolle als in
vergangenen Zeiten, wer die jeweilige Par-
tei repräsentiert. Ein Beispiel: Dass die
Grünen bei vielen Bürgern derzeit so gut
ankommen, hat längst nicht nur mit ihrer
Klimapolitik, sondern auch mit dem ge-
winnenden Auftreten ihrer beiden Vorsit-
zenden zu tun. Weil es immer riskant ist,
Wohl und Wehe einer Partei an wenige
Menschen zu koppeln, mag man diese Ent-
wicklung bedauern – ignorieren können
vor allem die etablierten Parteien sie
nicht.
Und die große Koalition? Das Ergebnis
der beiden Wahlen im Osten wird wohl je-
ne Sozialdemokraten bestärken, die ohne-
hin auf einen Ausstieg ihrer schwer gebeu-
telten Partei am Ende dieses Jahres hof-
fen. In der CDU wird sich die angeschlage-
ne Vorsitzende Annegret Kramp-Karren-
bauer selbst dann nicht groß stabilisieren
können, wenn ihre Partei weiter die Regie-
rung in Sachsen anführt. Auch das lässt
ein vorzeitiges Ende von Schwarz-Rot nä-
her rücken. Eine Minderheitsregierung
oder Neuwahlen mögen mit Blick auf die
EU-Ratspräsidentschaft, die Deutschland
2020 übernimmt, und in Anbetracht der
sich eintrübenden wirtschaftlichen Lage
keine beruhigende Vorstellung sein. Beun-
ruhigender als die Zukunft der großen Ko-
alition ist allerdings, was dieser Wahlsonn-
tag sonst noch zutage gebracht hat.
Auch Spielfilme dokumentieren die Ver-
änderung der Welt. In den Filmen der Re-
gisseurin Haifaa Al Mansour kann man
sehen, wie sich der Alltag für Frauen in
Saudi-Arabien verändert hat im Verlauf
dieses Jahrzehnts. 2012 lief ihr Debüt,
„Das Mädchen Wadjda“, bei den Filmfest-
spielen in Venedig – da ging es um ein jun-
ges Mädchen, das unbedingt auf der Stra-
ße mit dem Fahrrad fahren will, während
die erwachsenen Frauen auf einen Chauf-
feur angewiesen sind, wenn sie zur Arbeit
müssen oder zum Einkaufen. Am Wochen-
ende hat Haifaa Al Mansour ihren neuen
Film „The Perfect Candidate“ im Wettbe-
werb in Venedig vorgestellt. Diesmal sitzt
die Heldin, Dr. Maryam, selbst am Steuer
ihres Autos, wenn sie ins Krankenhaus
fährt. Auf der Leinwand ist das tatsäch-
lich ein Novum: Erst im vergangenen Jahr
hat Kronprinz Mohammed bin Salman
das Fahrverbot für Frauen aufgehoben.
Maryam, eine junge Ärztin, hat man-
chen Patienten, der sich an eine Frau wie
sie erst noch gewöhnen muss – sie soll bei-
spielsweise einen alten Mann behandeln,
der sich von ihr nicht anfassen lassen will,
obwohl kein anderer Arzt in der Nähe ist
und sein Sohn ihm gut zuredet. In die Lo-
kalpolitik gerät sie nur zufällig: Sie lässt
sich als Kandidatin für die Gemeinderats-
wahl eintragen, weil sie sonst nicht im Rat-
haus vorgelassen würde, um sich über
den Zustand der Straße zu beschweren,
die zum Krankenhaus führt. Dann führt ei-
nes zum anderen, und sie kandidiert wirk-
lich. Vor allem andere Frauen stehen ihr
dabei zur Seite. Sie wollte, so Haifaa Al
Mansour, von weiblicher Solidarität er-
zählen.
Auch die Behörden ermutigen Maryam
zu ihrer Kandidatur. Wenn das im echten
Alltag nicht so wäre, käme das aber wohl
kaum in einem Film aus Saudi-Arabien
vor. Haifaa Al Mansour möchte, dass „The
Perfect Candidate“, wie auch schon „Das
Mädchen Wadjda“, in Saudi-Arabien
selbst gezeigt wird, und sie arbeite, hat sie
in Venedig gesagt, mit den Behörden zu-
sammen, damit der Film die Bedingun-
gen dafür erfüllt. Kontroversen werde es,
wenn der Film läuft, sowieso geben.
Die hat Haifaa Al Mansour in Saudi-
Arabien immer wieder erzeugt, schon mit
ihren ersten Kurzfilmen über Verschleie-
rung. Als politisch will sie sich nicht ver-
standen wissen – das hat sie in Venedig
geantwortet, wenn Journalisten ihr Fra-
gen zum saudischen Regime gestellt ha-
ben. Sie war in den letzten Jahren auch
gar nicht immer in Saudi-Arabien. Ihren
letzten großen Film hat sie in den USA ge-
dreht, „Mary Shelley“, einen Spielfilm
über die Frankenstein-Autorin.
Geboren wurde Haifaa Al Mansour
1974 in Saudi-Arabien, sie hat in Kairo
und in Sydney Literatur und Film stu-
diert. Ihre Eltern, erzählt sie, waren sehr li-
beral, aber sobald sie aus dem Haus ging,
bewegte sie sich in einer anderen Welt.
Das Spannungsfeld zwischen öffentli-
chem und privatem Raum, das in Saudi-
Arabien eine so große Rolle spielt, prägt ih-
re Geschichten und natürlich ihre Arbeit.
„Das Mädchen Wadjda“ hat sie noch aus
dem Inneren eines Lasters heraus insze-
niert, bei allen Außendrehs hat sie dort
vor einem Monitor gesessen und ihre Re-
gieanweisungen mit einem Walkie-Talkie
gegeben – sie hätte sich damals nicht auf
die Straße stellen und einem männlichen
Team Befehle erteilen können.
„Das Mädchen Wadjda“ wurde bei der
Premiere in Venedig als erster Spielfilm
aus Saudi-Arabien bezeichnet, was nicht
richtig ist. Er war der erste Film von einer
Regisseurin, und der erste, den Saudi-Ara-
bien je für die Oscars eingereicht hat. Ge-
dreht wurde vorher auch gelegentlich,
aber zu sehen waren die Filme nur im Aus-
land oder auf DVD. Mehr als dreißig Jahre
lang waren Filmtheater in Saudi-Arabien
verboten, das Kino galt den religiösen
Führern als Unruhestifter. Erst seit 2018
gibt es in einigen Großstädten Kinos.
Demnächst soll erstmals ein Filmfestival
stattfinden. Dort möchte Haifaa Al Man-
sour mit „The Perfect Candidate“ unbe-
dingt dabei sein. susan vahabzadeh
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Zamdorfer Straße 40, 81677 München
A
lles noch mal gut gegangen?
Für einen Moment könnte das
mancher glauben. In Sachsen
liegt die CDU vorne, wie seit
dreißig Jahren. In Branden-
burg ist es knapper ausgegangen, aber
auch hier haben es die Sozialdemokraten
geschafft, in ihrer Hochburg als erste
durchs Ziel zu laufen. Zwei Volksparteien,
zwei Wahlen, zwei Siege im Stammland –
da könnte es glatt Leute geben, die mei-
nen, die Welt sei die Gleiche geblieben.
Nichts aber wäre nach diesen Wahlen
trügerischer, als das für möglich zu hal-
ten. So ziemlich gar nichts wird bleiben
wie bisher. Das beginnt schon bei der Er-
kenntnis, dass in Dresden wie Potsdam Ko-
alitionen anstehen, die es so in beiden Län-
dern noch nie gegeben hat. Das träfe für
ein mögliches schwarz-grün-rotes Kenia-
Bündnis in Sachsen zu; aber auch eine rot-
rot-grüne Regierung in Brandenburg wä-
re für das alte SPD-Land ein Kulturbruch.
Zu unterschiedlich sind die Vorstellungen
über die Zukunft; das gilt für die Kohlere-
gion in der Lausitz, für die Landwirtschaft
und für den Weg zur Rettung des Klimas.
Außerdem haben die Wahlen zwei Sie-
ger hervorgebracht, die dramatisch verlo-
ren haben. CDU und SPD wurden nicht be-
stätigt; die Wähler haben ihnen eine letzte
Warnung zugerufen. Beide haben selbst
dort, wo sie unschlagbar zu sein schienen,
enorm an Bindekraft verloren. Wer sich zu-
dem ansieht, was mit der CDU in Branden-
burg und der SPD in Sachsen passiert ist,
dem sagt das vor allem eines: Politik muss
hier wie dort neu gedacht werden.
So schwer freilich, wie das klingt, muss
es nicht werden – dem Erfolg der AfD zum
Trotz. Deren Gestus, nicht regieren zu wol-
len, führt dazu, dass auch nach dieser
Wahl die Verantwortung bei Union und
SPD, bei Grünen, Liberalen und Linken
liegt – wobei Letztere eine schwere Schlap-
pe verdauen müssen. Trotzdem werden
sie wohl in die Pflicht genommen. Verant-
wortung ist für alle in dieser Lage eine
Last, weil die AfD weiter alles schlechtre-
det, egal, was es sein wird. Aber es ist auch
eine Chance; die Parteien müssen sie nur
annehmen. Nur wer regiert, kann die Lage
im Land zum Besseren wenden.
Wie das gelingen kann, konnten Micha-
el Kretschmer und Dietmar Woidke in den
letzten Tagen studieren. Beide haben um
ihr politisches Überleben gekämpft, und
beide mussten lernen, dass sie kaum vor-
ankamen, solange sie in den klassischen
parteipolitischen Strategien festhingen.
Erst als sie sich von den CDU- und SPD-in-
ternen Debatten lösten, wurde es besser.
Plötzlich waren sie nicht mehr die Spit-
zenkandidaten ihrer Parteien; sie boten
sich selbst an. Dass sie beide am Ende vor-
ne liegen, haben sie sich selbst zu verdan-
ken. Sie gingen und fuhren und reisten
durchs Land als Kümmerer, die sich jeder
Debatte und jeder Kritik stellten. Aus Mi-
nisterpräsidenten wurden Oberbürger-
meister, mit wenig Partei, viel Person und
jeder Menge konkreter Fragen. Das ist es,
was die Wähler goutieren. Und was die bei-
den Politiker am deutlichsten von den
rechten Populisten abgrenzt, die vor al-
lem eines können: alles schlechtmachen.
Neu ist das Phänomen einer Personen-
wahl nicht. Ungewöhnlich ist, dass auch
Kretschmer und Woidke es ein wenig nut-
zen konnten. Der eine ist kein Kurt Bieden-
kopf; der andere kein Matthias Platzeck.
Beide punkten nicht durch Ausstrahlung,
sondern am ehesten durch einen ehrli-
chen, authentischen, manchmal auch
eckig-kauzigen Einsatz.
Genau das könnte eine Vorlage für die
Verhandlungen werden, die bald geführt
werden. Versinken die Gespräche über
künftige Koalitionen in den üblichen Profi-
lierungsversuchen der Parteien, dürfte es
Kretschmer und Woidke (oder einem
Nachfolger) kaum gelingen, der noch mal
erstarkten AfD etwas Erfolgreiches entge-
genzusetzen. Mehr Polizisten und Land-
ärzte, mehr Breitband, kluge Forschungs-
kooperationen und eine bessere Verkehrs-
anbindung – wer den Menschen zugehört
hat, weiß genau, was jede Koalition liefern
muss, egal, wer ihr angehört. Dass diese
Themen mehr an einen kümmernden Bür-
germeister als einen weltreisenden Minis-
terpräsidenten erinnert, ist kein Schaden.
Im Gegenteil. Nicht die Profilierungs-
sehnsucht der Parteien wird Politikern im
Osten wieder Glaubwürdigkeit, Authenti-
zität und am Ende politische Kraft geben.
Diese kommt nur zurück, wenn die Men-
schen spüren, dass sich da jemand nicht
nur für die eigene Zukunft einsetzt. Das
klingt banal und ist doch selten geworden.
Was das für die Zusammensetzung der
Koalitionen bedeutet, ist offen. Sicher ist
nur, dass die Parteien sich mehr küm-
mern, sich mehr erklären und häufiger
auch mutig etwas ausprobieren müssen.
Dann kann im Osten Neues erwachsen.
von kurt kister
E
s heißt, dass ein Ereignis dann Ge-
schichte wird, wenn es keine Da-
beigewesenen mehr gibt, die noch
aus eigener Erinnerung über das Gesche-
hene zu erzählen wissen. In diesem Sinne
ist der Zweite Weltkrieg noch nicht Ge-
schichte, auch wenn in Deutschland und
anderswo die Mehrheit der Menschen kei-
ne Erinnerungen mehr an die blutige ers-
te Hälfte des 20. Jahrhunderts hat.
Die Gedenkfeiern in Polen am Sonntag
haben gezeigt, dass dieser von den Deut-
schen angezettelte Krieg so schnell nicht
Geschichte werden wird. Polen war ein
Hauptziel des expansiven Rassenwahns
der NS-Regierung und ihrer uniformier-
ten Exekutoren. Es sollte als Staat zer-
stört und als Kolonie versklavt werden;
Millionen Juden, Gebildete, Widerständ-
ler und andere Menschen aus Polen wur-
den bis 1945 von Deutschen umgebracht.
Bundespräsident Steinmeier hat gut dar-
an getan, am Sonntag dafür wiederum
um Vergebung zu bitten.
Es ist bitter, dass ausgerechnet am Jah-
restag des Überfalls bei Landtagswahlen
in zwei Bundesländern eine Partei stark
wird, deren Spitzenfunktionäre die deut-
sche Terror-Diktatur für einen Vogel-
schiss in der Geschichte halten oder mit
nationalistischer Arroganz vom „Schuld-
komplex“ schwadronieren. Dieses Mus-
ter des aggressiven Vergessens ist leider
bekannt. Man pflegte es in der alten Bun-
desrepublik mit mythenbeladener Lei-
denschaft (die „saubere“ Wehrmacht;
das Abschieben auf „die“ Nazis). In der
DDR vertrat man den bequemen Stand-
punkt, dass es die Anderen waren, die
dann alle in Westdeutschland lebten und
Politik machten. Sowohl in der DDR als
auch in der BRD gab es übrigens in wei-
ten Kreisen ein Bild von „den“ Polen, das
immer noch auf dem Rassismus der NS-
Zeit sowie der preußischen Arroganz in
den Jahrhunderten davor fußte. Man-
ches davon findet man auch heute noch.
Nein, das alles wird nicht so schnell Ge-
schichte. Dazu trägt bei, dass in etlichen
Ländern Europas die heutige Rolle
Deutschlands auf dem Kontinent immer
auch in einer historischen Dimension ge-
sehen wird. In Polen, aber auch in Grie-
chenland oder Frankreich tun sich viele
Leute schwer damit, dass Deutschland de
facto wieder Führungsnation in Europa
ist.Wenn Berlin die Auffassung vertritt,
und das gerne mit erhobenem Zeigefin-
ger, dass Menschen nicht mit 60 in Rente
gehen sollten, oder eine angemessene Ver-
teilung von Flüchtlingen fordert, dann
stößt das bei vielen Italienern oderTsche-
chen auf eine andere Wahrnehmung, als
wenn dies etwa Paris tut. Es kommt nicht
von ungefähr, dass der Chaos-Populist
Salvini mutmaßt, eine neue Regierung in
Rom wolle Italien an Angela Merkel ver-
kaufen. Populisten leben davon, verbrei-
tete Urteile und Vorurteile zu bedienen.
Gerade weil Nationalbewusstsein,
aber leider auch Nationalismus in Europa
wieder an Boden gewinnen, wird auch in
Zukunft mit Geschichte Politik gemacht
werden. Für die Bundesrepublik bleibt
das Verhalten zwischen gebotenem Ge-
denken und neuerlichen Reparationsfor-
derungen deswegen schwierig. Die Rei-
sen des Bundespräsidenten an Orte deut-
scher Gräueltaten sind wichtig und rich-
tig. Mit Ausnahme der Schweiz hat
Deutschland von 1938 an nun einmal alle
direkten sowie etliche indirekte Nach-
barn angegriffen. Die Erwartung, dies
dürfe heute im gegenseitigen Verhältnis
keine Rolle mehr spielen, können wohl
nur die Nachfahren der Angreifer hegen.
von tomas avenarius
B
rutaler könnte der Widerspruch
kaum sein: Während die USA in Ka-
tar mit den Taliban reden und Wa-
shingtons Chefunterhändler optimistisch
twittert, dass eine Einigung greifbar sei,
überfallen die afghanischen Islamisten
zwei Städte im Norden des Landes. Zuerst
sprengen sich Selbstmordattentäter in die
Luft, dann stürmen Kämpfer Wohnhäu-
ser und Kliniken, es sterben Dutzende Sol-
daten, Polizisten und Zivilisten. Aber was
da in Afghanistan geschieht, ist kein Wi-
derspruch. Es folgt nur der diesen Kon-
flikt kennzeichnenden Logik.
In Kriegen wollen die Gegner vor einem
Waffenstillstand öfters noch einmal Ge-
lände gewinnen: Aus einer Position der
Stärke heraus verhandelt es sich besser.
Vor allem aber, und das ist die afghani-
sche Logik, setzen die Taliban kaum dar-
auf, dass den Treffen in Katar ernsthafte
Friedensgespräche mit der vom Westen
gestützten Regierung in Kabul folgen wer-
den. Die Taliban wollen, dass alle ausländi-
schen Truppen das Land verlassen – da-
nach sehen sie weiter. Im katarischen Do-
ha wird ja auch nur darüber gesprochen,
dass nach fast 18 Jahren ein großer Teil
der fast 14 500 US-Soldaten abzieht, de-
nen die anderen internationalen Truppen
- darunter das Bundeswehr-Kontingent –
zwangsläufig folgen werden. Die Islamis-
ten sollen ihrerseits dafür Sorge tragen,
dass das Land nicht wieder zu dem inter-
nationalen Terror-Basislager wird, das es
vor dem 11. September 2001 für Osama
bin Laden und al Qaida gewesen ist.
Natürlich wird in Doha auch festge-
schrieben werden, dass es rasch zu inner-
afghanischen Friedensgesprächen kom-
men soll. Aber Papier ist in Afghanistan
noch weit geduldiger als andernorts: Vie-
les spricht dafür, dass die Warlords und
Milizenführer sowohl auf Seiten der Tali-
ban als auch auf Seiten der aus den unter-
schiedlichsten Fraktionen zusammenge-
würfelten Regierung sich längst für die
nächste Runde im Bürgerkrieg rüsten.
Schon deshalb ist es Wunschdenken, dass
die Taliban die internationalen Dschi-
hadisten im Land an die Leine nehmen
werden: Sie brauchen die Ausländer als
Fußsoldaten.
Nach einem weitgehenden Abzug der
ausländischen Soldaten stünde das Land
also genau wieder da, wo es vor dem Ein-
marsch der internationalen Koalition
nach den Anschlägen vom 11. September
2001 gestanden hatte – in einem Bürger-
krieg, in dem die ethnischen Gruppen sich
bekämpfen, Steinzeit-Islamisten vom
Schlage der Taliban sich mit eher traditio-
nellen Gruppierungen bekriegen, die Tali-
ban zudem auf ihre noch brutalere Fanati-
ker-Konkurrenz vom „Islamischen Staat“
schießen. Dann würden auch alle Keime
der Zivilgesellschaft, zuallererst die Frau-
enrechte, erstickt werden.
Was in Doha geschieht, dient Donald
Trump. Der US-Präsident ist 2016 auch ge-
wählt worden, weil er versprochen hatte,
die Soldaten heimzuholen aus den Krie-
gen im Orient, die den Wählern in Ohio
oder Tennessee sinnlos erscheinen. Wenn
Trump 2020 wieder gewählt werden will,
muss er jetzt liefern. Dass seine Generäle
sagen, die afghanischen Truppen seien un-
fähig, den Taliban ohne US-Schützenhilfe
entgegenzutreten, interessiert ihn wenig.
Die Aussichten sind also düster. Jeden Tag
sterben zwei Dutzend afghanischer Solda-
ten und Polizisten. Ohne die westlichen
Truppen wird kaum noch ein Afghane für
die Regierung kämpfen wollen. Dann sind
die Taliban bald da, wo sie schon vor 2001
waren: in Kabul.
Er ist der bösartigste und äl-
teste aller Superschurken,
mit denen der Superheld Bat-
man fertigwerden muss.
Schon im ersten „Bat-
man“-Band im Frühjahr 1940 suchte der
Joker Gotham City heim, ein Mörder mit
kreideweißem Gesicht, grünen Haaren
und knallroten, zu einem Dauergrinsen
verzogenen Lippen. An den Tatorten ließ
er Joker-Spielkarten zurück, die das Bild
eines Hofnarren zeigen. Angeblich, so ei-
ne von mehreren Geschichten, rührt sein
Aussehen daher, dass er einst in einen Be-
hälter mit Chemikalien fiel. Dieses Trau-
ma ließ ihn erst richtig böse werden – au-
ßer in den 50er- und 60er-Jahren, als die
Comics Code Authority in den USA nur
vergleichsweise harmlose Figuren in ge-
zeichneten Geschichten erlaubte. In Wirk-
lichkeit ließen sich die „Batman“-Auto-
ren von einem Foto des deutschen Schau-
spielers Conrad Veidt – des deutschen Wi-
derstandshelden aus „Casablanca“ – in-
spirieren, der im Stummfilm „Der Mann,
der lacht“ einen im Gesicht verunstalte-
ten Menschen spielte (der jedoch ein Gu-
ter war). César Romero verkörperte den
Bösewicht im TV, Jack Nicholson im Film,
der Australier Heath Ledger erhielt einen
Oscar für die Schurkenrolle. Und im neu-
esten Film, gerade gezeigt beim Festival
von Venedig, tritt der Joker, gespielt von
Joaquin Phoenix, endgültig aus Batmans
Schatten heraus – in die Titelrolle. jbb
4 HMG (^) MEINUNG Montag,2. September 2019, Nr. 202 DEFGH
SACHSEN UND BRANDENBURG
Im Osten was Neues
von stefan braun
FOTO: THEO WARGO/GETTY
Die AfD wird weiter nur alles
schlechtreden; das ist eine
Chance für die anderen
GEDENKEN IN POLEN
Zukunft der Vergangenheit
AFGHANISTAN
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Der Umbruch
von ferdos forudastan
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Haifaa
Al Mansour
Filmregisseurin
und Pionierin aus
Saudi-Arabien
Besonders in Berlin spürt man,
dass der neue Nationalismus
in Europa an Boden gewinnt
Was in Doha vereinbart wird,
dient vor allem dem Wahlkampf
von Donald Trump
Das vorzeitige Ende der
großen Koalition ist
wahrscheinlicher geworden