Süddeutsche Zeitung - 02.09.2019

(John Hannent) #1
von nico fried

Wieluń– Plötzlich gehen die Lichter aus.
Sirenen dröhnen durch das nächtliche
Wieluń. Es ist 4.40 Uhr am Sonntagmor-
gen – Auftakt zur Gedenkfeier an den deut-
schen Bombenangriff auf die kleine Stadt
im Süden Polens, mit dem vor 80 Jahren
der Zweite Weltkrieg begann. Auf dem
Marktplatz stehen Bürger der Stadt, viele
halten Kerzen in ihren Händen.
Damals brachten die Deutschen Tod,
Zerstörung und Leid. 1200 Menschen star-
ben, allein 32 davon in einem Kranken-
haus, das als Erstes bombardiert wurde, ob-
wohl es mit einem Roten Kreuz auf dem
Dach markiert war. 80 Jahre später ist der
Bundespräsident gekommen. Frank-Wal-
ter Steinmeier macht ein ernstes Gesicht,
er wirkt angespannt, fast unsicher, als er
mit seinem polnischen Amtskollegen An-
drzej Duda die militärische Ehrenformati-
on abschreitet. Doch die Menschen auf
dem Marktplatz begrüßen ihn mit respekt-
vollem Applaus und neugieriger Erwar-
tung. Einige Minuten später wird er sogar
einen besonderen Applaus für eine beson-
dere Geste erhalten.
Gegen eine Hauswand wird ein Film ge-
worfen, eine Animation, die erst das All-
tagsleben in Wieluń vor 80 Jahren zeigt
und dann die deutschen Sturzkampfflug-
zeuge, die Bomben und das Feuer in der
Stadt. An einer Stelle des Films schaut man
direkt in das überdimensionale Gesicht ei-
nes Piloten.

Im neuen Museum der Stadt wird auf ei-
ner Schautafel aus den Erinnerungen des
deutschen Offiziers Wolfgang Paul zitiert,
der nach dem Angriff mit seiner Division
Wieluń inspizierte: Die Soldaten seien
stark beeindruckt gewesen vom Ausmaß
der Zerstörung durch die Bomber. Sie hät-
ten verstanden, dass in diesem Krieg kein
Unterschied zwischen Soldaten und Zivilis-
ten gemacht würde. Sie hätten die rauchen-
den Ruinen, die Trümmer auf dem Markt-
platz und die Leichen auf den Straßen gese-
hen. „Und sie hofften, dass ihren Familien
zu Hause so etwas niemals passieren wür-
de.“
Der polnische Präsident Duda erinnert
in seiner Rede daran, dass die Menschen
im Schlaf überrascht worden seien. 90 Pro-
zent des historischen Zentrums und 70 Pro-
zent aller Gebäude in der Stadt seien

zerstört worden. „Es war ein Terrorakt“,
sagt der Präsident.
Andrzej Duda dankt Steinmeier für sei-
ne Anwesenheit. „Glauben Sie nicht“, sagt
er an die Zuhörer gewandt über den Bun-
despräsidenten, „dass es einfach ist für
ihn, diese Stadt zu besuchen.“ Es sei aber
wichtig, dass er gekommen sei und „sich
der Wahrheit stellt“, auch wenn es nicht
leicht für ihn sei, den Überlebenden und
den Nachkommen der Opfer „in die Augen
zu sehen“.

Steinmeier sagt, es sei vor 80 Jahren ein
Inferno über Wieluń hereingebrochen,
„entfacht von deutschem Rassenwahn
und Vernichtungswillen“. Das sei ein Fanal
gewesen, ein Terrorangriff der deutschen
Luftwaffe „und ein Vorzeichen für alles,
was in den kommenden sechs Jahren kom-
men sollte“. Man nenne es Krieg, „weil wir
um einen Begriff verlegen sind für das
Grauen dieser Jahre“, für einen „wüten-
den, entfesselten Vernichtungswillen“.
Steinmeier dankt für die Einladung, es
sei „ganz und gar nicht selbstverständlich,
dass ein deutscher Bundespräsident heute
hier vor Ihnen stehen darf“. Viel zu weni-
gen Deutschen sei dieser Ort bekannt. Und
damit auch die Geschichten, wie die von Zo-
fia Burchacinska.
Die 90-Jährige begleitet den Bundesprä-
sidenten später durch das Museum der
Stadt, wo sie sich an die Nacht zum 1. Sep-
tember 1939 erinnert. Sie sei von einem
„schrecklichen Heulen“ aufgewacht und
habe erst gedacht, es seien die Kühe. Noch
bevor sie aus dem Bett war, flogen schon
die Scheiben aus den Fenstern. Mit der
Mutter floh sie aus dem Haus. „Es war ein
schrecklicher Anblick. Alles war rot, Bal-
ken flogen durch die Luft.“ Sie überlebte
im Keller eines anderen Hauses.
Als Steinmeier seine Rede hält, kreisen
im schwachen Licht der anbrechenden
Morgendämmerung schwarze Dohlen krei-
schend über dem Marktplatz. Es sei an der
Zeit, dass Wieluń „und andere dem Erdbo-
den gleichgemachte Städte und Dörfer Po-
lens ihren Platz neben anderen Erinne-
rungsorten deutscher Verbrechen finden“,
sagt der Bundespräsident. Für diese Erin-
nerung solle man auch in Berlin neue For-
men finden. Damit unterstützt nun auch er
eine Initiative von 240 Bundestagsabge-
ordneten, unter ihnen Parlamentspräsi-
dent Wolfgang Schäuble, in der Haupt-

stadt ein Denkmal für die Opfer des Krie-
ges gegen Polen zu errichten. Wieluń müs-
se „in unseren Köpfen und in unseren Her-
zen sein“, so Steinmeier.
Die Spur der Barbarei lasse keinen Deut-
schen unberührt, „auch diejenigen nicht,
die die Erinnerung zurückweisen, die vor
der Schmach fliehen in Ablehnung und Ag-
gression“. Wer erkläre, die Schreckensherr-
schaft der Nationalsozialisten über Europa
sei eine Marginalie der deutschen Ge-
schichte, „der richte sich selbst“, so Stein-

meier in Anspielung auf AfD-Parteichef
Alexander Gauland, der statt Marginalie
das Wort Vogelschiss benutzt hatte.
Man nehme „die Verantwortung an, die
unsere Geschichte uns aufgibt“. Auf die
Forderung Polens nach Reparationsleis-
tungen geht Steinmeier nur mit dem Ne-
bensatz ein, man könne Leid „nicht auf-
rechnen“. Präsident Duda hatte erst am
Samstag sogar die Forderung nach einer
konkreten Summe angekündigt. In
Wieluń hatte aber auch er das Thema weg-

gelassen. Mit Blick auf Steinmeiers Besuch
sprach er sogar von „moralischer Wieder-
gutmachung“.
Und dann ist da noch die besondere Ges-
te Steinmeiers. Der Bundespräsident sagt
drei Sätze auf Polnisch: „Ich verneige mich
vor den Opfern des Überfalls auf Wieluń.
Ich verneige mich vor den Opfern der deut-
schen Gewaltherrschaft. Und ich bitte um
Vergebung.“ I proszę o przebaczenie, lautet
der dritte Satz. Die Zuhörer antworten
Steinmeier mit freundlichem Applaus.

Tel Aviv/Beirut– Die Lage an Israels
Grenze zum Libanon ist am Sonntag
gefährlich eskaliert. Die schiitische
Hisbollah-Miliz feuerte nach eigenen
Angaben auf ein israelisches Militär-
fahrzeug bei der Ortschaft Avivim. Das
Fahrzeug sei zerstört, die Insassen sei-
en verletzt oder getötet worden, behaup-
tete die Hisbollah. Der Angriff sei eine
Vergeltung für den Tod zweier Hisbol-
lah-Kämpfer durch einen israelischen
Angriff in Syrien. Israels Armee bestätig-
te zwar, dass aus dem Libanon mehrere
Panzerabwehrraketen in Richtung des
Grenzorts Avivim abgefeuert worden


seien; ein Feldlazarett und ein Militär-
posten seien getroffen worden, aber es
habe keine Toten gegeben. Das israeli-
sche Militär erwiderte das Feuer, laut
Sprecher Jonathan Conricus wurden
rund 100 Artillerieschüsse abgegeben
(FOTO: DFLK). Israelische Ortschaften ent-
lang der Grenze wurden angewiesen,
Schutzbunker zu öffnen. Zu dem Zwi-
schenfall kam es nur zwei Wochen vor
Israels Parlamentswahl. sz
München– Während die Taliban in Afgha-
nistan am Wochenende massive Angriffe
geführt haben, stehen offenbar die Gesprä-
che der USA mit den Radikalislamisten
kurz vor einem Abschluss. „Wir stehen an
der Schwelle eines Abkommens“, teilte der
US-Chefunterhändler Zalmay Khalilzad
am Sonntag über Twitter mit. Das Abkom-
men solle die Gewalt im Land reduzieren
und den Afghanen die Möglichkeit geben,
gemeinsam über einen „ehrenwerten und
nachhaltigen Frieden und ein einheitli-
ches, souveränes Afghanistan zu verhan-
deln“, das keine anderen Länder bedrohe,
so Khalilzad nach der neunten Runde der
in Doha geführten Gespräche. Er wolle
nach einem Abkommen zunächst noch
8600 amerikanische Soldaten in Afghanis-
tan belassen, hatte US-Präsident Donald
Trump vergangene Woche gesagt. Die Tali-
ban kontrollieren rund die Hälfte Afghanis-
tans und sind so stark wie seit 2001 nicht
mehr, als sie durch die US-Invasion ge-
stürzt wurden.


Sie haben nach schweren Attacken auf
Kundus am Samstag in der Nacht zum
Sonntag eine weitere Stadt angegriffen. Im
Lauf des Tages hielten die Gefechte in der
Provinzhauptstadt Pul-i-Khumri an, sagte
der Polizeichef der Provinz Baghlan der
Agentur AP. Wie viele Menschen bei den
Kämpfen umgekommen sind, war zu-
nächst nicht bekannt. „Die Taliban sind in
Wohngebieten und kämpfen mit afghani-
schen Sicherheitskräften“, berichtete Saf-
dar Mohsini, der Chef des Provinzrats.
„Wir brauchen Verstärkung, die so bald
wie möglich eintrifft, sonst wird die Lage
sich von schlecht zu schlechter entwi-
ckeln“. Ein anderer Provinzrat sagte am
Sonntag, an einem Kontrollposten kämpf-
ten 30 bis 40 Polizisten gegen den Taliban-
Ansturm. Sollte die Regierung in Kabul
nicht handeln, erwarte er eine „Katastro-
phe“. Pul-i-Khumri liegt ungefähr 230 Kilo-
meter nördlich von Kabul und hat 220 000
Einwohner.
Am Vortag hatten mehrere Hundert Tali-
ban Kundus im Norden angegriffen, eine
der größten Städte Afghanistans. Dabei
wurden mindestens 25 Menschen getötet
und mindestens 85 verletzt, 58 Taliban-
Kämpfer kamen laut Innenministerium
um. Der Großangriff der Extremisten sei
aber zurückgeschlagen worden, sagte Af-

ghanistans Verteidigungsminister Asadul-
lah Khalid. Während die Gefechte in vielen
Teilen der Stadt im Gange waren, zündete
an einer Straßenkreuzung von Kundus zu-
dem ein Selbstmordattentäter Spreng-
stoff, den er am Körper trug. Bei der Explo-
sion wurde der Polizeichef der Stadt ver-
wundet, Sicherheitskräfte und Journalis-
ten seien getötet worden. Ein örtlicher
Fernsehsender meldete, mindestens zehn
Menschen seien umgekommen. Per Twit-
ter beanspruchten die Taliban auch diesen
Anschlag für sich.
Bei den Kämpfen in der Nacht zum
Samstag hatten die Taliban vorüberge-
hend mehrere Einrichtungen und Gebiete
in der Stadt eingenommen, darunter das
Provinzkrankenhaus, die Elektrizitätszen-
trale und einen Polizeibezirk. Später hat-
ten sie sich in Häusern verschanzt und Ge-
fechte mit Sicherheitskräften geliefert.
Der Abgeordnete Allah Nasar Turkmani
aus Kundus sagte am Sonntag nach dpa-
Berichten, die Taliban hätten sich über
Nacht zurückgezogen. Es gebe keine Kämp-
fe mehr, Geschäfte seien wieder geöffnet.
Nahe Kundus sind rund 80 Bundeswehrsol-
daten als Berater stationiert. Wie das Ein-
satzführungskommando in Potsdam mit-
teilte, wurde auch das Bundeswehr-Lager
Pamir beschossen, aber niemand verletzt.
Es wird davon ausgegangen, dass die Ta-
liban mit den Angriffen ihre Verhandlungs-
position gegenüber den USA stärken wol-
len. Der amerikanische Unterhändler Kha-
lilzad teilte mit, er werde nach Kabul rei-
sen, um in der afghanischen Hauptstadt
die Regierung über die Gespräche zu unter-
richten. Auch ein Taliban-Sprecher in Do-
ha schrieb auf Twitter, man stehe kurz vor
dem „Ende der Besatzung“ und vor einer
friedlichen Lösung.
Die Gespräche der USA mit Taliban-Ver-
tretern begannen im Juli 2018, sie drehen
sich um Truppenabzüge und Garantien
der Taliban, Afghanistan nicht zu einem
Rückzugsgebiet für Terroristen zu ma-
chen. Die Verhandlungen sollen inneraf-
ghanische Friedensgespräche ermögli-
chen, um den 18 Jahre dauernden Konflikt
mit den Taliban zu lösen. Bisher haben sich
diese geweigert, direkt mit der Regierung
in Kabul zu sprechen, sie betrachten sie als
Marionette des Westens. Die Radikalisla-
misten fordern den kompletten Abzug al-
ler ausländischen Soldaten. Nach dem offi-
ziellen Ende ihrer Kampfmission 2014
sind noch rund 20000 Soldaten der USA
und anderer Nato-Staaten in Afghanistan.
Dort sollen am 28. September Präsident-
schaftswahlen stattfinden. bac Seite 4

Rom– Es gibt jetzt ein schönes, perfekt
komponiertes Foto von Giuseppe Conte,
das ihn in der Galleria Deti zeigt, seinem
Büro im Palazzo Chigi, dem römischen
Amtssitz italienischer Premiers. Conte
stützt sich, stehend und vornübergebeugt,
mit seiner linken Hand auf den Schreib-
tisch, die rechte Hand sieht man nicht, sie
ist versteckt hinter einem Stapel Dokumen-
ten. Auf dem Tisch steht auch eine Wasser-
flasche, so gedreht, dass man das Etikett
nicht erkennt. Wahrscheinlich unter-
schreibt er gerade eine Programm-Eini-
gung zwischen den Cinque Stelle und den
Sozialdemokraten, so jedenfalls soll es aus-
sehen. Und über allem wölbt sich die präch-
tige, mit Frisen und vergoldeter Stuckatur
verzierte Decke des ganz in Gelb gehalte-
nen Saals. Conte und seinem Mitarbeiter-
stab ist offensichtlich sehr daran gelegen,
dass die Italiener nicht denken, die neuen
Koalitionäre stritten sich ja doch nur wie-
der um Posten.

Im Poker um die Zukunft Italiens be-
ginnt nun die entscheidende Woche. Bis
spätestens Mittwoch soll Conte, der vor ei-
nigen Tagen den Regierungsauftrag er-
hielt und „unter Vorbehalt“ annahm, wie
das üblich ist, dem Staatspräsidenten eine
Liste mit den Namen seines neuen Kabi-
netts vorlegen, der Regierung Conte II. Dar-
in sollen Minister von den Fünf Sternen,
dem Partito Democratico (PD) und wahr-
scheinlich einige parteilose Experten sit-
zen. Staatspräsident Sergio Mattarella
kann Namen nach Belieben streichen und
neue Vorschläge fordern, so steht es in der
Verfassung. Wenn das Team dann mal
steht, wird sich Conte in beiden Parla-
mentskammern präsentieren, das neue Re-
gierungsprogramm erläutern und die Ver-
trauensfrage stellen. Wahrscheinlich wird
das Ende dieser Woche sein.
Zumindest ist das der Plan, jener Contes
und Mattarellas, beide haben es eilig. Doch
mit Plänen ist das so eine Sache in der italie-
nischen Politik: Neuerdings werden sie
noch wilder durcheinander gewirbelt als
früher. In Wahrheit kontrastiert die Be-
schaulichkeit im Arbeitsstudio des Premi-
ers krass mit den vielen Wirren, die dessen
Bemühungen um eine neue Regierung um-
wehen. Besonders groß ist die Zerrissen-
heit bei den Cinque Stelle. Luigi Di Maio,
ihr „politischer Chef“ und Vizepremier,

möchte ganz gerne weiterregieren. Doch
fürchtet er, in der Regierung Conte II zu-
rückgestuft zu werden.
Man schiebt ihm die ganze Schuld für
den Gunstverfall der Partei zu, die sich
dem bisherigen Alliierten, Matteo Salvini
von der rechten Lega, unterworfen hatte.
Die Cinque Stelle fielen von fast 33 Prozent
bei den Parlamentswahlen 2018 auf 17 Pro-
zent bei den Europawahlen 2019. Am Frei-
tag drohte Di Maio, alles platzen zu lassen,
wenn die Sozialdemokraten nicht jeden
einzelnen Programmpunkt der Sterne re-
spektierten. Gemeint war auch, dass er Vi-
zepremier bleiben würde. Die Börse re-
agierte nervös, der Risikoaufschlag auf Ita-
liens Staatsanleihen stieg sofort wieder.
Conte soll sich fürchterlich geärgert ha-
ben über das Solo, er hielt es für einen Sabo-
tageversuch. Der süditalienische Rechts-
professor ist nun die beste Karte der Par-
tei. Er gehört ihr zwar nicht an, doch sie hat
ihn offiziell zu ihrem Frontmann erklärt.
Conte ist so populär, dass die Fünf Sterne
in den Umfragen nun plötzlich wieder
wachsen. Laut einer neuen Erhebung des
Corriere della Seramachte die Bewegung
in den vergangenen Wochen einen Sprung
um sieben Prozentpunkte auf nun 25.
Dank Conte. Zusammen mit dem ebenfalls
wachsenden PD sind die beiden Koalitionä-
re erstmals seit langer Zeit stärker als die
gesamte Rechte mit Salvinis Lega im Zen-
trum, die stark an Boden einbüßt.
Die ZeitungIl Fatto Quotidian, Lieblings-
lektüre der Sterne, fragt deshalb in ihrem

Kommentar am Sonntag: „Was will Di
Maio denn noch mehr?“ Er möge die „Rülp-
serei“ doch Salvini überlassen, so deutlich
war das Blatt noch nie. Auch Beppe Grillo,
der Gründer und so genannter „Garant“
der Partei, meldete sich am Wochenende
wieder mit einem seiner furiosen Monolo-
ge. Er wünsche sich mehr „Euphorie“, sag-
te er, man habe da eine „einmalige Chan-
ce“, die Zeit zu prägen, neue Visionen zu
entwickeln. Dieses Geschacher um Posten
aber sei ihm ein Graus. Gemeint war vor al-
lem Di Maio.
In den kommenden Stunden will die Par-
tei nun einen Teil ihrer Basis fragen, ob sie
mit dieser neuen Regierung einverstanden
sei – und zwar online, auf der privaten In-
ternetplattform „Rousseau“. Das Register
zählt etwa 115 000 eingeschriebene Mitglie-
der, die immer mal wieder zu wichtigen An-
gelegenheiten befragt werden. Wie genau,
ist nicht so klar. Di Maio verkündete, die
Meinung der Basis sei bindend; sei sie dage-
gen, gebe es keine neue Regierung. Ent-
scheidend wird wahrscheinlich sein, wie
die Parteiführung die Frage formuliert:
Kreist sie ganz um Conte, den neuen Star
der Sterne, ist die Aussicht auf ein Ja grö-
ßer, als wenn darin der Partito Democrati-
co, die alte Nemesis, namentlich genannt
wird.
Von Giuseppe Conte heißt es, er habe in
den vergangenen Tagen einmal gefragt:
„Muss diese Umfrage wirklich sein?“ So
richtig gelassen ist noch niemand in dem
neuen Bündnis. oliver meiler

München– Jeder fünfte Asylbewerber
ist ein in Deutschland geborener Säug-
ling. Das geht aus Zahlen hervor, mit
denen das Bundesinnenministerium
eine Anfrage der linken Bundestagsab-
geordneten Ulla Jelpke beantwortete.
Demnach gingen in den ersten sechs
Monaten dieses Jahres 73 000 Asylerst-
anträge ein – davon waren 15 586 im
Namen von Kindern im Alter bis zu
einem Jahr gestellt, die in Deutschland
geboren wurden. Im Gesamtjahr 2018
betrafen von insgesamt 162 000 Asyl-
erstanträgen 32 300 in Deutschland
geborene Säuglinge. Dagegen kamen
im ersten Halbjahr 2019 nur 14 000
Angehörige von anerkannten Flüchtlin-
gen ins Land. Obwohl inzwischen auch
Ehegatten und Kindern von Flüchtlin-
gen mit eingeschränktem Schutzstatus
wieder der Familiennachzug erlaubt
wurde, ist das ein Rückgang gegenüber
dem Vorjahr, als 33000 Angehörige
einreisten. Nicht erfüllt hat Deutsch-
land den Zahlen zufolge seine Zusage
von Anfang 2018, 10 000 Flüchtlinge
direkt aus den Lagern des Nahen Osten
ins Land zu holen – weniger als die
Hälfte davon sind bisher im Resettle-
ment-Verfahren eingereist. „Die Zahlen
zeigen: Es ist höchste Zeit, den Panikmo-
dus in der Asylpolitik zu verlassen“,
sagte Jelpke und forderte „mehr Huma-
nität mit Geflüchteten“. jbb


Bei der Gedenkfeier in Wieluń erinnerte Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier an das „Menschheitsverbrechen“, das
von Deutschen begangen wurde. FOTO: CZAREK SOKOLOWSKI/AP

Moskau– Am Samstag haben sich
erneut Tausende Menschen in der Mos-
kauer Innenstadt versammelt. Anders
als bei früheren ungenehmigten Protes-
ten ließ die Polizei sie unbehelligt über
den Boulevardring spazieren. Erst am
Puschkin-Platz versperrte sie den De-
monstrierenden den Weg. Unter denen,
die zum Protest aufgerufen hatten, war
Ljubow Sobol. Die 31-jährige Juristin
gehört zu den Oppositionspolitikern,
die nicht zur Wahl für das Stadtparla-
ment am kommenden Sonntag zugelas-
sen wurden. Vor sechs Wochen zog sie
gemeinsam mit anderen abgelehnten
Kandidaten sowie Hunderten Unterstüt-
zern zum ersten Mal gegen unfreie
Wahlen vor das Rathaus. In den folgen-
den Wochen hatte die Polizei mehrere
Tausend Menschen bei Demonstratio-
nen festgenommen. Inzwischen gehen
die Moskauer daher längst auch für
Meinungsfreiheit und gegen Polizeige-
walt auf die Straße. „Die wichtigste
Forderung ist die Freilassung politi-
scher Gefangener“, sagte Sobol.sibi


Berlin– Die Grünen-Fraktion im Bun-
destag fordert, die Ganztagsbetreuung
an Grundschulen deutlich auszubauen.
Die Autorinnen eines entsprechenden
Papiers, die Abgeordneten Katja Dör-
ner, Margit Stumpp, Britta Haßelmann,
Corinna Rüffer und Ekin Deligöz, ste-
hen mit dieser Forderung zwar nicht
allein da – eine bessere Betreuung in
den Schulen fordern die Familienpoliti-
ker so gut wie aller Parteien. Die Grup-
pe aber will dezidiert einen Rechtsan-
spruch auf mindestens acht Stunden
Betreuung, was deutlich über den Koali-
tionsvertrag von Union und SPD hinaus-
geht. Dort ist lediglich von einem unspe-
zifischen „Rechtsanspruch auf Ganz-
tagsbetreuung im Grundschulalter“ die
Rede, der zudem erst 2025 kommen
soll. Die Fachpolitikerinnen der Grünen
verlangen zudem einen bedarfsunab-
hängigen Betreuungsanspruch, also
nicht nur für beruflich eingespannte
Eltern. Zudem soll die Betreuung auch
behinderten Kindern offenstehen. Die
Personal-, Betriebs- und Investitions-
kosten müssten „fair zwischen Bund,
Ländern und Kommunen aufgeteilt
werden“. rike


Krieg und Friedensworte


Afghanische Taliban-Offensive begleitet Gespräche mit den USA


Solo unter den Sternen


Der bisherige Vizepremier der Cinque Stelle gefährdet die Regierungsbildung in Italien


6 HMG (^) POLITIK Montag, 2. September 2019, Nr. 202 DEFGH
Applaus für
eine besondere Geste
Am 80. Jahrestag des Angriffs, mit dem der Zweite Weltkrieg
begann, bittet Bundespräsident Steinmeier die Polen um
Vergebung für die deutsche Gewaltherrschaft – auf Polnisch
Säuglinge als Asylbewerber
Ein Taliban-Sprecher schrieb auf
Twitter, man stehe kurz vor
dem „Ende der Besatzung“
Um auch in einer Koalition mit Sozialdemokraten Vizepremier zu werden, drohte
LuigiDi Maio von den Fünf Sternen, alles platzen zu lassen. FOTO:ANDREA PANEGROSSI/DPA
Im Alleingang stellt Di Maio
den Sozialdemokraten Ultimaten,
und seine Partei ist zerrissen
Polizei lässt Proteste zu
Israel aus Libanon beschossen
Ruf nach Ganztagsbetreuung
KURZ GEMELDET
Der polnische Präsident Duda
zollt SteinmeierRespekt
für seinen Besuch in Wieluń
Der Bundespräsident fordert, in
Berlin ein Denkmal für die Opfer
des Krieges gegen Polen zu bauen

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