Der Stern - 22.08.2019

(Tuis.) #1
FOTOS: UNIVERSAL IMAGES GROUP/GETTY IMAGES; BIOSPHOTO; NATURE IN STOCK

A


n manchen Tagen sieht das Land
aus, als hätte es jemand in Watte
verpackt. Wenn Nebel aufzieht in
der Arktis, verblassen die Kontu-
ren, die spitzen Ecken, die harten
Kanten, und alles löst sich auf: die
bunten Holzhäuser von Ilulissat und die
Hügel dahinter, die Boote im Hafen und die
Stege. Und die Eisberge draußen auf dem
Meer wirken dann für kurze Zeit so sche-
menhaft, als wären sie überhaupt nicht da,
als hätte man sie sich bloß eingebildet.
In solchen Stunden verschwindet auch
das gleißende Licht, das es sonst selbst in
die hintersten Winkel schafft, sich hinter
die Gläser der Sonnenbrille mogelt und
zwischen die schmalen Ritzen der Fenster-
vorhänge im Hotel.
Sommer in Grönland sind hell, es wird
niemals dunkel oder auch nur dämmrig.
Statt zu versinken, holt die Sonne kurz vor
dem Horizont erneut Schwung und geht
wieder auf, ohne zuvor untergegangen zu
sein. Wenn morgens aber Nebel aufzieht,
verschwimmt die Sonne, und ein diffuser,
orangefarbener Schimmer legt sich über
das Land.
Grönland ist einer jener Orte, an denen
man sich fühlt, als wäre man nicht mehr

auf dieser Welt. Schon beim Anflug auf die
größte Insel der Erde beschleicht einen ein
merkwürdiges Gefühl, weil man unter sich
bloß Eis sieht, eine Ewigkeit lang scheint
das so zu gehen. Dort, wo das Eis aufhört,
beginnt beinahe augenblicklich das Was-
ser, und das auf dem schmalen Streifen
dazwischen: Das ist das Grönland, das be-
reist werden kann. Mehr als 80 Prozent der
Landesfläche liegen unter einem gefrore-
nen Panzer, von dem es vor einigen Jahren
noch hieß, er würde ewig währen. Platz für
den Menschen ist lediglich an den Rän-
dern. In Kangerlussuaq zum Beispiel.

Moschusochsen auf dem Golfplatz
Bis vor einigen Jahren war der Ort an
der Westküste nicht viel mehr als eine
Ansammlung von Häusern, Hallen und
einem sandigen Golfplatz, den sich
Spieler heute mit Moschusochsen teilen
müssen. Mittlerweile aber hat sich in
diesem Teil Grönlands eine touristische
Infrastruktur entwickelt. Hotels und
Hostels, Touranbieter und Taxifahrer be-
dienen nicht mehr nur betuchte Kreuz-
fahrtpassagiere, sondern auch „Lonely
Planet“-Leser und Insta gram-Influencer,
die vor spektakulärer Kulisse mit Selfie-

Täglich verliert
Grönland etwa eine
Milliarde Tonnen Eis,
einen Teil davon
im Westen (o.).
Das Geburtshaus
des Forschers Knud
Rasmussen in
Ilulissat ist heute
ein Museum (u.)

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REISE

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