FOTOS: PAUL HARRIS/PLAINPICTURE; ANTOINE LORGNIER/ONLYWORLD.NET; ANDREW REVKIN/REDUX/LAIF
ihre Passagiere genügend Fotos gemacht
haben, zeigen sie ihnen auf der Landkarte,
wie weit sich der Gletscher in den vergan-
genen Jahren zurückgezogen hat. Auf dem
Papier geht es bloß um wenige Zentimeter.
In der Realität sind es Kilometer.
Kartoffeln und Erdbeeren
Nun haben die Grönländer schon immer
das Beste aus ihrer Situation gemacht. So
wie sie mit dem Eis gelebt haben, versu-
chen sie heute, sich an die neuen Bedin-
gungen anzupassen. Weiter südlich auf der
Insel, wo ein Großteil der insgesamt nur
56 000 Bewohner zu Hause ist, werden
längst erfolgreich Kartoffeln angebaut. In
den vergangenen Jahren kamen Tomaten,
Sellerie, Gurken und Karotten hinzu. Selbst
mit Erdbeeren wird experimentiert, und
der Eisbergsalat gedeiht prächtig. Küchen-
chefs wie Casper Malcow (in Ilulissats Res-
taurant „Ulo“) oder Björn Johansson (aus
dem „Sarfalik“ in der Hauptstadt Nuuk)
kombinieren Heilbutt und Krabbe mit
Petersilienwurzeln und Rentier mit Karot-
tenpüree zu beeindruckenden Kreationen
und haben sich damit einen weltweiten
Ruf erkocht. Gut möglich, dass die nächs-
te New Nordic Cuisine aus Grönland
kommt.
Über all das kann man dann nachden-
ken, wenn man an seinem letzten Abend
in einem weiten Bogen hinaus zum Eis-
fjord wandert, über Hügel, bedeckt mit
dicken, weichen Moosen und Flechten. Auf
der anderen Seite des Eisschildes, an Grön-
lands Ostküste, wäre so eine Wanderung
lebensgefährlich, denn dort leben Eisbä-
ren. Hier im Westen der Insel aber gibt es
sie nicht. Hin und wieder zetert eine Möwe
irgendwo am Himmel, und manchmal
hallt leise das Heulen der Huskys aus dem
Ort herüber, ansonsten hört man: nichts.
Nichts außer dem Wind, der von der Grön-
landsee und dem Nordmeer kommt und
der hier durch die Gräser fährt.
Ilulissats Eisfjord gehört zu jenen Land-
schaften auf dieser Welt, für die einem erst
einmal die Worte fehlen. Der Fjord ist vol-
ler Eisberge, und quasi im Minutentakt
kommen neue hinzu. Dann knirscht und
grummelt es, man hört das Geräusch und
weiß zuerst nicht, woher es kommt und wo
man jetzt besser ganz schnell hinschauen
sollte, aber die Orientierungslosigkeit dau-
ert bloß einen oder zwei Augenblicke: Die
Eiswände, die vom Ende des Gletschers ab-
brechen und ins Wasser fallen, sind nicht
zu übersehen. Für einen Moment scheint
es, als versänke das Gletscherstück. Dann
taucht es auf und macht sich als Eisberg
auf den Weg Richtung offenes Meer.
Mehr als 20 Millionen Tonnen Eis
schwimmen jeden Tag vom Eisfjord aus
Richtung Atlantik, schimmernd und glän-
zend, changierend zwischen gleißendem
Weiß und transluzentem Hellblau. Auch
der Eisberg, den die „Titanic“ damals ramm-
te, kam wahrscheinlich von hier, von die-
sem Gletscher, aus diesem Fjord. Damals,
vor gut hundert Jahren, symbolisierten die
treibenden Eisriesen Angst und Schrecken.
Heute wecken sie bei vielen Menschen
ganz andere Gefühle. Sie machen bewusst,
wie fragil und zerbrechlich selbst die ge-
waltigste Natur ist. Vielleicht kommt man
bei ihrem Anblick auch auf den Gedanken,
dass unsere Gegenwart auf der Erde nur
die Folge eines kosmischen Fehlgriffs sein
kann. Dass wir eigentlich nicht für diese
Welt vorgesehen waren, weil sie viel zu
schön für uns ist. Und weit mehr, als wir
verdienen. 2
Vor der Küste
treiben riesige
Eisberge im
Meer (o.). Fußball
in Ilulissat (M.).
Der Golfplatz in
Kangerlussuaq
hat 18 Löcher – und
kaum Grün (u.)
116 22.8.2019
REISE