SEITE 4·MITTWOCH, 4. SEPTEMBER 2019·NR. 205 Politik FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG
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DRESDEN, 3. September. Fast 40 Pro-
zentpunkte beträgt die Spanne zwischen
den Wahlergebnissen der sächsischen
CDU auf dem Land und denen in der
Stadt. 60,7 Prozent der Wähler in Crost-
witz in der Oberlausitz stimmten für die
Union, aber nur 21,4 Prozent waren es im
Wahlkreis Leipzig 4. Die Werte sind sym-
ptomatisch für die Entwicklung der Uni-
on im Freistaat. Während sie mehr als
zwei Jahrzehnte lang im gesamten Land
hohe Zustimmung verzeichnete, geht die
Schere vor allem zwischen ländlichen Re-
gionen und den Großstädten Dresden
und Leipzig schon seit Jahren immer wei-
ter auseinander, sinken ihre Zustim-
mungswerte jedoch auch insgesamt. Mit
32,1 Prozent fuhr die CDU am Sonntag
zwar den Wahlsieg ein, es ist aber auch
ihr schlechtestes Ergebnis, das sie jemals
bei einer Landtagswahl in Sachsen er-
reichte.
Das wird auch an den Direktmandaten
sichtbar. Während bei den vergangenen
sechs Landtagswahlen höchstens mal die
Linke einen der 60 Wahlkreise direkt ge-
wann, verlor die CDU diesmal gleich 19
Wahlkreise – 15 davon im ländlichen
Raum an die AfD, aber auch drei an die
Grünen, die zweimal in Leipzig und ein-
mal in Dresden vorne lagen, sowie eines
an die Linken in Leipzig. Auch das spie-
gelt wider, wie unterschiedlich sich Metro-
polen und Provinz entwickeln und welche
Folgen das für die Politik hat. Während
das überwiegend junge, urbane und aka-
demische Milieu in Leipzig und Dresden,
wo immerhin ein Drittel der wahlberech-
tigten Sachsen leben, fast zur Hälfte links
und grün wählt, vereinen CDU und AfD
im ländlichen Raum bis zu drei Viertel
der Stimmen auf sich. In der Mehrzahl
der Regionen sind kleine Bewerber margi-
nalisiert, es gibt quasi nur noch ein Zwei-
Parteien-System.
Dieser Trend ist am Sonntag offenbar
durch taktisches Wählen noch verstärkt
worden. So siegten in einigen Wahlkrei-
sen noch einmal CDU-Bewerber mit den
meisten Erststimmen, weil sie mutmaß-
lich von Wählern unterstützt wurden, die
sonst für Grüne, Linke oder SPD stim-
men, aber einen AfD-Direktkandidaten
verhindern wollten. In denselben Wahl-
kreisen aber ging dann die Mehrheit der
Zweitstimmen an die AfD. So holte etwa
Michael Kretschmer in Görlitz zwar fast
3000 Stimmen mehr als sein Konkurrent
von der AfD, die im selben Wahlkreis je-
doch 900 Zweitstimmen mehr gewann als
die Union. Kretschmer als Typ sei ja ganz
in Ordnung, war in diesem Wahlkampf
nicht nur in Görlitz oft zu hören. Aber sei-
ne Partei gehe überhaupt nicht.
Dass sich die Gegensätze zwischen
Stadt und Land seit der Wiedervereini-
gung drastisch verschärft haben, ist schon
oft beschrieben worden. Zogen nach
1989 mehr als eine Million Menschen zu-
nächst aus allen Landesteilen Sachsens
fort, um sich meist im Westen eine neue
Zukunft aufzubauen, registrieren Dres-
den und Leipzig seit gut zehn Jahren ei-
nen enormen Zuwachs. Dieser erreicht
zum Teil heute auch die Speckgürtel der
Städte, der Großteil der sächsischen Pro-
vinz aber blutet weiterhin aus. Hier lebt
heute die mit Abstand älteste Bevölke-
rung Deutschlands, hier gibt es außer viel
Platz und einer einzigartigen Landschaft
wenig Möglichkeiten, um an eine wirt-
schaftlich positive Zukunft zu glauben.
Diese Entwicklung ist allerdings auch Re-
sultat einer die Landespolitik seit 1990 do-
minierenden CDU, die von Anfang an auf
wirtschaftliche Leuchttürme in Dresden
und Leipzig setzte in der vergeblichen
Hoffnung, diese würden irgendwann auf
die Provinz ausstrahlen.
Doch ist Befragungen zufolge das Pro-
testmotiv, das noch bei der Bundestags-
wahl vor zwei Jahren vorherrschte, inzwi-
schen bei gut zwei Dritteln der sächsi-
schen AfD-Wähler der Überzeugung gewi-
chen, man müsse der Partei jetzt auch we-
gen ihres Programms eine Chance geben.
Da Kretschmer bereits vor der Wahl jede
Zusammenarbeit mit der AfD ausge-
schlossen hat, bleibt der CDU fürs künfti-
ge Regieren nur eine Zusammenarbeit
mit SPD und Grünen. Eine solche Koaliti-
on mag auf den ersten Blick wie eine Miss-
achtung des Wählerwillens vor allem im
ländlichen Raum wirken, zumal landes-
weit gesehen fast 60 Prozent der Wähler
für eine konservative Politik votierten.
Doch würde das wiederum den Men-
schen in den Großstädten nicht gerecht,
während ein schwarz-rot-grünes Bündnis
den Wählerwillen in Großstadt und Land
wohl am besten repräsentieren könnte.
Die AfD erreichte am Sonntag eine
ganz ähnliche Spannbreite zwischen
Stadt und Land. Ihr bestes Ergebnis erziel-
te die AfD mit 48,4 Prozent in der Ge-
meinde Neißeaue ganz im Osten des Lan-
des, während sie Leipzig 2 lediglich 10,
Prozent der Stimmen holte.
Als Erwin Teufel im April 2005 vom
Amt des Ministerpräsidenten zurück-
trat, war es Winfried Kretschmann,
der über ihn in einem Gastbeitrag für
diese Zeitung viele lobende Worte
fand. Er nannte Teufel einen Politiker
mit einem „Wertefundament von fel-
senfester Gültigkeit“. Damals war
nicht absehbar, dass Kretschmann ein-
mal die Chance haben könnte, Minis-
terpräsident des Bundeslandes zu wer-
den. Auch den Niedergang der baden-
württembergischen CDU als Regie-
rungspartei konnte niemand ahnen.
Wenige Monate nach seinem von Gün-
ther Oettinger erzwungenen Rücktritt
hielt Erwin Teufel – der nach 14 Jah-
ren an der Regierung eine gute Bilanz
hinterließ – die starke Stellung seiner
Partei im Südwesten für unzerstörbar.
Es sollte anders kommen. Heute lässt
sich sagen, dass Teufel der vorerst letz-
te erfolgreiche CDU-Ministerpräsi-
dent im Südwesten war.
Der Bauernsohn aus Zimmern ob
Rottweil hatte sich vom Bürgermeister
zum Ministerpräsidenten hochgearbei-
tet und leitete sein politisches Han-
deln aus den Erfahrungen in der Kom-
munalpolitik ab. Außerhalb Baden-
Württembergs wurde Teufel gern als
„Hinterwäldler“ und Mann ohne
Machtambitionen wahrgenommen,
beides war falsch. Teufels Innovati-
ons- und Wissenschaftspolitik war mo-
dern, seine Bildungspolitik ehrgeizig,
ihm gelang die Fusion von drei öffent-
lich-rechtlichen Banken sowie die von
SDR und SWF. Unter seiner Regie-
rung wurde die Pop-Akademie in
Mannheim gegründet, vielfache Pro-
gramme zur Stärkung des Forschungs-
standorts aufgelegt. Hart durchregie-
ren konnte er ebenfalls. Der überzeug-
te Föderalist und Europäer nutzte die
Möglichkeiten des föderalen Systems
für sein Land sehr beharrlich. Nicht al-
les glückte: Die von Teufel und seiner
damaligen Bildungsministerin Annet-
te Schavan propagierte achtjährige
Gymnasialzeit bewährte sich nicht.
Daran, dass die CDU ihr Gesellschafts-
bild zu lange regelrecht konservierte
und Teufel seine Nachfolge nur mit ei-
ner seine Partei spaltenden Mitglieder-
befragung lösen konnte, trägt er si-
cher eine Mitverantwortung. Auch
nicht jede Personalentscheidung
glückte, schließlich war es sein Zieh-
sohn Stefan Mappus, der für die histo-
rische Wahlniederlage 2011 und den
Untergang der alten christlich-demo-
kratischen Welt im Südwesten verant-
wortlich war. Nach dem Ende seiner
politischen Laufbahn versuchte er
sich an einem Studium der Philoso-
phie.
Gläubig, fleißig, gewissenhaft und
ausgestattet mit starken Grundüber-
zeugungen, führte er seine Kabinette.
Heute hält Teufel im Monat noch meh-
rere Reden, mehr als 900 hat er archi-
viert. In tagespolitische Debatten
mischt er sich nur selten ein. Zur AfD
fand er im Landtagswahlkampf 2016
deutliche Worte und ordnete die Par-
tei als rechtsradikal ein. Zu einem
Doppelinterview mit Kretschmann
ließ er sich einmal überreden. „Politi-
ker demokratischer Parteien müssen
zueinander ein Verhältnis haben, dass
in der Not der eine beim anderen über-
nachten kann“, sagte er damals. An
diesem Mittwoch wird Erwin Teufel
80 Jahre alt. (rso.)
Schwäche in den Städten
Warum die CDU in Sachsen nicht mehr so verankert ist wie früher / Von Stefan Locke
LUXEMBURG,3. September
F
ür Deutschland ist dieser Fall au-
ßergewöhnlich“, sagt Remo Klin-
ger, der Rechtsanwalt der Deut-
schen Umwelthilfe (DUH), zu Beginn
seines Plädoyers am Dienstagnachmit-
tag im prunkvollen Verhandlungssaal
des Europäischen Gerichtshofs
(EuGH). Darin wird ihm auch das Land
Bayern, die Gegenseite in dem Verfah-
ren, gewiss nicht widersprechen:
Schließlich geht es um die Frage, ob
bayerische Amtsträger, womöglich gar
der Ministerpräsident Markus Söder,
auf Antrag der DUH in Zwangshaft ge-
nommen werden können, weil sie sich
weigern, Diesel-Fahrverbote für Stra-
ßen mit besonders hoher Stickstoffdi-
oxid-Belastung einzuführen.
Diesem scheinbar ungeheuerlichen
Ansinnen geht ein jahrelanger Rechts-
streit voraus, der in den Details verwor-
ren, in seinem Fazit aber einfach ist: Spä-
testens seit 2017 steht rechtskräftig fest,
dass die zuständige Regierung von Ober-
bayern streckenbezogene Fahrverbote
einführen muss, um die Abgaswerte ein-
zudämmen, die nach eigener Auskunft
im Jahr 2017 das Höchstmaß auf 123
Straßenkilometern des Münchener Stadt-
gebiets überschritten. In der aktuell gülti-
gen 6. Fortschreibung des Luftreinhalte-
plans räumt die oberbayerische Regie-
rung ein, dass eine Einhaltung des
Grenzwerts von maximal 40 Mikro-
gramm Stickstoffdioxid pro Kubikmeter
Luft an besonders stark belasteten
Durchgangsstraßen „ohne zusätzliche
Maßnahmen voraussichtlich erst nach
2030 möglich“ sein wird. Auch heißt es
dort: „Hauptverursacher der NO2-Belas-
tung ist der Straßenverkehr, im Wesentli-
chen die Dieselfahrzeuge.“ Trotz dieses
Befunds und trotz der eindeutigen Vorga-
be der Verwaltungsgerichte sind auch im
Entwurf zur bevorstehenden 7. Fort-
schreibung des Luftreinhalteplans nur
weiche Maßnahmen wie die „Förderung
der Elektromobilität“ oder „Unterstüt-
zung von Carsharing-Systemen“ vorgese-
hen, aber keine Fahrverbote. Ende 2017
und Anfang 2018 haben die Verwaltungs-
gerichte deshalb Zwangsgelder von
10 000 beziehungsweise 4000 Euro ge-
gen das Land Bayern verhängt.
Viel Wirkung hat das nicht gezeigt.
Das hängt mit dem Konzept der Zwangs-
vollstreckung im öffentlichen Recht zu-
sammen: Weil der Gesetzgeber es für
selbstverständlich hielt, dass staatliche
Stellen Urteile befolgen würden, hat er
ihre zwangsweise Durchsetzung weitge-
hend symbolisch ausgestaltet. Als Druck-
mittel ist nur das Zwangsgeld vorgese-
hen, und dessen maximale Höhe ist auf
10 000 Euro gedeckelt. Freilich würden
auch höhere Summen keinen Unter-
schied ergeben, da die Zwangsgelder
stets an die Staatskasse entrichtet wer-
den und somit nach dem Prinzip „rechte
Tasche, linke Tasche“ im Vermögen der
öffentlichen Hand bleiben. Das Bundes-
verfassungsgericht hat zwar 1998 ent-
schieden, dass gegen besonders reniten-
te Behörden auch die eigentlich für den
Zivilprozess vorgesehenen weiter gehen-
den Zwangsmittel zur Anwendung ge-
bracht werden können. Dass damit auch
die Zwangshaft als einschneidendstes In-
strument gemeint sein könne, wurde in
der Folge jedoch bezweifelt, weil das
Grundgesetz freiheitsentziehende Maß-
nahmen nur auf Basis einer ausdrückli-
chen Ermächtigungsgrundlage zulässt,
die es im Verwaltungsverfahren nicht
gibt. Das sieht auch der Bayerische Ver-
waltungsgerichtshof so. Er hält aller-
dings für denkbar, dass das Gebot der
möglichst effektiven Durchsetzung von
Europarecht es ermöglicht, über diese
verfassungsrechtlichen Bedenken hin-
wegzugehen. Zur Klärung dieser Frage
hat er vergangenen November den
EuGH angerufen, der sein Urteil in eini-
gen Monaten verkünden wird.
Sollte die Möglichkeit einer Zwangs-
haft nicht bestehen, stünde es den bayeri-
schen Behörden frei, der vom Minister-
präsidenten ausgegebenen Losung („Bay-
ern ist Autoland“) ohne Rücksicht auf
die europäischen Grenzwerte zu folgen,
argumentiert Remo Klinger am Dienstag
in der Verhandlung. Der Inhaftierte
habe außerdem „den Gefängnisschlüssel
in der Westentasche“, denn er könne die
Haft jederzeit beenden, indem er das ent-
sprechende Urteil befolgt. Der Prozess-
vertreter des Freistaats betonte dagegen
das „elementare Grundrecht der Freiheit
der Person“, die „hohen gesetzlichen An-
forderungen an freiheitsentziehende
Maßnahmen“ und die Unvorhersehbar-
keit einer Haftanordnung aufgrund der
Anwendung einer eigentlich für den Zi-
vilprozess gedachten Vorschrift. Darin
stimmte ihm auch der Vertreter der Euro-
päischen Kommission zu: Es handle sich
beim Vorgehen der bayerischen Behör-
den zwar „ohne Zweifel um eine offen-
sichtliche Missachtung des Unionsrechts
mit schweren Folgen für die Gesundheit
der Bevölkerung“, aber der Grundsatz
der möglichst effektiven Durchsetzung
von Europarecht könne nicht über das
Fehlen einer vollständig passenden
Rechtsgrundlage zur Freiheitsentzie-
hung hinweghelfen.
Der Kommissionsvertreter brachte je-
doch eine Alternative ins Spiel, die auch
Rechtsanwalt Klinger schon angeregt hat-
te und in Luxemburg näher ausführte:
Dass Zwangsgelder gegen staatliche Stel-
len keine Wirkung zeigten, sei ein selbst-
geschaffenes Problem. Denn nirgends
stehe geschrieben, dass gegen den Staat
verhängte Zwangsgelder an die Staats-
kasse geleistet werden müssten und dass
bei einer andauernden Verweigerung je-
des einzelne Zwangsgeld in einem lan-
gen gerichtlichen Verfahren beantragt
werden müsse. Beides sei bloß gängige
Praxis deutscher Gerichte. Wenn die
sich änderte und ein Gericht ein bis zur
Pflichterfüllung täglich wiederkehren-
des Zwangsgeld von 10 000 Euro festsetz-
te, würden im Jahr immerhin 3,65 Millio-
nen zusammenkommen, rechnet Klinger
vor. Einen würdigen Empfänger dieses
Zwangsgeldes hat er auch schon im Sinn:
die Deutsche Umwelthilfe.
BERLIN, 3. September. Bevor die Diskus-
sion losging, bekamen deren Teilnehmer
im Konrad-Adenauer-Haus erst einmal
den Rahmen gesetzt. Wolfgang Schäuble,
Bundestagspräsident, ehemaliger Finanz-
und Innenminister, Europapolitiker, poli-
tisches Rundumtalent und immer noch
eine Autorität in der CDU, aber kein aus-
gewiesener Klimafachmann, hatte zum
Auftakt des eintägigen Werkstattge-
sprächs zur Klimapolitik in der Berliner
CDU-Zentrale ein paar Kernbotschaften
zu verkünden. Vor allem forderte er seine
Parteifreunde und die Gäste, die am
Dienstag gekommen waren, dazu auf, die
Chancen der „gesellschaftlichen Mam-
mutaufgabe“ des Klimaschutzes zu nut-
zen. Er war erkennbar nicht gekommen,
um klimapolitische Weltuntergangsstim-
mung zu verbreiten. Und auch die CDU-
Vorsitzende Annegret Kramp-Karrenbau-
er bemühte sich am Ende des Treffens, ih-
rer Partei einen positiven Blick auf das
Thema schmackhaft zu machen, selbst
wenn es – wie sie sagte – in den Reihen
der Partei noch einige gebe, die sich mit
dem Klimawandel und dem Anteil des
Menschen daran schwertäten. Nachhaltig-
keit, Bewahrung der Schöpfung und Kli-
maschutz seien „kein exklusives Thema
der Grünen“, sondern fänden sich in der
„DNA“ der CDU.
Schäuble zitierte den ehemaligen
CDU-Generalsekretär Peter Hintze mit
der Äußerung, mit dem Klimaschutz wer-
de die CDU die nächste Bundestagswahl
nicht gewinnen, ohne Konzepte für den
Klimaschutz werde man sie allerdings ver-
lieren. Die Kosten, die der Verstoß gegen
das Prinzip der Nachhaltigkeit verursa-
che, müssten „internalisiert“, also auf
den Verursacher zurückgeführt werden.
Schäuble warnte davor, so zu tun, als ver-
ursache der Klimaschutz keine Kosten.
„Es gibt nichts zum Nulltarif“, mahnte
der Bundestagspräsident.
Sechs Arbeitsgruppen beschäftigten
sich im Adenauer-Haus mit dem Thema,
zu dem es in der Union längst einen Kon-
sens gibt: Man hat sich in der Vergangen-
heit nicht ausreichend um ein Konzept
für den Klimaschutz gekümmert. Am
Dienstag nun wurden nach mehrstündi-
gen Gesprächen keine Entscheidungen
präsentiert. Die sollen in der Union erst
am 16. September fallen, damit am 20.
des Monats dann das Klimakabinett der
Koalition einen Beschluss fassen kann.
Im Klimakabinett sitzen unter anderen
die Minister für Umwelt, Wirtschaft, Fi-
nanzen, Verkehr, Bauen, Landwirtschaft
und Bundeskanzlerin Angela Merkel. Das
Klimakabinett soll mit seinen Beschlüs-
sen dafür sorgen, dass Deutschland das
Ziel für 2030 – 55 Prozent weniger Treib-
hausgas-Ausstoß als 1990 – erreicht.
Im Adenauer-Haus wurden am Diens-
tag nur Empfehlungen gegeben. Der mit
der Erarbeitung eines Klimakonzepts in
der CDU befasste Bundestagsabgeordne-
te Andreas Jung sagte, wie später auch
der Abgeordnete Carsten Linnemann, es
habe in den Gesprächen viel Zustimmung
zu einer einheitlichen europäischen
CO 2 -Bepreisung gegeben. Allerdings ist
die CDU offenbar gewillt, zunächst natio-
nal auf diesem Gebiet voranzugehen, so
lange, bis eine europäische Lösung mög-
lich ist. Die Tendenz, die CO 2 -Bepreisung
durch Emissionshandel und nicht mit ei-
ner CO 2 -Steuer zu erreichen, ist im Laufe
der Werkstattgespräche deutlich gewor-
den. Allerdings wurde berichtet, dass in
den – nicht öffentlichen – Gesprächen
auch andere Meinungen zur Sprache ge-
kommen seien. Die CDU hatte nicht nur
ihre Mitglieder, sondern auch Fachleute
von außen eingeladen. Bei der öffentli-
chen Vorstellung der Ergebnisse wurde
später deutlich, dass es auch in der CDU
die Meinung gibt, eine CO 2 -Steuer sei der
geeignetere Weg.
Während die CDU diskutierte, wurde
bereits ein Arbeitspapier der CDU-Spitze
bekannt, in dem es heißt, man ziele auf
eine Mischung aus höherer Bepreisung,
Zertifikathandel und Entlastung bei den
Strompreisen sowie Förderanreizen zur
Verbesserung des Klimaschutzes. Die
CSU-Landesgruppe im Bundestag disku-
tierte am Dienstag auf einer Klausurta-
gung ebenfalls über ihre klimapolitischen
Vorstellungen. Wie die CDU strebt ihre
Schwesterpartei nationalen Handel mit
CO 2 -Verschmutzungsrechten an. Zudem
will die CSU, dass die Pendlerpauschale
erhöht und die Mehrwertsteuer auf Bahn-
tickets im Fernverkehr von 19 auf sieben
Prozent gesenkt wird.
Schäuble zeigte sich optimistisch. Der
„Erfindungsreichtum des Marktes“ sei
durch nichts zu überbieten, Freiheit ohne
Grenzen funktioniere aber nicht. Statt Ver-
zicht empfahl Schäuble, in der Klimapoli-
tik auf Innovation zu setzen. Deutschland
habe auf den Gebieten Forschung und Ent-
wicklung ein „riesiges Potential“. Das müs-
se ausgenutzt werden, damit „wir nicht
Zaungäste“ werden. Die Dinge müssten al-
lerdings auch implementiert werden. Da
sei Deutschland „höchstens zweit- oder
gar drittklassig“. Vielleicht könne das An-
gehen der Aufgabe Klimaschutz sogar da-
bei helfen, die gegenwärtige Spaltung in
der Gesellschaft zu überwinden.
Gläubig und
gewissenhaft
Erwin Teufel zum
achtzigsten Geburtstag
Wie ist der Staat
zu packen?
Eine Mammutaufgabe als Chance
Die CDU sucht in ihrem Berliner Werkstattgespräch nach Positionen in der Klimapolitik / Von Eckart Lohse
Erwin Teufel Foto dpa
Bayern wehrt sich strikt,
Fahrverbote einzuführen.
Nun verhandelt der EuGH
über eine Zwangshaft.
Von Constantin van Lijnden
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