Frankfurter Allgemeine Zeitung - 04.09.2019

(Ron) #1

FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG Feuilleton MITTWOCH, 4. SEPTEMBER 2019·NR. 205·SEITE 9


LONDON, 3. September

V


or vier Jahren ist Boris Johnson
in einem Gladiatorenkampf ge-
gen die Althistorikern Mary
Beard angetreten. Es ging dabei
um die alte Frage: Griechenland oder
Rom? Johnson trat für die Griechen in
die Arena, Mary Beard für die Römer. Es
war bezeichnend, dass Johnson in sei-
nem Loblied auf die alten Griechen ins-
besondere deren Bereitschaft zur Aufsäs-
sigkeit, zur Entlarvung des falschen
Scheins und zur Satire als großes Ver-
mächtnis sah. Oder dass er den Zorn des
Achilles als ersten Ausdruck merito-
kratischer Entrüstung darstellte und die
Gefallenenrede des Perikles mit Begrif-
fen aus seinem eigenen politischen Regis-
ter als Ausdruck jener Ideale zusammen-
fasste, „die uns bis heute beseelen“: Frei-
heitsgeist, Regierung für die vielen, nicht
die wenigen, Gleichheit vor dem Gesetz,
Aufstieg durch Leistung, dem Nachbarn
seine Freuden nicht missgönnen und
Demokratie. „Und was“, fragte der sich
in Begeisterung redende Johnson da-
mals, „haben die Römer mit der Demo-
kratie angestellt?“ Er setzte eine rhetori-
sche Pause, bevor die Pointe kam: „Sie ha-
ben sie zugunsten der Diktatur abge-
schafft.“
Angesichts des Aufschreis gegen den
Demokratieverlust und des Um-sich-
Werfens von überzogenen Schlagwör-
tern wie „Diktatur“, die Johnsons provo-
kantes Vorgehen als britischer Premier-
minister in den letzten Tagen hervorgeru-
fen hat, entbehrt dieses Debattierspiel
nicht einer gewissen Ironie, zumal Mary
Beard und die Römer an jenem Novem-
berabend 2015 den Sieg davongetragen
haben. Das Publikum, das vor Beginn der
Vorstellung noch den Griechen den Vor-
zug gegeben hatte, votierte danach mit
56 Prozent für das alte Rom. Die Strate-
gie des neuen Regiments in Downing
Street lässt mutmaßen, dass der pragma-
tische Johnson womöglich eine Lehre
aus dieser Niederlage gezogen und die
Methoden der Römer näher ins Auge ge-
fasst hat.
Zumindest scheint er die zynischen
Empfehlungen von Quintus Tullius Cice-
ro für die Konsulatsbewerbung seines
Bruders Marcus Tullius beherzigt zu ha-
ben. Die Authentizität dieses Dokumen-
tes wird mitunter angezweifelt, das än-
dert aber nichts an dessen Inhalt. Genau
so, wie darin geraten wird, schmeichelt
der Premierminister den Wählern hem-
mungslos und verspricht ihnen alles:
mehr Geld für Schulen, für Krankenhäu-
ser, für die Polizei – „egal, ob er es halten
kann“, wie es bei Cicero heißt. Schließ-
lich lehrt der antike Ratgeber, dass gebro-
chene Versprechen „sich häufig in einer
Wolke veränderter Umstände“ verlören
und die Leute sich lieber eine nette Lüge
auftischen ließen, als mit einer Ableh-
nung abgespeist zu werden.
Die Aufforderung, nie konkret zu wer-
den, den Menschen Hoffnung zu geben,
die Schwächen des Gegners zu erkennen
und auszunutzen, ist ebenfalls bei Mar-
cus Tullius Cicero nachzulesen. Johnson
hält sich ebenso daran wie an die Devise,
dass Kommunikationsstärke der Schlüs-
sel zum Erfolg sei. Das hatte er bereits in
der Vote-Leave-Kampagne gezeigt, als er
in einem Wahlkampfbus durch die Lande
zogmit der Aufschrift, dass Britannien
350 Millionen Pfund in der Woche nach
Brüssel schicke, die stattdessen dem Ge-
sundheitsdienst zufließen sollten. Als ein
hochrangiger Brexit-Änhänger ihn frag-
te, ob es ratsam sei, mit derart dubiosen

Fakten zu hantieren, erhielt er zur
Antwort, dass es nichts zur Sache tue, ob
die Zahl stimme oder nicht, weil die Paro-
le bereits für wirksamen Gesprächsstoff
sorge.
Mit der Wahrheit nimmt es Johnson be-
kanntermaßen nicht so genau. Robert
Harris lieferte dieser Tage einen neuen
Beleg dafür. Vor Jahren hat Johnson, da-
mals noch als Journalist, den britischen
Erfolgsautor interviewt. In seinem Arti-
kel über dieses Gespräch verriet John-
son, dass Harris von seinen Freunden
„Moneybags“ (reicher Sack) genannt wer-
de. Als Harris ihn später fragte, wer diese
Freunde seien, gestand ihm Johnson un-
geniert, das Faktum erfunden zu haben.
Solche Nonchalance passt zu der Al-
lüre des Hasardeurs, die sich Johnson zu-
nehmend gibt in seinem Gepoker um
den Brexit. Davon zeugen auch die Wett-
metaphern, die er gern in seine Reden
einstreut. So bramarbasierte er in seiner
ersten Ansprache als Premierminister,
dass die Menschen, die gegen Groß-
britannien gewettet hätten, ihr letztes
Hemd verlieren würden, „weil wir das
Vertrauen in unsere Demokratie wieder-
herstellen werden“. Jetzt hat er das ge-
naue Gegenteil erreicht mit der Zwangs-
pause des Parlaments, der Drohung, ab-
trünnigen Abgeordneten das Parteibuch
zu entziehen, und der Aussicht, sich gege-
benenfalls ganz über das Parlament hin-
wegzusetzen, um den Brexit auf Biegen
und Brechen wie geplant zum 31. Okto-
ber dieses Jahres umzusetzen.
Der Historiker Richard Evans bezeich-
net diese Entwicklungen drastisch als
„Großbritanniens Reichtagsbrandverord-
nungs-Moment“. Er erinnert damit dar-
an, dass die Weimarer Demokratie durch
die präsidiale Notverordnung vom 23. Fe-
bruar 1933, mit der alle bürgerlichen Frei-
heitsrechte in Deutschland auf unbe-
stimmte Zeit aufgehoben wurden, verfas-
sungsmäßig zerstört worden ist. Zwar
warnt Evans davor, zu genaue Parallelen
zu ziehen mit dem Zusammenbruch der
Weimarer Republik, doch führt er die be-
rühmte Beobachtung von Goebbels an,
wonach es „immer einer der besten Wit-
ze der Demokratie“ bleibe, „dass sie ih-
ren Todfeinden die Mittel selbst stellte,
durch die sie vernichtet wurde“. Die Wei-
marer Verfassung sei demokratisch gewe-
sen, doch habe sie die Saat für ihre eige-
ne Zerstörung enthalten. Unter den fal-
schen Umständen, so Evans, könne das
Gleiche auf die unkodifizierte britische
Verfassung zutreffen, die das Potential in
sich trage, verstaubte Eigenschaften wie
das königliche Prärogativ auszunutzen,
das jetzt eingesetzt wurde, um die Ent-
scheidungsgewalt des Parlaments in der
wichtigsten politischen Frage unserer
Zeit zu unterbinden.
Brexit-Anhänger wie der Historiker
Robert Tombs bemühen sich dagegen um
Abkühlung der hitzigen Angriffe der Ge-
genseite. Tombs hält etwa die sich häu-
fenden historischen Vergleiche mit der
Aufhebung des englischen Parlaments
durch König Karl I. für „aufhetzerischen
Unsinn“. Die Souveränität des Parla-
ments tut er als einen in dem pseudo-
historischen Mauerwerk am Ufer der
Themse verkörperten viktorianischen
Mythos ab. Er hält auch nichts von den
„dunklen Anspielungen“ auf die Stuart-
Könige und den Bürgerkrieg oder von
der Gleichsetzung Boris Johnsons und
dessen Beraters Dominic Cummings mit
Karl I. und dessen rechter Hand, Graf
Strafford. Tombs plädiert für einen sorg-
fältigeren Umgang mit der Geschichte.
In dem Für und Wider über die Verfas-
sungsmäßigkeit der jüngsten Schritte
greifen allerdings beide Seiten nach histo-
rischen oder literarischen Beispielen, die
ihre jeweilige Sichtweise belegen sollen.
Tombs selbst hat auf die Passage in „Ali-
ce im Wunderland“ verwiesen, in der
Humpty Dumpty „ziemlich verächtlich“
sagt, wenn er ein Wort benutze, „dann
hat es genau die Bedeutung, die ich wäh-
le, nicht mehr und nicht weniger“. „Die
Frage ist“, sagt daraufhin Alice, „ob man
das machen kann, dass Wörter so viel
Verschiedenes bedeuten.“ Worauf Hump-
ty Dumpty erwidert: „Die Frage ist‚ wer
das Sagen hat – das ist alles.“ Genau das
wird sich in den nächsten Tagen entschei-
den. GINA THOMAS

Gewinner des Gulden Feniks, Gewin-
ner des The Plan Award, Gewinner des
Dutch Design Award „Habitat“, dazu
der Publikumspreis als bestes Gebäude
des Jahres bei den BNA-Awards – und
Gewinner in der Kategorie „Lebensqua-
lität und sozialer Zusammenhalt“: Das
mit Preisen meistdekorierte Gebäude
der Niederlande ist in diesem Jahr kein
Neu-, sondern ein Umbau. Und es ist
kein privater Investor, sondern die öf-
fentliche Hand, die hier als Bauherr
auftritt und zeigt, wie ein öffentlicher
Raum der Zukunft aussehen kann. Die
einstige Lokomotivenreparaturhalle der
Niederländischen Eisenbahn im Zen-
trum der Stadt Tilburg wurde saniert,
verschiedene Architekten, darunter Me-
canoo, bauten in die leere Halle eine Bi-
bliothek, die Kulturinstitutionen Kunst-
loc und Brabant C sowie Gemeinschafts-
räume und „Laboratorien“ ein, die man
weniger pathetisch auch als Leseräume
bezeichnen könnte, dazu ein Café.
Das so umfunktionierte Gebäude ist
in zweierlei Hinsicht paradigmatisch:
Erstens zeigt es in einer Zeit, in der die
CO 2 -Intensität von Großbaustellen zu-
nehmend kritisiert wird, wie neue Räu-
me durch geschickte Umgestaltung von
Bestandsbauten entstehen können; die
alten Gleise bleiben im Betonboden er-
halten, jetzt dienen sie dazu, drei große
Rollentische zu bewegen, die zusam-
men eine Bühne bilden können. Lo-
cHal ist auch Teil einer neuen Bewe-
gung, die alte Industriehallen im Wort-
sinn in große Bühnen verwandelt –
eine, wenn man so will, Theatralisie-
rung des öffentlichen Raums, in der
das Auftreten des aktiven Stadtbürgers
gefeiert wird. Dazu tragen die hallenho-
hen Vorhänge bei, die die Amsterda-
mer Designerin Petra Blaisse und ihr
Büro Inside Outside entwarfen. Sie kön-
nen den Raum bei Bedarf unterteilen
und verändern die Atmosphäre spür-
bar. Der Preis für „Lebensqualität und
sozialen Zusammenhalt“ ist in einer
Zeit, da die Stadtzentren mehr und
mehr von privaten Interessen und
durchkommerzialisierten Räumen do-
miniert werden, sehr verdient. nma

Wer das Sagen hat


in Großbritannien


Alina treff ich, alles tut ihr weh,
mit allen ihren Freunden würd sie tauschen –
ist sie das auf dem Fahrrad, die ich seh,
da fiebernd-selig in den Abend rauschen?
Auch Doris, wie sie in den Morgen schlendert,
im Hof an Rosen schnuppert, dabei summt –
ein schräger Satz, ein Blick, der alles ändert,
nur Hülle, Hose, und das Smartphone brummt.
Du bist die Kraft, willst dich ins Leben dehnen
und hörst das leise „Bis hierher“ des Wächters,
in uns vorhanden sommerheißes Sehnen
wie auch die kühlen Wellen des Gelächters,
die leichten Seelen, die wir immer hatten,
ihr meine Freunde auf den Yogamatten.

Dirk von Petersdorff

Tagesform


Soziale Bühne


Bestes Gebäude des Jahres


W


ohin es führt, wenn die Zahl ver-
schiedenartiger Verkehrsteilneh-
mer bei gleichbleibendem Verkehrs-
raum immer weiter wächst, können wir
täglich auf den Straßen beobachten: Es
wird eng, Konflikte nehmen zu. Wenn
der Teenager auf dem E-Roller schnur-
stracks auf den radelnden Familienvater
zusteuert oder der ins Smartphone ver-
tiefte Fußgänger ungeniert die Fahr-
bahn kreuzt, dann ist besonderes Ge-
schick in der verkehrsmittelübergreifen-
den Kommunikation vonnöten, wenn
man nicht einfach das Recht des Stärke-
ren walten lassen möchte. Im All ist das
nicht anders. Bislang hält sich dort die
Zahl der aktiven Verkehrsteilnehmer
mit 2000 im Erdorbit betriebenen Satelli-
ten zwar noch in Grenzen. Das wird sich
aber sehr schnell ändern, wenn Elon
Musk und andere private Weltraum-
unternehmer mit ihren geplanten
„Mega-Konstellationen“ und deren vie-
len tausend Satelliten den Orbit ähnlich
fluten wie E-Roller derzeit deutsche
Städte. Musk, der in seinem Netzwerk
„Starlink“ schließlich mehr als 10 000
Satelliten betreiben will, um die Welt flä-
chendeckend mit Internet zu versorgen,
hat im Mai mit 62 Testsatelliten den Auf-
takt gemacht – und ist damit nun schon
erstaunlich schnell der Europäischen
Weltraumorganisation Esa in die Quere
gekommen. Am Montag musste die mit
ihrem Windsatelliten Aeolus ein Aus-
weichmanöver durchführen, um eine
Kollision mit einem besonders tief flie-
genden Starlink-Satelliten zu vermei-
den. Dass die Esa ausweichen musste
und nicht Musk, war dabei reine Ver-
handlungssache. „Im Orbit gibt es keine
Vorfahrtsregeln. Es gibt noch nicht ein-
mal eine Vorschrift, dass man über-
haupt ausweichen muss“, berichtet Hol-
ger Krag, der Leiter des Esa-Programms
für Weltraumsicherheit. Nachdem dem-
nach SpaceX keine Anstalten machte,
den Kurs zu ändern, entschloss sich die
Esa zum Manöver, um kein Risiko einzu-
gehen. „Typisch Verkehrsrowdy“, denkt
sich da der leidgeprüfte Erdling, „hätte
es nicht allein die Höflichkeit geboten,
dass der Weltraumneuling Musk einem
seriösen Forschungssatelliten Platz
macht?“ Die Esa nimmt das locker.
Nicht, dass sie es war, die zur Kollisions-
vermeidung Treibstoff und Planungsauf-
wand investieren musste, macht ihr Sor-
gen. Es ist vielmehr die Aussicht auf das,
was noch kommen wird, wenn in Zu-
kunft jede Annäherung von Satelliten
Verhandlungen per E-Mail und Telefon
nach sich ziehen wird. Dieser Prozess
der Absprache müsse professionalisiert
werden, sagt Krag. Man brauche
Kommunikationsprotokolle und wahr-
scheinlich auch die Hilfe selbstlernen-
der Algorithmen. Die Esa will das Pro-
blem in diesem November auf ihrer Mi-
nisterratskonferenz in Angriff nehmen.
Auf eine schnelle Lösung kann man nur
hoffen. Denn wie schlecht die spontane
Kommunikation zur Kollisionsvermei-
dung zumindest im Straßenverkehr
klappt, wissen wir wiederum aus eige-
ner Erfahrung. sian

Sportlerfilme können etwas Ödes ha-
ben, weil ihr Material meistens die Bil-
der sind, die wir ohnehin kennen, und
selten erreichen sie wegen der inhären-
ten Langeweile von Sportlern – kein Vor-
wurf – dramatisches Format. Bei „Diego
Maradona“ ist das anders: farbiger, vulgä-
rer, komplizierter, fesselnd von der ers-
ten Minute an.
Der Anfang des Films hat etwas von ei-
nem Mafia-Epos. Handkamera im Auto,
eine Kavalkade fährt durch enge Stra-
ßen, Ziel: das Stadion San Paolo des SSC
Neapel. Männer steigen aus, immer wie-
der greifen Hände nach einem kleinen,
muskulösen Mann, der alles mit sich ge-
schehen lässt, die Hände tätscheln, schüt-
zen, und die Grenze zwischen Body-
guard und Kerkermeister verwischt.


  1. Juli 1984, Tag der Präsentation von
    Diego Maradona als neuer Spieler von
    Napoli, dem Team der Underdogs aus
    dem Süden, die Fans von den reichen
    Klubs aus Mailand oder Turin als „Afri-
    kaner Italiens“ verhöhnen, als Bettler
    und Dreckfresser. Maradona ist nach
    zwei mauen Jahren beim FC Barcelona
    hierhergekommen, und der britische Re-
    gisseur Asif Kapadia malt diese Wahl
    mit allem sozialen Pathos aus: Der selbst
    einmal bettelarme Fußballer aus Argenti-
    nien, der seine Familie ernährt, seit er
    fünfzehn Jahre alt ist, läuft ein, um dem
    Abschaum Italiens seine Würde zurück-
    zugeben. Es sind wunderbare Bilder, kör-
    nig, wackelig, mit pulsierendem Rhyth-
    mus, im Zentrum ein jung und unschul-
    dig aussehender Wuschelkopf, der wie
    träumend durch seine ersten Szenen
    geht. Mit diesem Mann – Kapadia zeigt
    sehr viele Spielszenen, und jede ist es
    wert – gewinnt Napoli 1987 erstmals die
    italienische Meisterschaft. Direkte Folge
    des Triumphs unter den Fans: fünf Ohn-
    machten, zwei Herzinfarkte. Für ein
    paar Jahre steht die Fußballhierarchie
    auf dem Kopf.
    Was im Film danach kommt, ist eine
    Chronologie, die eher inneren Verläufen
    folgt. Ja, „die Hand Gottes“ bei der WM
    1986 gegen England muss natürlich sein,
    auch das immer wieder unfassbare
    Dribbling gegen ein halbes Dutzend Geg-
    ner. Das ideologische Unterfutter des Sie-
    ges Argentiniens gegen England, auch
    für Maradona, war der vier Jahre zurück-


liegende Falkland-Krieg. Die Engländer
ausgetrickst zu haben wurde zur symboli-
schen Rache für die militärisch verlore-
nen Malwinen, der süßeste Betrug der ar-
gentinischen Geschichte. Es stimmt
wohl nicht ganz, was ein Journalist über
Maradona gesagt hat: Kein Muskel in sei-
nem Körper sei wichtiger als das Gehirn.
Auch Pelés böser Satz, der argentinische
Stürmer besitze „seelisch nicht das, was
erforderlich ist“, hat etwas für sich. Doch
viel mehr, als man durch Fußballsendun-
gen oder Medienklatsch ahnen könnte,
wurde hier eine Vorzeigefigur gebraucht
und erbarmungslos in ein Produkt ver-
wandelt, so wie die Scala die Callas in
ein Produkt verwandelt hat: Maradona
für Neapel, fürs Volk, aber auch für die
Camorra, die ihn hofiert, seine Drogen-
sucht ausnutzt und ihn wieder fallen-
lässt, als er eine Belastung geworden ist.
Asif Kapadia ist ein Experte im Deu-
ten von Bildern, mit denen die Wirklich-
keit ihn überhäuft. Gekonnt gleitet er in
seine Szenen hinein und wieder hinaus,
und sehr bewusst lenkt er unseren Blick
auf das hinter dem Glamour liegende
Drama, wie er es schon 2010 bei seinem
Film über den Rennfahrer Ayrton Senna
und fünf Jahre später in seinem hochge-
lobten Amy-Winehouse-Porträt getan
hat, für das er anderthalbtausend Stun-
den Bildmaterial auswertete.
„Amy: The Girl Behind the Name“,
diesen Titel könnte man für Argenti-
niens Superstar Maradona weiterspin-
nen. Denn eines der Leitmotive in Kapa-
dias Film sind die zwei Namen und die
zwei Figuren, die in diesem kompakten,
mit singulärem Talent ausgestatteten
Körper nebeneinander hausten: hier
„Diego“, der Junge aus den Vorstadt-
Slums von Buenos Aires, der nicht nur
sich selbst, sondern die ganze achtköpfi-
ge Familie mit seiner Fußballkunst aus
dem Elend holte, ihnen fließendes Was-
ser gab und elektrischen Strom und end-
lich etwas anderes als eine verdreckte Ba-
racke. Und dann mutierte Diego zu „Ma-
radona“, dem gefeierten Helden, dem
gottähnlichen Geschöpf, das alle angrab-
schen und von dem jeder ein Stückchen
haben will, und dass der eine gut war
und der andere viel weniger, das sagt im
Film niemand so deutlich wie sein per-
sönlicher Coach Fernando Signorini, der

neben ihm alt wird und jeden vergosse-
nen Schweißtropfen kennt: „Mit Diego
laufe ich bis ans Ende der Welt. Aber mit
Maradona gehe ich keinen Schritt.“
Der Formel-1-Fahrer Senna starb mit
vierunddreißig Jahren, Amy Winehouse
mit siebenundzwanzig. Diego Marado-
na, Jahrgang 1960, hatte das Pech, am Le-
ben bleiben zu müssen, und läuft bis heu-
te als Karikatur seiner selbst herum. Ka-
padias Film begleitet ihn bis in die
schlimmen, demütigenden und für jeden
Betrachter peinlichen Jahre hinein, die
Skandale, das Koksen, aber hier schützt
der Regisseur seine Hauptfigur und lässt
nur noch ganz wenige Bilder sprechen –
den Schwerbäuchigen beim Freizeitkick,
aus diskreter Entfernung gefilmt, oder ei-
nen tränenreichen Talkshowauftritt.
Den Rest soll sich das Publikum selbst
denken. Nicht nur, weil der ganze visuel-
le Dreck ohnehin mit einem Tastenklick
im Netz zu haben wäre. Sondern weil Ka-
padia die Lebens- und Erfolgskurve die-
ses Lebens als klare Linie zeigen will,
nicht als blind machenden Feuerschweif.
Einer der intensivsten Momente kommt,
als Maradona mit Kameraden beim
Abendessen sitzt, er will längst aus Nea-
pel weg, doch man lässt ihn nicht, und
während der Ton erstirbt und die Kame-
ra schmerzhaft lange auf seinem Gesicht
bleibt, sieht man einen tieftraurigen
Mann, der es einfach nicht besser weiß.
Am Ende des Films steht Maradona
vor der Tür seines unehelichen Sohnes.
Es ist eine billige Metalltür, er wartet dar-
auf, dass ihm aufgemacht wird, und im-
mer noch hängen ihm Reporter an den
Fersen. Endlich wird geöffnet. Der Sohn
tritt heraus und umarmt den Vater, so
wie eine Generation zuvor ein Fabrik-
arbeiter aus dem Slum Villa Fiorito sei-
nen hochbegabten Fußballersohn um-
armt hat. Es bleibt in der Familie, könn-
te man sagen, etwas zumindest ist geret-
tet. Aber die Bilder all dieser Berührun-
gen, des Umarmens, Betätschelns und
Begrabschens sind doppeldeutig. Ist es
ein Festhalten? Ein In-Besitz-Nehmen?
Nur Show? Wer selbst Diego Maradona
gewesen sein wollte, mit allem, was an
ihm gezerrt hat, ihm, dem am Ende doch
einfachen und schwachen Menschen,
der hätte Kapadias bewegenden Film
nicht verstanden. PAUL INGENDAAY

Vorfahrt im All


Die Hand Gottes, die Hand des Teufels


Asif Kapadias Film über Diego Maradona zeigt den Helden eines großen Dramas


Diego Maradona an seinem beständigsten Arbeitsplatz: im Stadion San Paolo in Neapel Foto Alfredo Capozzi / DCM

Die historischen


Vergleiche häufen sich,


und die meisten sind


nicht schmeichelhaft für


Boris Johnson. Doch


auch der britische


Premierminister hat


seine Lehren aus der


Geschichte gezogen.

Free download pdf