Der Spiegel - 24. August 2019

(WallPaper) #1

Ruch:Wir haben lauter verwaiste »Plan-
stellen«, die einst von Böll, Frisch und Bach-
mann besetzt wurden. Die waren alle mal
auf dem SPIEGEL-Cover. Das ist lange her.
SPIEGEL:Sie behaupten, dass noch nie ein
Ideenhistoriker zu Gast bei Anne Will war.
An wen haben Sie da gedacht? Haben Sie
dergleichen nicht studiert?
Ruch:Zwölf Jahre lang.
SPIEGEL:Liest sich wie eine Selbsteinla-
dung.
Ruch:Verstehe. Nein, das meinte ich nicht.
Ich wurde noch nie eingeladen, und das
ist auch okay so.
SPIEGEL:Tatsächlich nicht?
Ruch:Nein.
SPIEGEL:Selbst nicht auf den Höhepunk-
ten Ihrer Aktionen?
Ruch:Die haben alle Angst.
SPIEGEL:Wovor?
Ruch:Angst davor, missbraucht zu wer-
den. Fernsehen ist sehr anfällig für sym-
bolpolitische Terraingewinne.
SPIEGEL:Wenn man Ihr Kapitel über Talk-
shows liest, könnte man als Moderator
auch sagen, dass die Angst nicht unbegrün-
det ist. Sie schreiben: »Welcher Unter-
schied besteht zwischen diesen Talkshows
und Goebbels’ Hetzblatt ›Der Angriff‹?
Der Zusammenhalt unserer Gesellschaft
wird durch Reichsbürger, Pegidisten und
Rechtsfaschisten lange nicht so bedroht
wie durch eine Maischberger-Sendung.
Der ›Völkische Beobachter‹ ist zurück.«
Ruch:Ja.
SPIEGEL:Sie meinen das tatsächlich ernst?
Ruch:Mein voller Ernst. Man kann nicht
genug warnen.
SPIEGEL:Vor Frau Maischberger?
Ruch:Vor diesem Grad des geistigen Ex-
tremismus.
SPIEGEL:Das müssen Sie erklären.
Ruch:Gucken Sie sich mal an, wie diese
Talkshows ihre Themen ankündigen: »So-
zialstaat unter Druck: Kosten uns die
Flüchtlinge zu viel?« Oder: »Angst vor
Flüchtlingen: Ablehnen, ausgrenzen, ab-
schieben?«
SPIEGEL:Reißerisch.
Ruch:Ich bitte Sie. Die Gäste, die Themen.
Welche Sätze da unwidersprochen gesagt
werden können! Mir fallen lauter Ideen
ein, wie man Talkshows spannend machen
könnte. Seehofer gegenüber von drei Be-
troffenen, die die Konsequenzen seiner
dümmlichen Sätze am eigenen Leib erfah-
ren. Ursache und Konsequenz an einen
Tisch setzen – das wäre die Aufgabe der
ARD.
SPIEGEL:Sie möchten, dass auch mal ein
Flüchtling eingeladen wird. Und wenn das
nicht geschieht, tut Maischberger das, was
Goebbels gemacht hat? Sie verlieren jeg -
liches Maß.
Ruch: Sandra Maischberger organisiert
den Absturz des Humanismus, Woche für
Woche, und wir alle lassen das zu. Ich habe


für das Buch sämtliche Ausgaben der »Welt-
bühne« von 1932 gelesen. Ich musste fest-
stellen, dass Weimar brennend aktuell ist.
Es geht um einen Extremismus der Mitte.
Maischberger ist die Mitte der Gesellschaft.
SPIEGEL:Sie klingen wie ein AfD-Politiker,
der gegen die Lügenpresse hetzt.
Ruch:Ist Ihnen einmal aufgefallen, dass
Maischberger immer für die Seite Partei
ergreift, die wir dem geistigen Faschismus
zuordnen könnten? Haben Sie sie jemals
für Humanismus eintreten hören? Wir sind
viel zu tolerant. So was dürfte gar nicht
gesendet werden. Maischberger spielt mit
extremen Positionen. Sie findet, dass das
den Diskurs belebt. Und der Mord an Wal-
ter Lübcke ist das logische Ende dieser Dis-
kursbelebung. Ich finde das naiv und ver-
antwortungslos. Es gibt eine gewaltbereite
Schicht, die solche Äußerungen als Legiti-
mation für die eigenen Mordtaten braucht
und nimmt.
SPIEGEL:Der Aufklärer Ruch hat nicht so
viel Vertrauen in den mündigen Bürger.
Sie fordern sogar eine Triggerwarnung vor
rechten Sätzen in Talkshows.
Ruch:Warum warnen wir denn auf Ziga-
rettenpackungen vor dem Rauchen? Wenn
ein anerkannter Holocaust-Relativierer
wie Alexander Gauland von der »Tages-
schau« als ganz normaler Politiker insze-
niert wird, den man mal zur Rentenpolitik
befragen kann, dann sollte davor gut sicht-
bar ein Hinweis eingeblendet werden: Vor-
sicht, jetzt kommt jemand, der bekannt ist
für die Normalisierung rechtsextremer
Posi tionen. Es ist einfach nicht normal,

was der Chef der drittstärksten Partei im
Bundestag über den Holocaust sagt.
SPIEGEL:Sie wollen, wenn wir Sie richtig
verstehen, mit Rechten umgehen, wie es
in der alten Bundesrepublik üblich war.
Ruch:Keine Toleranz, ja. Ächtung und
Totschweigen.
SPIEGEL: Aber ist unsere mediale Welt
nicht eine völlig andere? Die alte Gate -
keeper-Theorie, nach der Journalisten ent-
scheiden können, wer reingelassen wird
in den Diskurs und wer draußen bleibt,
stimmt nicht mehr in der digitalen Welt.
Der SPIEGELhat auch schon Herrn Höcke
porträtiert, um zu zeigen, was der Mann
vorhat und was er wirklich denkt.
Ruch:Der Kerl wirbt damit, wenn er in der
»New York Times« steht oder im SPIEGEL.
SPIEGEL:Na und?
Ruch:Es ist keiner politischen Führungs -
figur möglich, ohne die Macht der klassi-
schen Medien an die Spitze einer Partei zu
gelangen. Wenn Höcke ein Blog betreiben
würde, wäre er nur ein Verschwörungstheo-
retiker. Der SPIEGELversorgt ihn mit einem
wichtigen Rohstoff: politischer Legitimität.
Auch die AfD liest ja den SPIEGEL.
SPIEGEL:Aber wir wollen doch wissen,
was Höcke sagt und denkt.
Ruch:Warum?
SPIEGEL:Weil wir auch den politischen
Gegner kennenlernen wollen. Es gehört
zum Wesen einer Demokratie, mit allen
zu reden, um dem Publikum die Möglich-
keit der Meinungsbildung zu geben.
Ruch:Ich kann Ihnen nicht widersprechen,
dass es Ihr Auftrag ist, die Gesellschaft auf-

112 DER SPIEGEL Nr. 35 / 24. 8. 2019


Politaktion »Erster europäischer Mauerfall« in Marokko 2014: »Absturz des Humanismus«
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