Der Stern - 15. August 2019

(Barré) #1

Wenn manFotos aus IhrerKindheit


betrachtet,siehtmaneinenernsten,


manchmalbösedreinblickendenJungen,


derseineAltersgenossenummindes-


tenseineHaupteslängeüberragt.Wann


istIhnenbewusstgeworden,dassSie


nichtnurgrößer,sondernauchsonst


ganzanderssindalsdieanderen?


IchkannmicheigentlichankeineZeiter-


innern,inderichdasnichtwusste.Alsich


etwazweiJahrealtwar,ichhattegeradezu


redenangefangen,dawuchsenmirScham-


haare.Dunkelunddrahtig.


DaswarenersteZeichenIhrer


beginnendenPubertät...


Richtig.VondaanwarmeinLe-


bengeprägtvonrasenderWut,


Ausrastern,Angstundgewalt-


tätigenAusbrüchen.Geistigwar


ich ein Baby, körperlich ein


Teenager.


Wasist der Grund fürden


ungewöhnlichfrühenWachs-


tumsschub?


Esist eineMutation desso-


genannten LHCGR-Gens am


Chromosom2,diedieseextrem


selteneKrankheitverursacht.


Weltweit betrifftsie nur ein


paar Hundert Männer. Die


Mutationistvererbbar,ichhabe


sievonmeinemVater,derhatte


sievonseinem.Dasgehtsoweit


zurück,wieesAufzeichnungen


übermeineFamiliegibt.


UndwiewirktesichdieGen-Verände-


runggenauaus?


DieMutationtrickstimGrundedieHoden


aus.DiebekommendasSignal,dassder


KörperbereitseifürdiePubertät.Dann


öffnensich dieSchleusentore,undder


Organismus wird durchspült mit dem


SexualhormonTestosteron.DieKnochen


undMuskelnbeginnenzuwachsen,die


Köperbehaarungauch.Esisteineganznor-


malePubertät,nurvielzufrüh.Mitdrei


hatteicheinenleichtenBartundAkne.Das


TestosteronwütetedurchmeinenKörper.


Verhielten Sie sich wie ein pubertieren-


der Teenager?


Ich war fast unerträglich. Mit drei habe ich


im Streit mit meiner Mutter eine Glastür


mit der Hand durchschlagen. Daran erin-


nere ich mich noch genau. Es war sehr dra-


matisch. Ich hatte mir eine Arterie im
Handgelenk durchtrennt. Mein Vater ver-
suchte, die Blutung zu stoppen, indem er
mir mein Superman-Handtuch um den
Arm wickelte. So standen wir am Straßen-
rand in New York City und warteten auf
den Notarztwagen. Fast hätte ich die Hand
verloren.
Wie gingen Ihre Eltern mit Ihrer Krank-
heit um?
Mein Vater schwieg. Meine Mutter war
eine großartige Kämpferin, die mich im-
mer verteidigte. Sie war meine Anwältin.
Ohne sie wäre alles noch viel schlimmer
geworden.
Was hat sie so Besonderes gemacht?
Sie war eine junge, hübsche Frau, die Leute
mochten sie. Also ließen sie mir ein paar
Sachen mehr durchgehen. Sie war meis-
tens mit mir unterwegs und musste erklä-

ren, warum ich nicht so aussah, wie ein
kleiner Junge normalerweise aussieht, und
mich nicht so benahm. Sie musste sich
dauernd für mein Verhalten entschuldi-
gen, wenn ich mal wieder in der Schule,
beim Spielen oder Training ausgerastet
war. Sie gab alles für mich auf. Eigentlich
wollte sie Schauspielerin werden. Statt-
dessen wurde sie meine Beschützerin.
Es gab bestimmt reichlich Momente,
in denen sie einspringen musste.
Ich erinnere mich, dass wir mal im
Schwimmbad in der Frauen-Umkleide wa-
ren. Ich war vier oder fünf Jahre alt. Eine

ältere Frau sah, wie muskulös und körper-
lich weit entwickelt ich schon war. Sie
schrie meine Mutter an, wieso sie einen
jungen Mann mitbringe.
Was passierte dann?
Meine Mutter versuchte zu erklären, dass
ich noch ein kleiner Junge sei. Die Frau
glaubte ihr nicht. Sie beschimpfte meine
Mutter als Lügnerin. Meine Mutter gab
nicht auf. Am Ende weinten wir beide.
Solche Auseinandersetzungen passierten
ständig. Für meine Mutter war das grausam.
Ihr Baby wurde beleidigt und an ge feindet.
Jahre später erzählte sie mir, dass sie im-
mer eine Packung Taschentücher dabei-
hatte. „Ich habe immer geweint“, sagte sie.
Und Sie? Wie sind Sie damit umgegangen?
Es war eine Katastrophe. Ich war verletzt,
schämte mich für das, was ich war. Ich
wurde wütender und noch aggressiver.
Mein Verhalten geriet außer
Kontrolle. Ich war ständig in
Schlägereien verwickelt.
Konnten Ärzte Ihnen helfen?
Ab dem Alter von drei war ich re-
gelmäßig im National Institute
of Health (NIH) in Maryland.
Dort war ich, wie ich heute weiß,
Teil einer Studie über verfrühte
Pubertät. Das gab mir das Gefühl,
eine Art medizinische Berühmt-
heit zu sein. Ich ging alle sechs
Monate für etwa eine Woche hin.
Es wurden eine ganze Reihe Tests
mit mir gemacht, die ich in mei-
nem Alter nicht so klasse fand.
Woran erinnern Sie sich noch?
Meine Hoden wurden vermes-
sen, um das wahre Alter meines
Körpers feststellen zu können.
Das war für Sie als kleinen Jun-
gen sicher unangenehm. Ver-
standen Sie, warum das ge-
macht wurde?
Nein. Alles war furchtbar, es war auch nicht
einfühlsam. Ich habe mich immer gewehrt.
Eine Gruppe Ärzte musste mich in meinem
Bett festhalten. Sie hatten so eine Art
Schlüsselring, da hingen hölzerne Hoden
in verschiedenen Größen dran. Mit denen
wurden meine dann verglichen. Es ist kei-
ne Überraschung, dass bei meiner Krank-
heit, die auch die Hoden betrifft, diese
ständig gedrückt, vermessen oder mit
Nadeln angestochen wurden. Ich war eine
Laborratte.
Warum ließen Ihre Eltern das zu?
Weil ich dafür kostenlos Medikamente be-
kam, die die Testosteron-Ausschüttung
senken und meine Probleme lindern soll-
ten. Ich musste auch immer Blut abgeben.
Meine Mutter machte Scherze, dass ich

W


6 Jahre
Das Baseball-Team schätzte
Patricks Größe und Stärke,
für ihn ein seltenes Erlebnis

„Als böses Kind


ist man irgendwann


auch cool“


98 15.8.2019

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