Der Stern - 15. August 2019

(Barré) #1

FOTO: LIZ KUBALL/STERN


damit für meine Behandlung bezahlte.
Und dann gab es noch die Bilder. Ein komi-
scher Fotograf war dafür zuständig, die
medizinischen Anomalien zu dokumen-
tieren. Er hatte sein Studio im Keller, das
war absolut unheimlich. Ich stand nackt
vor ihm, und er sollte meine Genitalien
fotografieren. Meine Mutter fand das
schrecklich und sagte nach dem zweiten
Foto: Schluss, das will ich nicht.
Halfen die Medikamente, die Sie be kamen?
Mein Gefühl: Nein oder nur wenig. Ich war
einer der ersten Jungs, die sie mit dieser
Krankheit dort zu sehen bekamen. Sie
wussten in Wahrheit gar nicht, was sie
taten. Sie mischten Medikamenten-Cock-
tails und probierten sie aus. Das Ziel war,
meine Entwicklung zu verlangsamen und
mir eine eher normale Kindheit zu ermög-
lichen. Das funktionierte die ersten Jahre
überhaupt nicht. Als ich etwa
zehn Jahre alt war, hatten sie
endlich einen Mix von Chemi-
kalien gefunden, der wenigstens
ein bisschen half.
Das klingt gefährlich. Litten
Sie unter Nebenwirkungen?
Immer mal wieder. Einmal
wuchsen mir Brüste, wie bei
einer Frau. Das Mittel wurde
dann natürlich abgesetzt.
Sie waren früh getrieben von
sexuellem Verlangen. Eines
Ihrer beliebten Spiele, sagten
Sie einmal, war: Ich zeig dir
meins, wenn du mir deins
zeigst. Wie funktionierte das?
Da war ich noch sehr jung, etwa
fünf Jahre alt. Ich war regelrecht
besessen davon. Für die anderen
war es nur ein harmloses Spiel,
für mich war es viel ernster.
Worin lag der Unterschied?
Ich war körperlich bereit für Sex und spür-
te Verlangen und Lust. Ich wusste nur
nicht, wie damit umzugehen oder diese
Gefühle gar zu befriedigen. Ich hatte eine
gleichaltrige Freundin, Abigail. Wir gingen
oft ins Bad und spielten meine Variante
von „Ich zeige dir meins, wenn du mir
deins zeigt.“
Wie ging die?
Wir zogen uns aus, und während sie
auf der Toilette saß, versuchte ich, zwi-
schen ihren Beinen durchzupinkeln. Ich
hatte jedes Mal eine mächtige Erektion.
Ich war mit fünf Jahren bereit für Sex,
aber wusste ja nicht mal, was das ist. Die
Erinnerungen an diese „Spiele“ haben
mich später lange verfolgt. Ich hatte
Angst, dass ich eine Art Kleinkind-Sex-
monster war.

Haben Sie mit Ihrer Freundin jemals
darüber gesprochen?
Ja, vor Kurzem. Ich rief sie an und fragte,
wie sie das empfunden hat. Sie meinte, sie
sei nicht traumatisiert. Für sie waren es
normale Doktorspiele. All die Scham, sie
missbraucht zu haben, war nur in meinem
Kopf. Zum Glück.
Sie wurden auch gemobbt und ausge-
grenzt. Wie sind Sie damit umgegangen?
Ich fühlte den Schmerz und war traurig.
Dann schlug ich zu, als Sechsjähriger mit
der Wucht eines Teenagers. Die Auseinan-
dersetzungen gingen trotzdem meist nicht
zu meinem Vorteil aus.
Aber Sie waren doch so viel stärker?
Ja, aber es sah nicht gut aus, wenn ich, das
riesige Monster, das ich war, auf ein klei-
nes Kind einschlug. Niemand glaubte,
dass ich mich nur wehrte, weil ich geärgert

worden war. Ich war der Außenseiter, bald
nannten mich alle das „böse Kind“.
Wie fühlte sich das an?
Furchtbar. Ich erinnere mich noch genau,
wie ich es das erste Mal gehört habe. Wir
waren gerade von New York nach Los An-
geles gezogen, und es war Tag der offenen
Tür in meiner neuen Grundschule. Ich soll-
te in die zweite Klasse gehen. Wir hatten
den Klassenraum dekoriert, und ich woll-
te meinen Eltern mein Bild zeigen. Da
stand mein Mitschüler mit seinen Eltern
und sagte: „Das ist von dem bösen Kind.“

Er wusste nicht, dass ich ihn hörte, also
sagte er es nicht, um mich zu ärgern.
Wie reagierten Sie?
Erst fühlte ich mich missverstanden und
allein. Aber als böses Kind ist man irgend-
wann auch cool. Man bekommt Aufmerk-
samkeit. Ich wurde zu einer Art Legende.
Es verstärkte mein schlechtes Verhalten
nur. Am Ende der Grundschule rauchte ich


  • auch Marihuana. Ich schlich mich nachts
    aus dem Haus, trieb mich rum und malte
    Graffiti.
    Ihre Eltern müssen sich große Sorgen ge-
    macht haben. Sie waren geistig immer
    noch ein zehn Jahre altes Kind.
    Sie kamen vor Angst fast um. Aber sie
    wussten nicht, was sie tun sollten. Sie
    waren sehr liebevoll, aber ich war außer
    Kontrolle. Je mehr ich durchdrehte, desto
    strenger wurde mein Vater.
    Was tat er, um Sie zu bändigen?
    Er wurde nie handgreiflich. Aber
    jedes Mal, wenn er mich er-
    wischte, brummte er mir für
    zwei Wochen Hausarrest auf.
    Das wuchs zu Wochen und Mo-
    naten. Ich rebellierte nur noch
    mehr und wurde gewiefter.
    Hätten Sie auf mehr Verständ-
    nis von ihm gehofft?
    Ja, auf jeden Fall. Ich wusste
    nicht mal, dass er auch diese
    Krankheit hatte. Er redete nicht
    darüber. In seinen Augen war ich
    nur zu schwach, mich selbst zu
    kontrollieren. Er hat nie ein Wort
    über diese beschissene Muta-
    tion gesagt. Dabei wäre auch er
    fast daran zugrunde gegangen.
    Wie erklären Sie sich das?
    Weil er sich dann hätte eingeste-
    hen müssen, dass er sie an mich
    vererbt hatte. Vielleicht fühlte
    er sich schuldig. Für ihn war und ist das
    Thema mit viel Scham behaftet. Er ver-
    sucht, es zu verdrängen.
    Die Krankheit und deren Auswirkungen
    ziehen sich durch Ihre Familiengeschich-
    te. Ihr Vater wäre fast im Knast gelandet,
    und das Leben Ihres Urgroßvaters Bud
    verlief extrem dramatisch.
    (lacht) O ja. Er lebte in Omaha, Nebraska.
    1917, als er elf Jahre alt war, ging er zur Army
    und kämpfte gegen die Deutschen im Ers-
    ten Weltkrieg.
    Wie konnte es einem Kind gelingen,
    Soldat zu werden?
    Es wird erzählt, er habe dem Anwerber
    gesagt, er sei 20. Mit seinen 1,80 Meter
    und dem Bart sah er auch so aus. Er wurde
    als Fahrer an die Front in Frankreich ge-
    schickt. Da wurde es ihm langweilig,er 4


Heute
Mit Ende 30 lebt
Burleigh mit seiner
Familie in Kalifornien

„Mein Vater redete nicht


über die Krankheit.


Ich wusste nicht mal, dass


er sie auch hatte“


15.8.2019 99
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