Süddeutsche Zeitung - 09.08.2019

(Frankie) #1
Berlin– Amazon tut es. Apple tat es. Goo-
gle tat es. Wer fehlt? Microsoft. Und offen-
bar lässt auch das vierte große Tech-Unter-
nehmen Sprachaufnahmen von menschli-
chen Mitarbeitern abhören. Im Gegensatz
zu Alexa, Siri und Google geht es aber nicht
nur um Sprachassistenten, sondern auch
um ein Programm, das Hunderte Millio-
nen Menschen für berufliche und private
Telefonate nutzen: Skype.
Wer seine Sprach- und Videoanrufe mit
dem Skype Translator übersetzen lässt,
muss einem Bericht vonVicezufolge damit
rechnen, dass nicht nur die Gesprächspart-
ner, sondern noch mehr Menschen zuhö-
ren. Microsoft selbst spricht von einem
„maschinellen Lernprozess“. Im Hilfebe-
reich heißt es nur, dass „automatische
Transkripte analysiert werden“. Dass diese
Aufgabe offenbar von Menschen erledigt
wird, geht aus Microsofts Erklärung nicht
hervor. Auch in der Datenschutzerklärung
steht kein Wort darüber.

Die Vorwürfe basieren auf internen Un-
terlagen, Screenshots und Audio-Mitschnit-
ten, die eine anonyme QuelleVicezuge-
spielt hat. Der Whistleblower arbeitet bei
einem externen Dienstleister von Micro-
soft, wo er die Aufnahmen abhört und ana-
lysiert. Schon die Tatsache, dass er oder sie
die Dokumente anViceweitergeben könne,
zeige, wie fahrlässig Microsoft handle und
welch geringe Rolle Datenschutz dort spie-
le, sagte die Quelle demnach. Ein Teil der
Angestellten soll die Aufnahmen nicht ein-
mal in einer geschützten Büroumgebung,
sondern von zu Hause aus bearbeiten. Aus
den Unterlagen gehe auch hervor, dass
Microsoft Mitarbeiter beschäftigt, die Auf-
nahmen der Sprachassistentin Cortana
abhören und transkribieren. In den vergan-
genen Monaten hatten mehrere Medien
aufgedeckt, dass „künstliche“ Intelligenz
überraschend oft menschliche Ohren hat:
Nach heftiger Kritik stellten Apple und Goo-
gle die Praxis vorerst ein. Amazon gibt Nut-
zern zumindest eine Möglichkeit, die manu-
elle Auswertung zu deaktivieren.
Als die SZ Microsoft im Juli fragte, ob
und in welchem Umfang Menschen bei Cor-
tana mithören, antwortete das Unterneh-

men zwei Wochen lang nicht. AlsViceim
April wissen wollte, wie viele Menschen
Cortanas Aufzeichnungen hören können,
sagte eine Sprecherin nur: „Microsoft weiß
zu keinem Zeitpunkt, wer Fragen an Corta-
na gestellt hat.“ Auf eine aktuelle SZ-Anfra-
ge sagte Microsoft nun, dass es die Daten
anonymisiere und von Vertragspartnern
eine Geheimhaltungsvereinbarung verlan-
ge. Zudem müssten diese externen Dienst-
leister hohe Datenschutzstandards einhal-
ten. Microsoft mache die „Nutzung von
Sprachdaten transparent, um sicherzustel-
len, dass unsere Kunden informierte Ent-
scheidungen darüber treffen können,
wann und wie ihre Sprachdaten verwendet
werden“. Das Unternehmen hole sich die
Zustimmung ein, bevor es Sprachdaten
sammle und nutze. Wie Nutzer eine infor-
mierte Entscheidung treffen sollen, wenn
sie nicht wissen, dass Menschen ihre Tele-
fonate abhören, erklärte Microsoft nicht.
Wie die vergangenen Enthüllungen zu
den Aufnahmen von Alexa, Siri und Google
enthält auch der Bericht vonViceZitate
von Mitarbeitern, die beim ersten Lesen
schockieren: „Einige der Dinge, die ich ge-
hört habe, können eindeutig als Telefon-

sex beschrieben werden“, sagt eine Quelle.
„Ich habe gehört, wie Menschen ihre voll-
ständigen Adressen verraten oder Cortana
nach Pornografie suchen lassen.“ Auch Mit-
arbeiter von Amazon, Apple und Google
hatten von Berufsgeheimnissen, intimen
Szenen und sogar von einer Vergewalti-
gung erzählt, die sie zu Ohren bekommen
hätten, weil Sprachassistenten versehent-
lich aktiviert worden seien.
Der Skandal aber liegt nicht darin, dass
überhaupt Menschen zuhören, um Soft-
ware zu verbessern – sondern in der Tatsa-
che, dass das jahrelang verheimlicht und
verharmlost wurde. Nicht einmal Apple,
das sonst bei jeder Gelegenheit beteuert,
wie wichtig Transparenz und Datenschutz
seien, hatte Nutzer eindeutig darauf hinge-
wiesen, dass ein Teil der Aufnahmen von
Menschen analysiert wird.
Nutzer können aus den jüngsten Enthül-
lungen lernen: „Künstliche Intelligenz“,
„Algorithmen“ und „maschinelles Lernen“
sind keine Magie. Dahinter stecken nicht
nur menschliche Entwickler, die jene Tech-
nik konstruieren, sondern oft auch
menschliche Kontrolleure, die mit den er-
fassten Inhalten arbeiten. simon hurtz

Berlin– Facebook steht erneut in der Kri-
tikwegen zu lascher Datenschutzkontrol-
le. Ausgangspunkt ist das Start-up Hyp3r
aus San Francisco, dessen Überwachung
und Analyse von Nutzerdaten jetzt durch ei-
ne Recherche des Online-MagazinsBusi-
ness Insideröffentlich wurde. Betroffen
sein sollen Millionen Nutzer der Facebook-
Tochter Instagram.
Für Firmen, die personalisierte Wer-
bung machen wollen, klingt das Angebot
von Hyp3r verlockend: Das Unternehmen
verspricht, dass Werbung dank der gesam-
melten Daten „ganz besonders wertvolle
Kunden erreichen“ könne. Dazu hat das
Unternehmen offenbar Nutzerdaten von
Millionen Instagram-Usern gesammelt.
Gespeichert wurde zum Beispiel, wo sich
Nutzer aufhalten, aber auch Informatio-
nen zu ihren Profilen und Inhalte wie die
Kurzvideos in den Instagram-Stories, die
eigentlich nach 24 Stunden aus der App
verschwinden. Hyp3r aber sicherte die
Filmchen dauerhaft mit einem eigens ent-
wickelten Programm.
Der Fall weckt Erinnerungen an den
Skandal um Cambridge Analytica. Denn
Hyp3r hatte zunächst die offizielle Schnitt-
stelle von Instagram genutzt, um die Da-
ten abzugreifen, wie es auch das britische
Unternehmen getan hatte. Allerdings um-
ging Hyp3r auch die Regeln, die Facebook
und Instagram für Werbekunden aufstel-
len – nutzte aber gleichzeitig ebenjene Wer-
betools, mit denen auch der Facebook-Kon-
zern sein Geld verdient.
Warum die Daten, die Hyp3r gesammelt
hat, so wertvoll sein können, zeigt sich am
Beispiel der Hotelkette Marriott: So konn-
ten einzelne Marriott-Hotels dank Hyp3r
persönlich zugeschnittene Werbung an
Nutzer schicken, die gerade in ihrem Hotel
eingecheckt hatten. Oder auch an Insta-
gram-User, die in einem Hotel bei der Kon-
kurrenz in derselben Stadt übernachteten.
Gesammelt hat Hyp3r die Daten zunächst
über die Programmierschnittstelle.
Doch das Problem liegt nicht allein in
der Datengier des Marketing-Start-ups,
sondern auch daran, dass Instagram und
sein Mutterkonzern Facebook diese Art
der Überwachung überhaupt ermögli-
chen. Zwar betonte ein Facebook-Spre-
cher, dass „die Handlungen von Hyp3r
nicht genehmigt waren und gegen unsere
Richtlinien verstoßen“. Bis dahin war
Hyp3r allerdings offizieller „Facebook Mar-
keting Partner“. max hoppenstedt


Köln –Der Allianz-Vertreter A. aus Rhein-
land-Pfalz ist sauer, so sauer, dass er eine
Mail an den Vorstand der Allianz Private
Krankenversicherung (APKV) schreibt und
sie auf einem Vertreter-Blog mit seinen
Kollegen teilt.
Der Vorgang: Am 18. Januar reicht ein
Kunde eine hohe Leistungsabrechnung
über einen Krankenhausaufenthalt ein.
Die APKV verlangt noch eine Bescheini-
gung, die am 22. Januar nachgereicht wird.
Vier Wochen lang passiert nichts. Auf tele-
fonische Nachfrage des Vertreters heißt es,
der Vorgang sei in der finalen Bearbeitung.
„Wieder vier Wochen später (wir sind fest
davon ausgegangen, der Versicherungs-
nehmer hat bereits das Geld erhalten) hat
sich dieser bitterböse bei uns beschwert“,
schreibt A. Der Vertreter ruft wieder an.
Die Allianz habe die Bankverbindung
nicht. Die ist aber mit dem Vertrag hinter-
legt. „Hierauf bekamen wir zur Antwort,
dass die Sachbearbeiterin das technisch
nicht einsehen könne.“ Die Nummer wird
noch einmal mitgeteilt.
Der Kunde will die gesamte Zusammen-
arbeit mit der Allianz aufkündigen. Die Ver-
tretung ruft erneut an und erfährt, es fehl-
ten die Belege – die aber schon im Januar
geliefert wurden. Ein Beschwerdege-
spräch wird nach 20 Sekunden von der Alli-
anz-Mitarbeiterin abgebrochen. „Das Sys-
tem ist komplett abgestürzt, da kann man
heute gar nicht reinschauen.“
A. ist nicht der einzige Vertreter, der sau-
er ist. P. aus Nordrhein-Westfalen streckt
einer Kundin das Tagegeld für den Ver-
dienstausfall privat vor. Sein Kollege S. aus
Hessen fasst zusammen: „Wir reden hier
von konzentrierter Fachwissen-Freiheit
mit ausgeprägter Beratungsresistenz, ge-
paart mit Münchner Ignoranz der Spätfol-
gen einer stümperhaft umgesetzten Digita-
lisierungshysterie auf Kosten der (gut aus-
bildeten) Arbeitskräfte.“
Es rumort bei Versicherungsvertretern
der Allianz. Diesmal geht es den Vermitt-
lern des größten deutschen Versicherers
nicht in erster Linie ums Geld, schließlich
haben sie in jüngster Zeit deutlich mehr
verdient. Aber sie bemängeln schwere Pro-
bleme mit der IT ihres Unternehmens und
kritisieren die mangelhafte Bearbeitungs-
qualität im Innendienst. Dafür machen sie
die Führung verantwortlich.
„Es stimmt, dass wir in der privaten
Krankenversicherung in den ersten Mona-

ten des Jahres Bearbeitungsrückstände
hatten“, sagt Joachim Müller, Vorstand der
Allianz Deutschland und zuständig für den
Vertrieb und die Sachversicherung. „Das
liegt daran, dass die Kunden heute ihre
Rechnungen anders einreichen.“ Früher
hätten viele Rechnungen und andere Bele-
ge gesammelt und am Ende des Jahres zu-
sammen geschickt. Jetzt reichen viele Kun-
den ihre Belege digital ein – im ganzen
Jahr. „Heute sind die Arbeitsstände im Nor-
malbereich“, sagt Müller.

Aber es geht nicht nur bei der APKV
bunt zu. Auch der Lebensversicherer hat
Probleme. Vertreter V. aus Baden-Würt-
temberg muss einem Kunden „nun wieder
ein Märchen erzählen, wieso der Marktfüh-
rer es nicht schafft, in mehr als vier Wo-
chen eine Police auszufertigen, obwohl das
Geld eh schon bei uns liegt“. Ein Kunde ei-
nes anderen Agenten will 40000 Euro in ei-
ne Rentenversicherung gegen Einmalbei-
trag einzahlen, die Allianz braucht acht Wo-
chen für die Abbuchung.
„Langsam kommt mir echt die Galle
hoch“, schreibt Vertreter T. aus Baden-
Württemberg. Es geht um die Unfallversi-
cherung. „Kundin ist infolge eines Sturzes
auf dem Balkon unterkühlt und im Kran-
kenhaus dann gestorben, also hier unmit-
telbare Unfallfolge.“ Ein Sachbearbeiter
sagt die Todesfallleistung telefonisch zu.
Aber: „Es liegen seit knapp zwei Monaten
alle Unterlagen vor, inklusive Kranken-
hausbericht, und es passiert rein gar
nichts.“ Auf Reklamationen hören die Ver-
treter nur das bekannte „ist in Bearbei-
tung“. Der Vertreter H. aus Baden-Würt-
temberg ist selbst Reiter. Er schickt Interes-
senten für die Tier-Krankenversicherung
jetzt lieber zur Konkurrenz, weil er keine
Lust hat, Kunden durch schlechte Schaden-
bearbeitung zu verlieren.
Vorstand Müller spricht von Einzelfäl-
len. „Die Stimmung in unseren Agenturen
ist gut, ich rede oft mit ihnen“, sagt er. Aller-
dings: „Wir wachsen sehr stark, noch stär-
ker als wir angenommen haben“, so Mül-
ler. „Das kann natürlich dann in einzelnen
Fällen zu Problemen bei der Bearbeitung
kommen.“ herbert fromme

New York– Wenn ein Unternehmen, das
Pakete ausliefert, plötzlich keine Pakete
mehr ausliefern will, zumindest nicht die
eines wichtigen Großkunden, dann muss
etwas gehörig schief gelaufen sein in der
Beziehung zum bisherigen Geschäftspart-
ner. Anders lässt sich nicht erklären, war-
um der Logistikkonzern Federal Express
(Fedex) jetzt angekündigt hat, den Ende Au-
gust auslaufenden Vertrag mit dem Online-
Händler Amazon nicht zu verlängern. Statt-
dessen, so Fedex, wolle man sich in Zu-
kunft auf andere Kunden und „den breite-
ren E-Commerce-Markt konzentrieren“.
Hintergrund der Entscheidung ist offen-
bar das Amazon-Vorhaben, immer mehr
Bestellungen selbst auszuliefern. Der Kon-
zern hat dazu in großem Stil Lieferwagen
gekauft und eigene Fahrer eingestellt, zu-
gleich heben auf den Flughäfen der USA im-
mer öfter Frachtmaschinen mit der hell-
blauen Aufschrift „Prime Air“ ab. Fast die
Hälfte aller Pakete, die Kunden in den USA
über Amazon ordern, werden mittlerweile
von Mitarbeitern des Konzerns zugestellt.
Noch Anfang 2017 hatte diese Quote bei ge-
rade einmal gut zehn Prozent gelegen.
Bald schon will das Unternehmen mit Sitz
in der Westküstenmetropole Seattle zu-
dem damit beginnen, auch Warensendun-
gen anderer Anbieter auszuliefern.
Amazon ist damit für Fedex längst nicht
mehr nur Kunde, vielmehr sieht sich der
Logistikkonzern auf seinem ureigenen Ter-
rain attackiert. Die Fedex-Spitze habe reali-
siert, „dass aus einem falschen Freund ihr
Rivale geworden ist“, sagte Trip Miller vom
Finanzhaus Gullane Capital der Agentur
Reuters. Der Online-Dienst Axios bezeich-
nete Amazon schon als „den neuen König
des Transportgewerbes“. Offenbar wollte
Fedex den künftigen Wettbewerber nun
nicht länger bei dessen Einbruch in den Lo-
gistikmarkt unterstützen.
Fedex kann den Verlust des prominen-
ten Kunden verschmerzen, weil man zu-
letzt ohnehin nur noch rund ein Prozent al-
ler Amazon-Pakete auslieferte. Damit ist
der Konzern aus Memphis weit weniger ab-
hängig von dem Online-Händler als der Ri-
vale UPS, der gut 20 Prozent aller bei Ama-
zon georderten Waren zu den Endkunden
bringt. Größter Zusteller war lange Zeit die
US-Post, deren Anteil sich allerdings zwi-
schen Anfang 2017 und Mitte 2019 von et-
wa 60 auf gut 30 Prozent halbiert hat.
Die Amazon-Führung reagierte offiziell
gelassen auf die Fedex-Ankündigung, da-
bei trifft sie der Beschluss zur Unzeit: Nicht
nur, dass schon bald das Weihnachtsge-
schäft ansteht, der Online-Konzern hat sei-
nen Kunden auch versprochen, so viele Be-
stellungen wie möglich künftig binnen ei-
nes Tages zuzustellen. Experten verweisen
zudem darauf, dass es selbst für eine Fir-
ma wie Amazon ein weiter Weg sei, bis sie
auf dem Logistikmarkt mit den Marktfüh-
rern Fedex und UPS konkurrieren könne:
Wenn das das Ziel sei, werde Amazon noch
Dutzende Milliarden Dollar in Lkw, Flug-
zeuge und neue Logistikzentren investie-
ren müssen. claus hulverscheidt

von benedikt müller

Düsseldorf– Guido Kerkhoff schwafelt
nicht gern und mag klare Ansagen. Doch
derlei harte Worte sind auch für seine Ver-
hältnisse ungewöhnlich: „Dass Geschäfte
ohne klare Perspektive dauerhaft Geld ver-
brennen und damit Wert vernichten, den
andere Bereiche erwirtschaftet haben“,
sagt der Chef von Thyssenkrupp, „wird es
jedenfalls in Zukunft nicht mehr geben.“
Wumm, das hat gesessen.
Kerkhoff hat in seinem Konzern Werke
ausfindig gemacht, die „trotz intensiver
Anstrengungen“ nicht wettbewerbsfähig
seien und Geld verlieren. Diese Geschäfte
mit etwa 9300 Beschäftigten stelle Thys-
senkrupp nun „auf den Prüfstand“: Es
geht um Federn und Stabilisatoren, die in
Autos stecken, aber auch um Anlagen für
die Autoindustrie sowie um Grobbleche,
die in Schiffen oder Pipelines verbaut wer-
den. Sogenannte Sanierungsexperten sol-
len da nun ran. Man sehe zwar durchaus
Chancen für diese Geschäfte, sagt Kerk-
hoff, „aber nicht notwendigerweise unter
dem Dach von Thyssenkrupp.“
Gut möglich also, dass einer der größten
Industriekonzerne Deutschlands bald wie-
der ein bisschen kleiner wird.


Investoren kritisieren seit Jahren, Thys-
senkrupp sei mit seinen vielen Sparten
vom Stahlwerk bis zum Aufzugsbau zu
komplex aufgestellt, die Zentrale in Essen
sei übergroß. Sie bevorzugen Firmen, die
sich auf wenige Geschäfte konzentrieren.
Erschwerend kommt hinzu, dass Thyssen-
krupp vor Jahren übermütig nach Brasili-
en expandierte und so Milliarden versenkt
hat. Dieses Geld fehlt heute an allen Ecken
und Enden; Investitionen müssen warten.
Finanzfachmann Kerkhoff, der vor ei-
nem Jahr an die Spitze rückte, will nun
„ein grundlegend neues Thyssenkrupp
bauen“. Ihm schwebt eine Holding vor, ei-
ne Dachgesellschaft also mit mehr Freiheit
für die einzelnen Geschäfte. Der einst so
stolze Ruhrkonzern solle „schlanker,
schneller, einfacher und flexibler“ werden.
Es ist ein Grundsatz, dem sich etwa Sie-
mens schon vor Jahren verschrieben hat.
Doch kann das auch in Essen klappen?
Für die gut 160 000 Beschäftigten be-
deuten die Ankündigungen zunächst: Unsi-
cherheit. Bis zu 6000 Stellen will Thyssen-
krupp in den nächsten Jahren abbauen, da-
von 4000 in Deutschland. Näheres dazu
will der Konzern bis Jahresende bekannt
geben. Fest steht, dass Rechtsvorstand Do-
natus Kaufmann bis Ende September ge-
hen wird. Und dass die Verwaltungskosten
weiter sinken sollen. Am besten flott.
Zudem will Kerkhoff das Geschäft mit
Aufzügen und Rolltreppen teilweise an die
Börse bringen, um dringend nötiges Kapi-
tal einzusammeln. Der Konzern will aber


mehrheitlich an der Sparte beteiligt blei-
ben, da sie die höchsten und stabilsten Ge-
winne im Thyssenkrupp-Reich einfährt.
Schon im nächsten Geschäftsjahr, also zwi-
schen Oktober 2019 und Oktober 2020,
könnte der Börsengang kommen, teilt der
Konzern mit.
Doch seitdem der Plan bekannt ist, ver-
zeichnet Thyssenkrupp ein „deutliches In-
teresse von Investoren“. Konkurrenten wie
Kone aus Finnland haben sich etwa für ei-
ne Aufzugsfusion ins Spiel gebracht. Derlei
Bekundungen prüfe man, seit Mai führe
der Konzern „verschiedene Gespräche“,
sagt Kerkhoff und fügt an: „Das gilt auch
für die anderen Geschäfte.“ Dem Vor-
standschef schweben also weitere Partner-
schaften unter dem Dach der neuen Hol-
ding vor. Auch das erinnert an den Sie-
mens-Konzern, der etwa seine Windkraft-
sparte in ein Gemeinschaftsunternehmen
mit der spanischen Gamesa ausgelagert
hat. Zusammen kann man Kosten sparen.
Die anderen Geschäfte, das sind bei
Thyssenkrupp etwa Komponenten für die

Autoindustrie. In dem Geschäft sei „Größe
entscheidend“, da sich die Branche gerade
wandele: hin zur Elektromobilität und
zum autonomen Fahren. Doch die Zuliefer-
sparte von Thyssenkrupp ist vergleichswei-
se klein; etwa kehrte der Konzern erst vor
zwei Jahren wieder auf die Internationale
Automobilausstellung in Frankfurt zu-
rück. Auch im Anlagenbau stelle sich die
Frage, „ob sich die Geschäfte durch Part-
nerschaften oder Zusammenschlüsse“
nicht besser entwickeln könnten.

Zum Kerngeschäft hat Kerkhoff hinge-
gen die Stahlwerke und den Werkstoffhan-
del erkoren. Damit sind sie großgeworden
im Ruhrgebiet, damit kennen sie sich aus,
hier kann sich Thyssenkrupp auch Zukäu-
fe vorstellen. Das Problem ist nur, dass ge-
nau diese Geschäfte derzeit schlecht lau-
fen. So haben etwa die Stahlwerke in den
ersten neun Monaten des Geschäftsjahres
nur 77 Millionen Euro vor Zinsen und Steu-
ern verdient, mehr als 80 Prozent weniger
als im Vorjahreszeitraum. In der Sparte gilt
nun ein Einstellungsstopp.
Denn viele Volkswirtschaften wachsen
in diesem Jahr schwächer, etwa wegen der
Handelskonflikte. Weltweit laufen in die-
sem Jahr weniger Autos vom Band. In der
Folge ist Stahl auf dem Weltmarkt billiger
geworden, während der Preis für den wich-
tigen Rohstoff Eisenerz stark gestiegen ist.
Eine schwierige Gemengelage, in der auch
die Gewinne anderer Stahlhersteller einge-
brochen sind.
Ursprünglich wollte Thyssenkrupp die
Stahlsparte in ein Gemeinschaftsunterneh-

men mit dem Konkurrenten Tata Steel ein-
bringen. Doch die Fusion scheiterte an
Wettbewerbsbedenken der EU-Kommissi-
on. Die Essener wollen nun gegen diese
Entscheidung klagen. Die Begründung aus
Brüssel sei derart schwach, sagt Kerkhoff,
„dass wir sie nicht stehen lassen wollen.“
Die Fusion kann er damit aber nicht retten:
Eine Klage kann drei Jahre dauern.
Im gesamten Konzern gingen in den ver-
gangenen Monaten zwar etwas mehr Auf-
träge ein als im Vorjahreszeitraum; auch
der Umsatz stieg leicht. Doch steht unter
dem Strich ein Verlust von gut 200 Millio-
nen Euro. Für das gesamte Geschäftsjahr
erwartet Thyssenkrupp nun nur noch ei-
nen Gewinn vor Zinsen und Steuern von et-
wa 800 Millionen Euro – 300 bis 400 Millio-
nen Euro weniger als ursprünglich pro-
gnostiziert. Auch andere Industriekonzer-
ne kassierten zuletzt ihre Prognosen. Da-
her hatten sich Anleger schon auf schlech-
te Zahlen eingestellt: Die Thyssenkrupp-
Aktie notiert seit einigen Tagen so niedrig
wie seit 16 Jahren nicht mehr.

Nutzerdaten bei


Instagramabgesaugt


Verärgerte Vertriebler


Allianz-Vertreter beschweren sich über IT und Management


Thyssenkrupp will kein Geld mehr verbrennen


Krise in der Autoindustrie, teures Eisenerz: Der Stahlkonzern schreibt Verluste und kassiert seine Jahresprognose. Nun stehen weitere
Geschäfte mit Tausenden Beschäftigten auf dem Prüfstand. Konkurrenten zeigen bereits Interesse

Mithörer bei Skype


„Maschineller Lernprozess“ – Microsoft lässt Nutzer im Dunkeln


„Langsam kommt
mir echt die Galle hoch“,
schreibt ein Außendienstler

Mitarbeiter des Softwarekonzerns
schnitten im Home-Office
allerlei Intimes mit

Die Aufzugsparte soll schon


bald an die Börse, Konkurrenten


bringen eine Fusion ins Spiel


DEFGH Nr. 183, Freitag, 9. August 2019 (^) WIRTSCHAFT HF2 17
Wer mit einer Maschine interagiert, sollte sich fragen: Könnte es sein, dass irgend-
wo ein Mensch zuhause sitzt und erfährt, was ich sage oder suche? FOTO: IMAGO
Schwieriges Stahlgeschäft: Nach dem Scheitern der Fusion mit Tata Steel sucht der Konzern nun andere Lösungen für seine Stammsparte. FOTO: ROLF VENNENBERND/DPA
Falscher
Freund
Fedex will nicht länger Pakete des
Online-Händlers Amazon zustellen
Thyssenkrupp
Schlusskurs am 8.8.19: 10,87 Euro
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2017 2018 2019
SZ-Grafik/smallCharts; Quelle: Bloomberg

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