Süddeutsche Zeitung - 09.08.2019

(Frankie) #1
„Sicher ist aber, dass das Defizit nicht un-
ter zweiProzent liegen kann“, sagte Vize-
Premier und Lega-Chef Matteo Salvini die-
se Woche in Rom, als er den Etat 2020 an-
kündigte. Dabei ist Italien gerade im letz-
ten Moment einem Defizitverfahren aus
Brüssel entgangen, das Milliardenstrafen
wegen Überschreitens der Neuverschul-
dungsgrenze von 1,6 Prozent bedeutet hät-
te. Die Mahnung der EU hatte der Rechtspo-
pulist Salvini zwar als „Brieflein aus Brüs-
sel“ abgetan, am Ende aber präsentierte
die Regierung von Premier Giuseppe Con-
te einen korrigierten Haushalt, der neue
Schulden 2019 auf 2,04 Prozent des Brutto-
inlandsprodukts (BIP) begrenzt.
Geht es nach Salvini, wird es keine gro-
ßen Einsparungen geben, um die giganti-
schen Staatsschulden des Landes einzuhe-
gen – 132 Prozent der Wirtschaftskraft,
nur Griechenland liegt in der EU darüber.

132 Prozent sind mehr als das Doppelte
der 60 Prozent, die es nach EU-Regeln sein
sollen, mit etwa 2,3 Billionen Euro steht Ita-
lien in den Miesen. Zugleich steht die Regie-
rung mit ihren teuren Wahlversprechen
tief in der Schuld der Wähler. Steuersen-
kungen, Flat Tax für kleine Unternehmen,
„Bürgerlohn“ – eine Sozialhilfe für die
Schwächsten – und anderes mehr.
Die Populisten der Fünf Sterne und die
der Lega streiten in der Koalition um fast al-
les, die Ausgabenwut aber bremsen vor al-
lem zwei Parteilose. Premier Conte und Fi-
nanzminister Giovanni Tria, ein anerkann-
ter Ökonom, der als einer der Vernünftigen
im Kabinett gilt. Weshalb er in der Schuss-
linie beider Regierungspartner steht, die
EU hofft auf sein Standvermögen. Tria hat
sich etwa strikt gewehrt gegen die kürzlich
von Salvini stark propagierte Idee, „Mini-
Bots“ einzuführen, Kleinststaatsanleihen,
um dem Volk doch weiterhin Geschenke
machen zu können und laufende Ausga-
ben zu finanzieren. Für 50 oder 100 Euro
sollte jeder Staatstitel kaufen können und
so für Liquidität sorgen. Dass dieser Ta-
schenspielertrick, der sogar zu einer Art
Parallelwährung werden könnte, nun erst
mal tot ist, liegt auch an Warnrufen vieler,
etwa des Arbeitgeberverbands Confindus-
tria und vor allem von EZB-Präsident Ma-
rio Draghi.
Zum Schuldenabbau bräuchte es Wachs-
tum und harte Kürzungen. Letztere aber
wären das Gegenteil populistischer Poli-
tik. Und Wachstum? Der durch keinerlei
Kompetenz glänzende Wirtschaftsminis-
ter Luigi Di Maio, Kopf der Cinque Stelle,
prophezeite zu Jahresbeginn den „neuen
Wirtschaftsboom“, 1,5 Prozent Wachstum
erhoffte die Regierung zunächst. Jetzt ist
klar, es liegt bei null. Die OECD rechnet so-
gar mit minus 0,2 Prozent. Der Schulden-
dienst wird zudem teurer, Italien muss für
seine Staatstitel mehr Zinsen zahlen als un-
ter der reformbemühten Vorgängerregie-
rung, auch wenn der Satz derzeit sinkt.
Es gibt aber auch dies: Die Arbeitslosig-
keit sank ein wenig auf 9,7 Prozent. Italien
legte 2018 beim Export zu und hat in der
Handelsbilanz ein Plus von fast 46 Milliar-
den. Es ist drittstärkster Exporteur der EU
und zweitstärkster Industriegüterprodu-
zent. Als Griechenland in der Schuldenkri-
se taumelte, unkten einige, nun stürze
auch Italien bald und alle mit ihm. Aber da-
zu hat es zu viel auf der Habenseite, und im
Zweifel gilt: too big to fail. Eine Staatspleite
Italiens kann sich keiner leisten, das Desas-
ter wäre zu groß. andrea bachstein

von oliver meiler

R


egierungskrise, und das mitten im
August. Früher war Italien der Som-
mer heilig, auch die Politik pausier-
te. Diesmal ist alles anders, und wahr-
scheinlich wird man sich einmal an einen
Auftritt von Matteo Salvini in Sabaudia er-
innern, einer Retortenstadt aus dem Fa-
schismus und Badeort im Süden Roms, wo
alles mit einer Verspätung begann. Es war
schon 21.35 Uhr am Mittwochabend, als
der Innenminister endlich auf die Piazza
fuhr, wo ihn einige Hundert neugierige Ur-
lauber erwarteten. Mehrere Fernsehsen-
der übertrugen live. Ein sehr aufgeregter,
sehr hoffnungsfroher Vertreter seiner Par-
tei hatte getwittert, der „Capitano“ werde
eine „Atombombe“ zünden. Die Koalition
der Lega mit den Cinque Stelle? Am Ende.
Die Regierung? Kurz vor der Explosion.
Dann betrat Salvini die Bühne, zog seine
Hose hoch, die Hemdsärmel hatte er schon
zurückgestülpt. Er trug sogar Krawatte,
die Aufmachung großer Tage. „Mamma
mia, was für ein Spektakel“, sagte er in die
Menge und setzte zu einer langen Rede an.
Er lobte sich selbst ausgiebig für tolle Ar-
beit in den vergangenen vierzehn Monaten
an der Regierung, für den Stolz, den er
„dem schönsten Land der Welt“ zurückge-
geben habe. „Es war ein sehr schönes
Jahr“, sagte er, gestand aber auch schlaflo-
se Nächte ein, denn ja: „Die Verantwortung
für dieses Land lastet schwer auf meinen


Schultern.“ Er wolle den Kindern ein besse-
res Italien hinterlassen. Salvini redet mitt-
lerweile so, als herrsche er alleine. Seine
Fans lieben es.
Mehr als eine Stunde dauerte die Rede,
die große Detonation aber blieb vorerst
aus. Salvini drohte mal wieder. Doch er
brach nicht mit seinen Regierungspart-
nern, den Fünf Sternen. Obschon sich die
im Senat erdreistet hatten, einen Stopp der
Schnellzugverbindung von Turin nach Ly-
on zu fordern. Salvini stellt die Ablehnung
des großen, bereits begonnenen Baupro-
jekts als Vertrauensbruch dar, als Illustrati-
on für das angebliche rückwärts gewandte
Denken der Sterne. Italien brauche viele
„Sì“, sagte er, keine „No“.

Vor allem aber dient ihm die Angelegen-
heit plötzlich als Vorwand für den Bruch
mit seinen schwachen, ausgepumpten Re-
gierungspartnern. Am Tag nach Sabaudia
traf er sich mit allen möglichen Leuten,
fiebrig, im schnellen Takt. „Die Regie-
rungsmehrheit ist zerbrochen, wir wollen
so bald wie möglich neu wählen“, sagte Sal-
vini dann am Donnerstagabend – das
klang schon eher nach der in Sabaudia an-
gekündigten Bombe. Er habe Premiermi-
nister Giuseppe Conte aufgefordert, ins

Parlament zu gehen. Aber was will er da?
Das ganze Parlament ist in den Ferien. Das
Standbild von „Senato TV“, dem Sender
der kleineren Kammer, zeigt ein Datum
und eine Uhrzeit: „10. September, 10 Uhr.“
Dann findet die nächste Sitzung statt. Und
nun also soll Krise sein.
Möglich sind jetzt mehrere Szenarien, ei-
nes geht so: Conte reicht bei Staatspräsi-
dent Sergio Mattarella den Rücktritt ein.
Der kann ihn beauftragen, es erneut zu ver-
suchen, eine Mehrheit zusammenzubrin-
gen. Dafür müssten die Parlamentskam-
mern aber wieder geöffnet, die Senatoren
und Abgeordneten aus dem Urlaub geholt
werden. Wenn es gelingt, die zerrissenen
Bande zwischen Lega und Cinque Stelle zu
flicken, könnte Salvini die Partnerpartei
und ihren Chef Luigi Di Maio dazu drän-
gen, ein neues, ganz auf die Lega ausgerich-
tetes Reformprogramm zu akzeptieren. Da-
zu gehören zwei bisher ausgebremste Vor-
haben, die vor allem den Menschen im Nor-
den des Landes wichtig sind, wo der größte
Teil von Salvinis Wählerschaft lebt: mehr
Autonomie und weniger Steuern.
Knickt Di Maio ein, nachdem er schon al-
le Extravaganzen der Lega im Umgang mit
den Bootsflüchtlingen hingenommen hat,
ist er politisch erledigt. Beendet er die Alli-
anz mit Salvini endgültig, ist seine Karrie-
re wohl auch vorbei: Di Maio ist schon zwei
Mal ins Parlament gewählt worden, laut
den Statuten der Sterne darf er nicht noch
einmal antreten. Er personifiziert den Nie-

dergang der Sterne. Nie zuvor in Italiens
Geschichte hat eine Partei, die Wahlen so
deutlich gewonnen hat wie die Cinque Stel-
le im März 2018 mit 33 Prozent der Stim-
men, in so kurzer Zeit fast alles verloren.
Um für sich und seine Parteigänger we-
nigstens noch ein paar Jahre an der Macht
zu sichern, könnte Di Maio auch einer Re-
gierungsumbildung zustimmen. Man
hört, Salvini fordere für diesen Fall mindes-
tens drei Köpfe. Gefährdet ist zunächst Da-
nilo Toninelli, der Transportminister. Seit
Monaten beschimpfen sich die beiden.

Neulich sagte Salvini, Toninelli sei
„schlicht unfähig“, worauf der Salvini „ei-
nen Zwerg auf den Schultern von arbeiten-
den Giganten“ nannte. Mit Gigant meinte
Toninelli wohl auch sich selbst. Das „Nein“
zur Zugverbindung nach Lyon gilt nun als
inhaltlich legitime Rechtfertigung für sei-
nen Rausschmiss. Um ihren Posten bangt
auch Verteidigungsministerin Elisabetta
Trenta, ebenfalls von den Fünf Sternen.
Sie legte sich zuletzt oft mit dem Innenmi-
nister an, wenn der meinte, er könne in sei-
nem Kampf gegen die Seenotretter auch
über die Marine verfügen.
Wer der dritte Wackelkandidat sein soll,
ist umstritten. Manche wollen Sergio Cos-

ta ausgemacht haben, den Umweltminis-
ter, andere Giovanni Tria, den Finanz- und
Wirtschaftsminister. Wäre es Tria, würde
Italien ein Ritt auf den Achterbahnen der
Finanzmärkte drohen. Der Wirtschaftspro-
fessor gilt als Garant dafür, dass sich das
Land wenigstens einigermaßen an die
Haushaltsvorgaben aus Brüssel hält. Fällt
Tria, stürzt vielleicht auch die Regierung.
Offiziell und formal eingeläutet ist das
Ende der Koalition aber erst, wenn Conte
das Scheitern seines Kabinetts kundtut
und zurücktritt. Und dann läge alle Ent-
scheidungshoheit zunächst einmal bei
Mattarella, dem Staatschef. Er könnte die
Kammern auflösen und Neuwahlen anset-
zen, wie das Salvini fordert. Ein Wahlter-
min wäre frühestens Mitte Oktober mög-
lich. Mattarella könnte nach dem Theater
der Populisten aber auch entscheiden, eine
parteilose Übergangsregierung einzuset-
zen, die den Haushalt in Ordnung bringt.
Die Italiener sprechen in diesem Fall
von einer „Krise im Dunkeln“. Man weiß,
dass es eine Krise gibt, aber nicht, wie es
weitergehen könnte. Auch darum hat Salvi-
ni wohl schlaflose Nächte. Er wäre gerne
ganz sicher, dass es sofort Neuwahlen gibt.
Die Lega würde sie wohl hoch gewinnen.
Aber was, wenn es ein längeres Intermezzo
gibt? Und sich in der Zwischenzeit die Affä-
re um eine angebliche Finanzierung seiner
Lega aus Russland, das „Moscopoli“, zu ei-
nem echten Problem auswächst? Es ist
Sommer, und nichts ist wie sonst. Seite 4

Wohin steuert Italien?Als dieProtestpartei Fünf Sterne mit der rechten Lega vergangenes Jahr eine Regierung bildete, sagten viele


Experten dem Bündnis eine nur kurze Lebensdauer voraus. Nun regiert diese Koalition schon seit mehr als 14 Monaten. Viele Konflikte haben


das Verhältnis jedoch zerrüttet. Die Versuchung scheint groß zu sein, dass ein Populist auf Kosten des anderen seine Macht ausbaut


2 HMG (^) THEMA DES TAGES Freitag,9. August 2019, Nr. 183 DEFGH
Immerhin, bei Export
und Arbeitslosigkeit gibt es
positive Nachrichten
Platzt die Koalition,
hängt einiges von Staatschef
Sergio Mattarella ab
Nie zuvor hat eine Partei, die
zuvor so deutlich gewonnen hat,
in so kurzer Zeit fast alles verloren
Giganten, Zwerge und große Taktiker
Seit Monaten streiten und beschimpfen sich Politiker der Koalition in Rom. Nun fordert der rechte Innenminister Salvini Neuwahlen



  • und zwar so schnell wie möglich. Die würde seine Lega wohl klar gewinnen. Doch gibt es da eine Unsicherheit


Die erstarkte Lega und ihr Chef Matteo Salvini (im Hintergrund) setzen ihn immer stärker unter Druck: Luigi Di Maio, der Vorsitzende der Fünf Sterne, hat viel zu verlieren. FOTO: IPP/IMAGO


Kein Wachstum,


viele Schulden


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