Die Zeit - 15.08.2019

(Tuis.) #1

RECHT & UNRECHT 10


Illustration: Lea Dohle

VERBRECHEN
DER KRIMINALPODCAST

EIN PODCAST ÜBER VERBRECHEN –
UND WAS SIE ÜBER DIE
MENSCHHEIT ERZÄHLEN
JETZT ANHÖREN:
http://www.zeit.de/verbrechen

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  1. August 2019 DIE ZEIT No 34


D


ass grzegorz W. sich denk­
bar schlecht für die Pflege
alter und kranker Men­
schen eignete, bestreitet
kaum jemand, der ihn
kennengelernt hat. »Er hat
zwei linke Hände für Ar­
beit«, sagt seine Mutter.
»Er war grob und ohne Feingefühl«, sagt die
tochter seines zweiten Opfers.
»Er war so dick, dass er selbst Hilfe brauchte«,
sagt die Chefin einer Pflegeagentur, die ihn 2016
ablehnte.
W., 38 Jahre alt, 1,62 Meter groß, 150 Kilo
schwer, geplagt von Rheuma, Diabetes und einer
Herzkrankheit, hatte wohl nie echtes Interesse an
dem Job als Haushaltshelfer oder »Hilfspfleger«,
den er fast drei Jahre lang an 69 Orten in Deutsch­
land ausübte.
Er nahm den Alten und Kranken die Klingeln
ab, um durchschlafen zu können. Er
plünderte Kühlschränke, aß Berge von
Kartoffeln und Fisch. Manchmal,
wenn alles schlief, strich er durch die
jeweilige Wohnung, suchte nach
schmuck und geld.
solange er in seinem Job acht
stunden schlaf bekam und viel zu
essen, so scheint es, sah er keinen
grund, zu töten.
Doch wenn ein Kranker nachts zu
oft nach Wasser rief, konnte W. gefähr­
lich werden. Wenn einer gewickelt
werden musste. Oder wenn die Ange­
hörigen oft vorbeikamen. Dann muss
er sich kontrolliert gefühlt haben.
Dann hatte er eine Methode, mit der
er sich der lästigen Arbeit unkompli­
ziert entledigen konnte.
Viele der Menschen, die seine Ruhe
störten, sind jetzt tot.
Der Fall des grzegorz W., der
voraussichtlich im Herbst am Land­
gericht München verhandelt wird,
wirft einen grausigen Blick auf das
prekäre, unregulierte system der häus­
lichen Pflege in Deutschland. und
dieser Fall nährt die Ängste der Men­
schen, die in Zeiten des Pflegenot­
stands auf fremde Hilfe angewiesen
sind. Anders als der Anfang Juni dieses
Jahres wegen 85­fachen Mordes verur­
teilte Krankenpfleger Niels Högel
wirkte W. nicht im Krankenhaus, son­
dern drang in die privaten Häuser und
Wohnungen seiner mutmaßlichen
Opfer ein. W. soll zwölf Menschen
Insulin gespritzt haben, obwohl sie
keine Diabetiker waren – sechsmal
Mord, dreimal versuchter Mord, drei­
mal gefährliche Körperverletzung, lau­
tet die Anklage. Die Rentner starben
an den Folgen von unterzuckerung, an
Hirn­ oder Organversagen.
Manchmal klaute W. auch Bar­
geld, Weinflaschen, Flüssigseife,
Waschpulver. Doch nicht die gier
war sein entscheidendes Motiv. Die
staatsanwaltschaft glaubt, dass ihn
etwas anderes trieb: Er war einfach faul. Es klingt
unglaublich, doch mutmaßlich mordete W., um
seine Ruhe zu haben.
Warum hat diesen Mann niemand gestoppt?
Die genauen umstände seiner mutmaßlichen
taten werden vor gericht zu klären sein. Doch
durch die gespräche mit W.s Familie, mit Ermitt­
lern, mit den Angehörigen von Opfern und durch
Recherchen in seiner polnischen Heimatstadt Jele­
nia góra lässt sich ein Bild der Verhältnisse zeich­
nen, die zuließen, dass einer wie W. Hilfspfleger
werden konnte, dass einer wie er auf Pflegebedürf­
tige losgelassen wurde. und man kann rekon­
struieren, warum sich auf seinem Weg zum mut­
maßlichen Mörder offenbar niemand verantwort­
lich fühlte, genauer hinzusehen.
Dabei wird klar: Hätten W.s Arbeitgeber seine
Eignung als Hilfspfleger jemals sorgsam geprüft –
niemand hätte ihn unter Vertrag nehmen dürfen.


G


regorz W. kam 1981 in War­
schau zur Welt, als einziges Kind
einer Hilfsarbeiterin und eines
tischlers. »Betrügen und steh­
len waren früh seine Hobbys«,
sagt seine Mutter.
Zofia W. ist 67 Jahre alt, sie und ihr Mann
gehen gebeugt von jahrzehntelanger schwerer kör­
perlicher Arbeit. Wenn ihr sohn sich nicht in
Deutschland um senioren kümmerte, lebte er mit
ihnen in einer engen Wohnung im Arbeiterviertel
Jelenia góras: zwei Zimmer, Küche mit winziger
Kochnische, Bad im treppenhaus. Im hinteren
Zimmer habe W. geschlafen, erzählt die Mutter:
eine einfache Kammer, ein schmales Bett. An der
Wand hängt ein Bild der Muttergottes mit dem
Jesuskind. »Mein sohn war ein teufel in der
schule«, sagt Zofia W.
Es tue ihr so leid, dass er den Menschen so viel
Böses getan habe. Weil sie dazu beitragen möchte,
dass das geschehene verstanden werden kann, ist
sie bereit, mit der ZEIT zu sprechen.
Als er fünf gewesen sei, sagt sie, habe grzegorz
in die garderobe des Kindergartens gekotet – weil
er sauer auf eine Erzieherin gewesen sei.
In der grundschule habe er begonnen zu
klauen: das Federmäppchen eines Klassenkame­
raden, die geldbörse der Lehrerin. Von dem geld
habe er sich süßigkeiten gekauft. Freunde habe er
keine gehabt.
»Wenn er Mist baute, bat ich die Lehrer, ihn zu
bestrafen«, sagt Zofia W. »Was hätte ich sonst tun


können?« sie wirkt noch immer überfordert, wenn
sie darüber spricht.
Das scheitern ihres sohnes hat sie sorgsam
dokumentiert: Zeugnisse, Mahnungen und
gerichtsurteile füllen mehrere Aktenordner.
gebracht haben die vielen strafen nichts, im
gegenteil: Mit jeder Zurechtweisung wurde W.
offenbar immer nur noch rücksichtsloser.
Zum schuljahr 1996, er war 13, kam er in ein
Heim für schwer erziehbare Jugendliche im Osten
des Landes, sechs Autostunden von seinen Eltern
entfernt. In seinem Zeugnis stand: »Religion: gut /
sozialverhalten: unverantwortlich«. Mit 17, noch
vor seinem Berufsschulabschluss als schlosser, ver­
urteilte ihn das Bezirksgericht Jelenia góra wegen
Diebstahls zu fünf Monaten Haft.
Einmal, sagt Zofia W., habe sie in der Küche
vor ihm gekniet und ihn gebeten, anständig zu
leben, sodass sie nicht immer weinen müsse wegen
seiner taten. Wie immer habe er kühl reagiert,

kaum gefühle gezeigt. »Er war ein Einzelgänger«,
sagt die Mutter, »mürrisch, verschlossen.«
Als schlosser habe er nie wirklich gearbeitet.
»Er wollte keine schwere, schmutzige Arbeit«,
erklärt sie. sie hat all seine Arbeitsverträge gesam­
melt, sie zeigen: W. lavierte sich durch, putzte
Restaurantfenster, kassierte in supermärkten –
tesco, Carre four, Kaufland. Überall flog er nach
wenigen Monaten raus.
Doch er begann Wege zu finden, geld zu ver­
dienen, ohne viel arbeiten zu müssen.
grzegorz W. sammelte spenden für eine falsche
stiftung – und behielt das geld selbst. Er zahlte
Darlehen nicht zurück. Er gründete eine Firma für
sekretär­Dienstleistungen und zockte seine Kun­
den ab.
»Der war ein hoffnungsloser Fall«, heißt es in
gerichtskreisen in Jelenia góra über W. seine
Bewährungshelfer haben oft gewechselt. Nie­
mand nahm ihn wirklich ins Visier. Immer wie­
der verurteilte ihn die Justiz und schaute dann
wieder weg.
Es könnte ausgerechnet die Mutter gewesen
sein, die ihn schließlich auf die Idee mit der häusli­
chen Pflege brachte: Als sie in geldnot gewesen sei,
habe sie zweimal in Deutschland senioren gepflegt.
»Mein sohn sagte einmal, er eigne sich zu
nichts«, erinnert sie sich. »Ich fragte: Warum gehst
du nicht auch mit senioren spazieren, kochst
ihnen Essen für großes geld?«
Die Worte scheinen W. im gedächtnis geblie­
ben zu sein.
Im Mai 2014 wurde er aus einer fünfjährigen
Haft entlassen, er war wegen verschiedener Betrü­
gereien verurteilt worden. Drei Monate später, am


  1. August 2014, bescheinigte ihm eine Psycholo­
    gin in einem Berufsberatungszentrum »Ko ope ra­
    tions be reit schaft« und »Hilfsbereitschaft«. sie
    empfahl, »ihm den Abschluss eines Kurses für Be­
    treuer älterer Menschen (mit deutscher sprache)
    zu ermöglichen«.
    Auf eine Anfrage der ZEIT, wie es zu diesem
    testergebnis kommen konnte, sagt ein sprecher
    des Zentrums, W. habe zwei Fragebögen zu seinem
    Charakter und seinen beruflichen Vorlieben aus­
    gefüllt. Mehr Überprüfung sei nicht möglich.
    sein neuer Plan ging auf. Das sozialamt in Jele­
    nia góra zahlte W. einen dreimonatigen Crashkurs
    in Altenpflege. Im Mai 2015 brach er nach
    Deutschland auf. sein Bewährungshelfer geneh­
    migte die Ausreise. Die Mutter freute sich. »Er
    kam wieder und war zufrieden«, erinnert sie sich.


»Ich dachte, er habe endlich etwas gefunden, was
ihm Freude bereitet.«
Für seine Verhältnisse verdiente er jetzt gut:
1400 Euro pro Monat zahlte ihm etwa eine
Agentur aus grevenbroich. Das zeigt ein Vertrag
aus dem sommer des Jahres 2016. Kost und Lo­
gis waren inklusive, die Anreise zahlten die Fami­
lien. Mit jedem Aufenthalt lernte er etwas mehr
Deutsch. Wie es W. gelang, dass die verschiede­
nen Agenturen ihn trotz seines zweifelhaften Le­
benslaufs einstellten, versucht Iwona Jamrozek
zu erklären: »Er war hartnäckig«, erinnert sie
sich. Jamrozek, 53 Jahre alt, fuhr vor zehn Jahren
selbst immer wieder für Pflege ein sät ze nach
Deutschland. Heute leitet sie ihre eigene kleine
Vermittlungsagentur namens senior Partner Pre­
mium in Jelenia góra.
Im Juni 2015 habe W. einige Male bei ihr ange­
rufen und sie geradezu bedrängt, ihn nach
Deutschland zu schicken. sie lehnte ab. »Er hatte

keinerlei Referenzen«, erinnert sie sich. »Das hat
mich stutzig gemacht.« Einige Zeit später habe er
angerufen und gesagt, er sei gerade zwei tage in
Deutschland gewesen, doch in dem Haushalt habe
er keinen Fernseher bekommen – da sei er gegan­
gen. Jetzt suche er erneut.
Jamrozek schüttelt sich. »spätestens ab diesem
Zeitpunkt hatte ich diesem Mann gegenüber ein
mulmiges gefühl.«
Andere Agenturen waren offenbar weniger
zimperlich. sie buchten grzegorz W. beispiels­
weise als schnelle Vertretungskraft, wenn irgend­
wo jemand ausgefallen war. Für sie bedeutet jeder
Vermittelte Provision – laut Experten­schätzun­
gen betragen diese Provisionen zwischen 700 und
1800 Euro pro Monat. Manchmal teilen eine pol­
nische und eine deutsche Partneragentur das geld
unter sich auf.
Auch die in Deutschland geradezu verzweifelte
Nachfrage nach günstigem Hilfspersonal für die
häusliche Pflege hat wohl dazu beigetragen, dass
bei W. kaum jemand genauer hinsah. Fast drei
Millionen Menschen werden in Deutschland zu
Hause versorgt, mehrere Hunderttausend davon
durch Hilfskräfte aus Ost euro pa. Diese arbeiten

meist zum Mindestlohn, oft ohne jede fachliche
Ausbildung.
gewerkschaften warnen zugleich vor der Aus­
beutung der Hilfspfleger. »Ihre Arbeitszeiten las­
sen sich kaum kontrollieren, viele arbeiten deut­
lich länger als erlaubt«, erklärt Justyna Oblacewicz
vom Projekt »Faire Mobilität« des Deutschen
gewerkschaftsbundes. »Zudem bereiten viele
Agenturen die Hilfskräfte unzureichend auf den
Job vor.« sie rät Familien, sich vorab gründlich
über arbeitsrechtliche standards und die Vertrau­
enswürdigkeit der Agenturen beraten zu lassen,
zum Beispiel über die Info­seite »Pflege zu Hause«
der Verbraucherzentrale.
Ein weiteres Problem laut Oblacewicz: Aktuell
treffe die enorme Nachfrage aus Deutschland auf
einen »fast leer gefegten« Markt in Polen.
Die Agenturchefin Jamrozek bestätigt: »Es wird
schwieriger, gute Leute für diesen Job zu finden.«
Dazu gibt es in Polen inzwischen auch reichlich

Arbeit für Pflegekräfte, oft nicht viel schlechter
bezahlt als in der Bundesrepublik. Die Agenturen
hätten enormen Vermittlungsdruck. Nicht alle
würden Bewerber daher sorgsam prüfen.
Es ist wahrscheinlich, dass die Frage, inwiefern
die Agenturen, die W. unter Vertrag nahmen, ihre
Pflichten verletzt haben, in gesonderten gerichts­
verfahren noch geklärt wird. Fest steht: Wären sie
un ter ein an der vernetzt, hätte man W. vermutlich
schnell aus der Branche ausgeschlossen.
Nach Recherchen der Münchner staatsanwalt­
schaft wechselte er in nach den ersten Jobs immer
schneller die Haushalte. sobald ihm Arbeit drohte,
log er: seine Mutter sei plötzlich schwer erkrankt,
er müsse weg. In der Regel blieb er nur fünf, sechs
tage. so brach er die Verträge, die meist Aufent­
halte von sechs bis acht Wochen vorsehen. Das
machte Probleme: Einige Agenturen verhängen für
einen vorzeitigen Abbruch des Vertragsverhältnis­
ses eine geldstrafe. W. flog aus verschiedenen Kar­
teien, aber es gab genug andere, für die er sich
wieder bewarb. Es könnte sein, dass ihn auch das
zu sehr anstrengte. Doch dann passierte etwas, was
ihm einen neuen, schrecklichen Plan eingab.
Es war der 24. Januar 2017: Ein Arzt verschrieb
ihm einen Insulin­Pen zur Behandlung seiner Dia­
betes und erklärte ihm die gefahren einer Über­
dosierung. In diesem Moment, darauf deutet vie­
les hin, begann W.s Wandlung vom Kleinkrimi­
nellen zu einem Mann, der Menschen tötete.
Karin Wischmann­schoofs und ihre schwester
Karla Wischmann De Dios können beschreiben,
wie W. im Fall ihres Vaters vorging. Der 91­jährige
Heinrich Wischmann war W.s zweites Opfer. Am
Mittwoch vor Himmelfahrt 2017 reiste W. mit
einem Kleinbus der Agentur aus Polen zu ihnen
nach Mülheim. »Ich war entsetzt, als der sich die
treppe hochschleppte«, erinnert sich Wischmann
De Dios. Desinteressiert und unfreundlich habe er
gewirkt. Eine seiner ersten Fragen habe dem Kühl­
schrankinhalt gegolten. sogar ihr liebevoll­grum­
meliger Vater habe gesagt: »Wenn der bleibt, sprin­
ge ich aus dem Fenster.« Am liebsten hätten sie die
Agentur angerufen und nach einem anderen Pfle­
ger gefragt. Aber die war wegen des Feiertags nicht
erreichbar. Die Familie entschied sich, W. eine
Chance zu geben.
»Doch schon nach der ersten Nacht beschwerte
er sich, der Vater habe viermal in der Nacht auf
toilette gewollt«, berichtet Karin Wischmann­
schoofs. und weiter: »Er sagte, er habe kaum
geschlafen, wollte abgeholt werden.« Nach dem

Feier tag wollte sie die Agentur anrufen. Wenige
stunden später, um kurz vor 19 uhr, fand ihr Bru­
der den Vater komatös auf dem Bett vor. Heinrich
Wischmann lallte, drehte die Augen nach oben.
W. hatte ihm Insulin gespritzt.
Noch während sie auf den Notarzt warteten,
habe der Hilfspfleger gebettelt: »Hier, Handy, rufen
sie den Chef an, dass ich abgeholt werden muss.«
später, als der Vater im Krankenhaus lag, habe
W. allerdings dableiben wollen – die Wohnung war
leer, der Kühlschrank voll.
Heinrich Wischmann überlebte zunächst stark
geschwächt. Doch die Ärzte hatten erst nach drei
stunden entdeckt, dass er stark unterzuckert war.
sie schöpften keinen Verdacht. Wischmann erhol­
te sich nicht mehr, verstarb sechs Wochen später.
Nach diesem dramatischen Vorfall spritzte W. in
den nächsten Monaten noch zehn weiteren Opfern
Insulin. Danach rief er meist selbst die Angehörigen
oder wählte den Notruf – in drei Fällen immerhin
so zügig, dass die staatsanwaltschaft sein
Handeln als Rücktritt vom Mordver­
such wertet. Diese drei Fälle hat sie nur
als gefährliche Körperverletzung einge­
stuft. In drei anderen Fällen jedoch ver­
meldete W. nur noch den tod der
jeweiligen Person.
Kaum jemand schöpfte Verdacht.
Wenn senioren sterben, denken offen­
bar selbst erfahrene Ärzte selten an ein
tötungsdelikt.
Für W. war das eine komfortable
situation. sobald seine Opfer ins
Krankenhaus kamen, holte die Agen­
tur ihn ab: ohne Fragen, ohne Ver­
tragsbruch. In fünf Fällen vermied er
auf diese Weise vertraglich festgesetzte
strafen von etwa 500 bis 1000 Euro,
die er bei einem selbst gewählten Ab­
bruch des Aufenthalts hätte zahlen
müssen. In diesen fünf Fällen habe W.
aus Habgier gehandelt, so die staats­
anwaltschaft. Zudem sei Heimtücke
als Mordmerkmal bei allen seinen
mutmaßlichen tötungsdelikten gege­
ben, da er die Arg­ und Wehrlosigkeit
seiner Opfer ausgenutzt habe.
Nur bei einem Mann um die 40
blieb W. länger. Dieser Mann saß nach
einem Motorradunfall im Rollstuhl,
machte kaum Arbeit. Ihn ließ er leben.
Anders war der Fall in Ottobrunn
bei München. Dort sollte W. im
Februar 2018 einen 83­jährigen pen­
sionierten Handelsvertreter pflegen.
Diesen Fall führt die staatsanwalt­
schaft nicht ausschlißlich als Mord,
sondern auch als Raub mit todesfolge.
sogar im schlaf trug der Rentner
einen schlüssel zu einer schatulle um
den Hals. Mehrfach spritzte W. ihm in
kurzen Zeitabständen Insulin, bis die­
ser bewusstlos wurde. Er zog ihm den
schlüssel vom Hals, entnahm der
schatulle einen weiteren schlüssel. Der
führte zu einem Büro mit tresor – da­
rin waren eine ec­Karte mit PIN, 1230
Euro Bargeld, eine goldkette, eine
goldene Rolex­uhr, drei goldene Ringe
und eine Krügerrand­Münze in einem stoffbeutel.
Erst viele stunden später, in den frühen Morgen­
stunden, betätigte W. den Hausnotruf. Da war der
Rentner bereits tot.
W. muss geglaubt haben, er werde bald im
Kleinbus mitsamt seiner Beute zurück nach Polen
fahren.

D


och der Notarzt informierte den
Leichenbeschauer und die Poli­
zei. Die Beamten wunderten
sich, dass W. auf gepackten Kof­
fern saß, nahmen ihn mit auf
die Wache. Zum ersten Mal in
W.s krimineller Karriere in Deutschland hatte
jemand genauer hingeschaut. später fand man
einen stoffbeutel voll schmuck unter W.s Bett in
der Wohnung des Verstorbenen.
Am tag darauf gab W. bei der Vernehmung
durch die Polizei zu, dem Mann Insulin gespritzt
zu haben. Er habe ihn nicht töten, sondern nur
durchschlafen lassen wollen. Die staatsanwalt­
schaft München glaubt: W. selbst war es, der
durchschlafen wollte. Dafür sei er bereit gewesen,
ein Leben zu beenden.
Die staatsanwaltschaft München veröffent­
lichte sein Foto, suchte nach weiteren Einsatz­
orten, immer mehr Familien meldeten sich. Man
ließ drei Leichen exhumieren, fand bei einer eine
Einstichstelle. Am Ende ließen sich elf weitere
Fälle mutmaßlich W. zuordnen – darunter der Fall
des 91­jährig verstorbenen Heinrich Wischmann
aus Mülheim, dessen Familie die tat längst ange­
zeigt hatte. Die staatsanwaltschaft Duisburg­
Essen hatte die Ermittlungen eingestellt – Begrün­
dung: »kein dringender tatverdacht«. Die staats­
anwälte in München mahnen: Auch bei Alten und
Kranken müssten die zuständigen Fachleute genau
prüfen, ob sie wirklich eines natürlichen todes
gestorben seien.
Im Zuge der Ermittlungen kam auch heraus:
Bei Heinrich Wischmann zu Hause hatte W. eini­
ge Flaschen Wein mitgehen lassen. Das war der
Familie zunächst gar nicht aufgefallen.
W.s Mutter dagegen erinnert sich gut an die
sachen, die ihr sohn aus Deutschland mitbrachte.
Einmal habe es 50 Euro gegeben, einmal Bettwä­
sche, und manchmal eben auch ein paar Flaschen
Wein. sie habe sich damals gefreut. sonst habe er
ja nie etwas mitgebracht.
Er habe gesagt, das seien Abschiedsgeschenke
der freundlichen senioren aus Deutschland.

VON LUISA HOMMERICH

Ein Pflegehelfer in Deutschland soll


reihenweise senioren mit Insulin­spritzen


getötet haben. In Polen war er als Krimineller


bekannt. Doch nicht nur die umstände,


auch seine Motive sind verstörend


Er wollte seine Ruhe


Illustration: Simon Prades für DIE ZEIT

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