Die Zeit - 15.08.2019

(Tuis.) #1

  1. August 2019 DIE ZEIT No 34


Hongkong

E


s ist ein unwahrscheinlicher, nai­
ver, geradezu irrwitziger gedanke,
dass die Demonstranten den
Mächtigen in Peking Zugeständ­
nisse oder gar freie Wahlen abtrot­
zen könnten. »Aber versuchen
müssen wir es trotzdem«, nuschelt
Nick* hinter seiner gasmaske.
Am vergangenen samstag, kurz nach 20 uhr in
tsim tsa tsui, der beliebten touristenmeile im
Hongkonger stadtteil Kow loon: Hunderte sehr
junge Protestierende in schwarz, einige ver­
mummt wie Ninjas, andere zum Kampf gerüstet
wie Iron Man, springen aus den Metro­Ausgängen.
Binnen Augenblicken haben sie mit Busschildern,
Baustellenschrott und zerlegten straßenabsperrun­
gen die vierspurige Nathan Road blockiert. Nick,
24, kräftig gebaut, die Augen hinter einer taucher­
brille und die Haare unter einem Bauarbeiterhelm
versteckt, schiebt sich durch die Menge und be­
reitet sich auf seinen Einsatz vor. Bei tag arbeitet
er als Programmierer, jetzt, bei Dunkelheit, be­
ginnt seine Verwandlung: Nick ist »Wassermagier«
in einem neuen Rollenspiel namens Hongkong
Online, das die Radikalen unter den Demons­
tranten erfunden haben. Die Feuermagier, erklärt
er, setzen Mülltonnen in Brand und werfen mit
Molotowcocktails. Erdmagier zielen mit steinen,
Lichtmagier mit Laserpointern. Wassermagier
wie er sind eine Art Feuerwehr: Nick drückt qual­
mende tränengasbehälter mit einem schweißer­
handschuh aus.
»Abzug! Abzug!«, ruft die Menge, aus der Po li­
zei sta tion hinter der shoppingmall haben Beamte
gerade die ersten salven tränengas abgefeuert.
Nick sprintet vor und verschwindet im beißenden
Nebel, Minuten später kommt er zurück und rast
in die Me tro sta tion, die sondereinsatzkräfte weni­
ge Dutzend Meter hinter ihm her. Als er sich in
sicherheit gebracht hat, schaut er auf seinen blin­
kenden smart phone­ Bild schirm: Der Flash mob
hat sich in Bewegung gesetzt, auf zur nächsten
sta tion tsuen Wan.
ganz Hongkong ist inzwischen eine Kampf­
zone. solange die Regierung die Demonstranten
nicht erhört, wollen sie weiter Chaos stiften. Ihre
Maximalziele werden sie wohl kaum erreichen.
Das Re gime in Peking will wiederum keine weitere
Es ka la tion, findet aber auch keine Mittel, die Pro­
teste zu befrieden.
Ein normales Wochenende in Hongkong sieht
inzwischen so aus: Allein am samstag errichten
Nick und seine Mitstreiter nach ein an der straßen­
sperren an acht Metrostationen. Es beginnt mit
einer nicht genehmigten De mons tra tion am
Nachmittag im Randbezirk tai Po, danach schwär­
men mehrere gruppen in unterschiedliche Rich­
tungen aus. Manche Protestteilnehmer studieren
Politik, andere Jura oder Medizin, die Jüngsten
gehen noch in die Mittelstufe. Mike*, 25, ein
Freund von Nick, arbeitet als Beamter in einer
Behörde. Er erlebe täglich, wie Peking­ nahe Politi­
ker ihrem Netzwerk steuergelder zuschanzten, sagt
er, seine Arbeit sei trostlos. Nachts, als guerilla­

Demonstrant, fühle er sich als teil von etwas grö­
ßerem. »Wenn wir jetzt nicht für unsere Rechte
kämpfen, wird es bald zu spät sein«, sagt er.
Am Ende des Wochenendes meldet die Polizei
mehr als hundert tränengaseinsätze und 149 Fest­
nahmen. Verkleidete Zivilbeamte mischen sich am
sonn tag abend unter die Demonstranten und nehmen
wahllos Menschen fest. Mutmaßlich von Peking an­
gestiftete gangster in roten Hemden, Mitglieder von
Mafia­gruppen, machen Jagd auf Protestierende.
Eine junge Frau wird durch ein Bleigeschoss der
Polizei gefährlich am Auge verletzt. Diese feuert nun
auch tränengas in Metroschächte hinein und schießt
mit gummipatronen auf die Demonstranten. Aus
Protest gegen das Vorgehen der Polizei rufen Ärzte
am Montag zum streik auf. Ebenfalls am Montag
blockieren tausende Demonstranten den Flughafen;
am Diens tag abend, bei Redaktionsschluss dieser Aus­
gabe, hält die Blockade an. Den Beweis, dass die De­
monstranten annähernd so brutal vorgehen wie die
Polizei, bleibt die Regierung schuldig. Doch der ton
aus Peking wird immer schriller: unter den radikalen
Demonstranten gebe es »Anzeichen von terroris­
mus«, sagt ein sprecher.
Wann gibt es den ersten toten und auf welcher
seite? Wird die Zentralregierung die Proteste nie­
derschießen lassen? unter den Demonstranten
findet man immer mehr, die willens sind, ins ge­
fängnis zu gehen. Einige sind bereit zu sterben.
Aber wofür? Darüber herrscht mitunter Verwir­
rung. Die große Mehrheit der Regierungsgegner
fordert zumindest die endgültige Rücknahme des
gesetzes, das Auslieferungen an Festlandchina er­
möglicht, an dem sich die gegenwärtige Krise ent­
zündet hat, und außerdem eine unabhängige un­
tersuchung der Polizeigewalt. Immer mehr Regie­
rungsgegnern reicht das aber nicht mehr. »Befreit
Hongkong, Re vo lu tion unserer Zeit« heißt der
neue slogan dieser tage, zehntausendfach skan­
diert, an jeder straßenecke als graffiti gesprüht.
Manche verstehen darunter die Wahrung der bis­
herigen sonderrechte Hongkongs. Andere fordern
freie Wahlen. Einige träumen von einem stadtstaat
und berufen sich auf den urheber des slogans:
Der unabhängigkeitsaktivist Edward Leung orga­
nisierte 2016 einen Aufstand im stadtteil Mong­
kok, seitdem sitzt er im gefängnis.
Anders als im Juni gehen nicht mehr Millio­
nen Menschen auf die straße, aber die Kraft der
Protestbewegung ist ungebrochen. Nick, der trä­
nengaslöscher, war einer der Radikalen, die am


  1. Juli das Legislativratsgebäude stürmten. Auch
    unter den Demonstranten gab es damals Zweifel,
    ob die Provokationen zu weit gingen. Dann
    drosch ein weiß gekleideter Mob auf Protestie­
    rende und Passanten ein, wahrscheinlich von Pe­
    king geschickte schergen. Bis heute ist keiner der
    schläger angeklagt. Die Attacke hat die Bewe­
    gung wieder geeint. Wenn Nicks guerilla­truppe
    in diesen tagen Barrikaden errichtet, stehen
    Erste­ Hilfe­teams und Hunderte Anwälte auf
    Abruf bereit. Per Zuruf und in Chatgruppen ent­
    scheiden die studenten und schüler spontan
    über ihr nächstes Ziel; kaum ein stopp dauert
    länger als eine halbe stunde. Eine Live­Karte, die


ein Aktivist programmiert hat, warnt vor an­
rückenden Einsatzbussen der spezialeinsatzkräfte.
Der flächendeckende Einsatz von tränengas hat
ironischerweise dazu geführt, dass bisher gleich gültige
Anwohner in 13 von 18 stadtteilen sich mit eigenen
Augen von dem aggressiven Vorgehen der Polizei
überzeugen konnten. »Wir Hongkonger sind eigent­
lich leicht zu kontrollieren, man muss nur sanft zu
uns sprechen«, sagt Mike, der Beamter und Aktivist
zugleich ist. Doch Carrie Lam, die Regierungschefin,
hat mit ihren jüngsten Auftritten die Wut der Bürger
weiter angeheizt, in ihren Reden ist von Verfehlungen
der Polizei keine Rede. Wie auch: Peking hat den
Einsatzkräften offiziell grünes Licht gegeben, »alle
notwendigen Maßnahmen« zu ergreifen.
Nach den »Hongkong­Müttern«, Bankern und
Anwälten solidarisieren sich nun auch sozialarbei­
ter, Fluglotsen und Beamte mit der Jugend. Am
Montag vor einer Woche nahmen Hunderttausen­
de Angestellte am ersten generalstreik in Hong­
kong seit mehr als 50 Jahren teil. In der Metro
reichten Fremde den Flashmob­Demonstranten
snacks und getränke. Pfarrer stellten Kirchen als
Flucht orte zur Verfügung. senioren sprachen ih­
nen Mut zu. schulkinder riefen »gebt gas!«, als
die Vermummten vorbeizogen. Aber es fielen auch
andere sätze: »Haut ab, ihr Kakerlaken!« Oder:
»Fickt eure Mütter, ihr Landesverräter!«
Die stimmung in der Bevölkerung wird ent­
scheidend sein für den Fortgang der Proteste. Im
stundentakt berufen Regierung und Demonstran­
ten deshalb Pressekonferenzen ein. Beide seiten
führen einen erbitterten PR­Krieg. Albert Fu, 60,
Besitzer einer suppenküche im geschäftsviertel
sheung Wan, geriet unversehens zwischen die
Fronten. »Endlich zeigt den Bälgern mal einer, wo
es langgeht«, soll er gerufen haben, als das Fernse­
hen Ende Juli die Mob­Attacke im stadtteil Yuen­
long übertrug. Fu selbst bestreitet das. Ein gast

zeigte sein Restaurant dennoch beim Hygieneamt
an und rief auf Face book zum Boykott auf. Dut­
zende Regierungsgegner bedrohten den gastrono­
men daraufhin am telefon.
Vor einem stacheldrahtbewehrten tor in einem
Villenviertel über dem stadtteil Kowloon halten
am samstagmorgen fünf Pro­Peking­Demons­
tranten schilder hoch. Auf einem steht: »Amerika­
nischer Hund!« Der Verleger Jimmy Lai, dem die
schmähungen gelten, blickt aus dem Fenster. Er ist
schlimmeres gewohnt: Molotowcocktails, Hacker­
attacken, 2008 entkam er einem Mord anschlag.
Der 70­Jährige sitzt in einem mit tuschemalereien
und Renaissancekunst dekorierten salon, neben
dem Flügel zwitschern Ziervögel in einem ge­
schnitzten Holzkäfig. Lai, Besitzer des mächtigen
Boulevardblatts Apple Daily, ist der von Peking
meistgehasste Medienmogul in der stadt und eine
der dienstältesten Figuren der hiesigen Pro­
Demokratie­szene. 1960, während der großen
Hungersnot unter Mao, floh er im Alter von zwölf
Jahren auf einem Boot aus der südlichen Provinz
guang dong nach Hongkong. Als teenager arbei­
tete er in einem textilshop, später wurde er als
Modeunternehmer reich. 1995 gründete er Apple
Daily, das den Ruf eines antikommunistischen
Kampfblattes hat. Mit Lust am Krawall graben
seine Reporter geschichten über korrupte Kader
in Peking und ihnen hörige Bürokraten in Hong­
kong aus. Lai vermutet eine strategie hinter den
übermäßigen Polizeieinsätzen. »Die Regierung setzt
darauf, dass es noch schlimmer kommt, bis einige
Demonstranten oder Polizisten sterben und die
stimmung in der Bevölkerung umschlägt. Ob sie
die Volksbefreiungsarmee schicken? Das glaube ich
nicht.« Hongkongs Wirtschaft sei weiterhin zu
wichtig für China. »Aber sie insinuieren einen Ar­
meeeinsatz, um Angst zu schüren.« Im benach­
barten shen zhen fuhren demonstrativ gepanzerte
Fahrzeuge der Militärpolizei auf.
Lai fährt fort und erzählt von seinem treffen
mit us­Außenminister Mike Pompeo und Vize­
Präsident Mike Pence Anfang Juli in Washington.
Der Westen, insbesondere die usA, müsse Hong­
kong nun kraft seiner moralischen Autorität un­
terstützen, fordert Lai: Denn im straßenkampf,
den die Jugend gegen die Regierung in Peking
ausficht, entscheide sich die Widerstandskraft
universeller Werte gegen einen immer übergriffi­
geren Autoritarismus. Aber besitzen die usA
überhaupt noch die moralische Autorität, die Lai
beschwört? Kann ausgerechnet ein Donald trump
schützenhilfe für Demokratie in Hongkong leis­
ten? »trump ist authentisch«, entgegnet Lai trot­
zig, immerhin biete er Peking die stirn, während
alle anderen nur redeten.
Doch längst verlaufen die Frontlinien zwischen
Demokratie und Autoritarismus auch innerhalb des
Westens. und die Bilder von einzelnen Demons­
tranten, die die britische oder die amerikanische
Flagge schwenken – manche tragen sogar »Make Ame-
rica Great Again«-Mützen –, sind ein gefundenes
Fressen für Pekings Propagandisten, die die Hong­
konger Demonstranten als vom Westen angestiftete
umstürzler diskreditieren.

Aber auch das Dilemma von Chinas Macht­
habern wird in Woche zehn der andauernden Pro­
teste immer dringlicher. Am 1. Oktober will die
Führung den 70. Jahrestag der Volksrepublik mit
einer pompösen Militärparade begehen, die
Vorbereitungen laufen auf Hochtouren. Kommt
Hongkong bis dahin nicht zur Ruhe, drohen die
Fernsehbilder von chaotischen straßenschlachten
die Feierlichkeiten zu überschatten. und schießt
die Führung den Aufstand nieder, werden die Bil­
der ihre eigene Erzählung von Chinas »friedlichem
Aufstieg« konterkarieren. Kurzum: Die Proteste
weiterlaufen zu lassen, kann die KP sich nicht leis­
ten. sie niederzuwalzen, aber auch nicht.
Regina Ip wurde vergangene Woche mit 500
anderen Pro­Peking­Politikern und KP­nahen ge­
schäftsleuten zu einer sitzung nach shen zhen ein­
berufen. Einen ganzen tag lang beratschlagten Kader
aus Peking mit den Mächtigen aus Hongkong, was
nun zu tun sei. Montagmittag, als 10.000 Demons­
tranten gerade zum Flughafen marschieren, empfängt
Ip in ihrem Büro in Hongkong. Die 68­Jährige ist
Vorsitzende der konservativen New People’s Party,
eine Hardlinerin. sie trägt elegante Föhnwellen, ihr
Blick ist scharf, ihre Worte sind es auch. Volksbefrei­
ungsarmee, nein, das sei die allerletzte Lösung für den
äußersten Fall: wenn die Regierungschefin gekid­
nappt oder das Regierungsgebäude in Brand gesetzt
würde. geschickt verweist Ip auf die tatsache, dass
die britischen Kolonialherrscher auf Massenproteste
früher auch nicht zimperlich reagierten: 1966 ver­
haftete die britische Militärpolizei tausende und er­
schoss einen Demonstranten, 1967 kam es während
der Kul tur revo lu tion zu einem weiteren Aufstand,
der mit mehr als 50 toten endete.
Ip holt ein gebundenes Büchlein hervor, das Basic
Law, Hongkongs Mini­grundgesetz von 1997. Freie
Wahlen seien darin allenfalls als vages Ziel formuliert,
nicht als Versprechen, sagt Ip. »Wir sind ein teil von
China, eine konfrontative Haltung gegenüber dem
Festland hat keine Vorteile für Hongkong.« Würden
die Bewohner frei wählen dürfen und käme das
Peking­kritische Lager an die Macht, »würde Hong­
kong in Flammen aufgehen«, sagt sie. »Wir müssen
mit der Zentralregierung zusammenarbeiten, und
diese Leute könnten das nicht.« sie verstehe allerdings
die Frus tra tion der Jugendlichen. »unser Handels­
volumen sinkt, die guten Jobs in der stadt gehen
immer öfter an Festlandchinesen.« sie springt noch
mal in die geschichte zurück: »Nach der Nieder­
schlagung der Proteste legten die Briten in den sieb­
zigern ein großes so zial pro gramm auf, bauten ver­
günstigte Wohnungen und kurbelten die Wirtschaft
an. genau solche Reformen brauchen wir jetzt, so­
bald die Krawalle vorbei sind.« Ihre sätze klingen wie
eine Bewerbung für die Nachfolge von Regierungs­
chefin Lam.
und die normalen Bürger, die wohlhabend
sind und sich dennoch Demokratie wünschen?
Für sie hat Ip eine Botschaft, die klingt wie eine
Warnung: »Haltet euch fern.«

* Name von der Redaktion geändert

http://www.zeit.de/audio

POLITIK 3


HONGKONG

Hongkong


ZEIT-GRAFIK

10 km

CHINA

Peking

in diesen Stadtvierteln setzt
die Polizei Tränengas ein

Yuen-long Tai Po

Tsuen Wan

Shenzhen

Tsim Tsa
Tsui

Sheung Wan

Mit Masken und
Taucherbrillen
schützen sich die
Demonstranten
in Hongkong gegen
Tränengas

Denn sie wissen, was sie tun


Blockaden, Laserpointer, Molotowcocktails: Immer entschlossener kämpfen studenten und schüler in Hongkong gegen das chinesische Regime.


gewinnen können sie diese Auseinandersetzung eigentlich nicht. trotzdem sind einige Demonstranten sogar bereit zu sterben VON XIFAN YANG


Fotos: Sebastian Wells/OSTKREUZ (Hongkong, 9. - 11.8.2019)

Free download pdf