Die Zeit - 15.08.2019

(Tuis.) #1

  1. August 2019 DIE ZEIT No 34


B


is zum ersten Mal der Nahles-
sound ertönt, dauert es 20 Minu-
ten: »Ich hoffe, dass hier irgend-
wann einer steht und sagt: stellt
euch mal vor, bis zum Jahr 2022
haben die doch allen Ernstes nicht 50 zu 50
Frauen und Männer in den Parlamenten ge-
habt!«, ruft Andrea Nahles. »Aber diesen
Punkt haben wir nicht erreicht, Leute! Im
gegenteil, es geht wieder rückwärts!«
Andrea Nahles trägt einen blau gestreiften
Blazer, gut sieht sie aus, die Locken wippen
wieder ungeglättet und unternehmungslustig,
und je länger sie redet, desto mehr lacht sie.
Nahles ist nach Maria Laach gekommen,
um einen Vortrag zum grundgesetz zu halten
und zum stand der gleichberechtigung. so
steht es im klösterlichen Programm.
Das Kloster liegt in der Nähe ihres Hei-
matorts. Nahles, gläubige Katholikin und
Mitglied im Zentralrat der Katholiken, hat
hier viel Zeit verbracht. Viele der zumeist
weißhaarigen gäste kennen die 49-Jährige
persönlich, viele duzen sie, die meisten reden
von »der Andrea«. Einige haben persönliche
Briefe an Nahles mitgebracht. unter den Zu-
hörern sind auch Juristen, aber viele dürften
gekommen sein, um einfach mal zu sehen,
wie es der Andrea so geht. Nach alldem. Nach
all dem, ihrem Rücktritt und ihren weiteren
Plänen soll aber bitte nicht gefragt werden,
das hat ihr Büro vorab klargestellt.
Die große Frage also, die seither im Raum
steht, wird nicht gestellt und nicht beant-
wortet an diesem Abend: Was ist bloß pas-
siert? Was ist passiert, dass eine wie Andrea
Nahles aufgibt? Eine, die es sehr ernst gemeint
hat mit der Politik, schon in der uni war das
so. Eine, die sPD-Chefs wie gerhard schrö-
der ins Wanken und andere wie Rudolf
scharping oder Franz Müntefering zum um-
fallen gebracht hat. Eine, die sich selbst im
Lauf des Abends bescheinigt, sie sei ein
»Orga ni sa tions mensch«: gewerkschaft, ka-
tholische Kirche, Partei. Die sich so oft hoch-
und durchgekämpft hat: Jungsozialistin in
einem tiefschwarzen Wahlkreis, erste weibliche
Juso-Vorsitzende, jüngste Arbeitsministerin,
erste Frau an der spitze der sPD.
Einiges wird man im Lauf des Abends
trotzdem darüber erfahren, wenn auch mehr
indirekt. Vieles kann man ahnen.
Ein »Rollback« stellt Nahles also fest und
erinnert daran, dass seit 1949 ein so schöner,
klarer, schnörkelloser satz im grundgesetz
steht wie: »Männer und Frauen sind gleichbe-
rechtigt.« trotzdem sei es möglich gewesen,
dass der Bundesgerichtshof 1958 urteilte, bei
Meinungsverschiedenheiten sei die Meinung
des gatten maßgeblich, weil höherwertig. Bis
1977 durften Frauen ohne Erlaubnis des
Mannes nicht arbeiten, erst 1997 wurde Ver-
gewaltigung in der Ehe unter strafe gestellt,
obwohl auch damals noch viele meinten, so
etwas gebe es ja gar nicht. Das Publikum lacht
ungläubig-wissend, die meisten dürften sich
noch ganz gut erinnern.
Ob sie sich noch an den Fragebogen er-
innere, will ein Mann wissen, den Nahles ihm
vor Jahren einmal gegeben habe. Klar, ant-
wortet Nahles, das sei doch der gewesen, für
den die Ortsverbände bei ihren sitzungen
stoppen sollten, wie lange die Frauen reden
und wie lange die Männer. Die Männer seien
dann selbst erstaunt gewesen, dass sie drei
Viertel der Redezeit in Anspruch nahmen.
Eine habe allerdings damals den schnitt ver-
saut, erinnert sich Nahles grinsend. Das sei
sie gewesen.
Lange habe sie gedacht, dass es immer bes-
ser werde mit der gleichberechtigung: »Wir
wurden mehr, wir wurden selbstbewusster, es
wurde selbstverständlicher.« Was aber die in-
nersten Zirkel angehe, da seien die Frauen

»wieder draußen« gewesen. Klar, so viele in-
nere Zirkel habe es irgendwann nicht mehr
gegeben, in denen sie nicht auch gewesen sei.
»Aber immer noch zu viele.«
Ob sie in ihrem beruflichen Leben den Ein-
druck gewonnen habe, dass Frauen und Männer
real gleichberechtigt seien, will eine Zuschauerin
wissen. Die Antwort fällt kurz aus und kommt
spontan: »Zu keinem Zeitpunkt!«
Ob das mit der gleichberechtigung nicht
eine Illusion sei, fragt eine andere Frau. Frauen
seien doch eben nicht gleich, weil sie es seien,
die die Kinder bekämen. Nahles wird ernst.
sie habe immer versucht, das selbst zu wider-
legen, sagt sie. »Eigentlich ist mir das auch
ganz gut gelungen. Bis auf einen kleinen
Punkt: Es ist wahn-sin-nig anstrengend.«
Nicht nur das: »Es ist so was von unglaublich,
was man machen muss, um das hinzukriegen.
und wie man sich selbst im grunde killt.«
»Als Person«, sie zögert, »... hat man nicht
mehr viel ...« Der satz bleibt einen Moment
im Raum hängen, bevor Nahles sich ins For-
male flüchtet, die »materiellen Voraussetzun-
gen« von gleichberechtigung.
In diesem Moment ist zu ahnen, was sie zu
ihrem schritt bewogen hat und worum es da-
bei für sie ging: nicht nur um ein Amt, son-
dern um ihr Leben. sie ist spät Mutter gewor-
den. seit acht Jahren hat sie eine tochter, gera-
de ist diese in die dritte Klasse gekommen. Die
Frage, wie es in der schule mit der gleichbe-
rechtigung sei, beschäftige sie »jeden tag«, sagt
Nahles, es gebe da eine Menge »Prinzessinnen-
logik«: rosa Überraschungseier, so etwas.
Während Nahles entschleunigt, dreht sich
die Politik in der Hauptstadt im üblichen
Wahnsinnstempo weiter. Die sPD sucht ein
bis zwei neue Chefs, die CDu weiß noch
nicht, ob sie ihre Vorsitzende stützen oder
stürzen soll. Es geht also weiter, normal un-
normal. Doch unter der Oberfläche hat Nah-
les’ Rücktritt spuren hinterlassen. Man merkt
das in Hintergrundgesprächen, da kommt das
gespräch oft auf sie. Was passiert eigentlich
gerade mit uns? Es ist eine Frage, die sich auch
viele andere Politiker immer öfter stellen.
Einige sagen, sie wollten Nahles demnächst
mal besuchen, mit ihr reden. Es klingt dann,
als hofften sie, dabei vor allem etwas über sich
selbst zu erfahren.
An diesem Montagabend in Maria Laach
sieht man auch, was es für einen unterschied
macht, ob ein Publikum zugewandt ist, wohl-
wollend. Ob es zuhört, einem mal einen satz
lang oder zwei folgt. Oder ob man es mit
einer Öffentlichkeit zu tun hat, die nur auf
den nächsten Fehler wartet und die nächste
gelegenheit, sich aufzuregen. »tja, hier hatte
ich das Problem nie«, sagt Nahles.
Das Problem. Andrea Nahles ist so sozial-
demokratisch, dass man sagen muss: Mehr
geht eigentlich kaum. trotzdem hat sich ihre
Partei irgendwann nicht mehr in ihr erkannt.
und Nahles, das ahnt man, hat sich selbst
irgendwann auch nicht mehr erkannt, in ih-
rem Amt und allem, was daran hing.
Nach einer stunde kommt sie dann doch,
die Frage nach der Zukunft: Das Bundestags-
mandat, ob sie das nun behalten wolle? Nah-
les krümmt sich vor Vergnügen: »Wissen sie,
ich bin echt verblüfft, dass das jetzt erst
kommt!« Die Frage werde zügig, zeitlich ab-
sehbar beantwortet. »Du musst drinbleiben!«,
ruft einer aus dem Publikum. »Man muss
aber auch wissen«, sagt Nahles, »wann man
etwas Neues anfangen muss.«
sie sei mit sich im Reinen, sagt Nahles
beim Rausgehen. Bereut sie etwas? Klar, zu
bereuen gebe es immer etwas. Die Entschei-
dung zum Rückzug aber sei für sie unzweifel-
haft richtig gewesen.

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vermittelbar sei. sie müsse stimmungen aufgreifen,
aber das gelinge ihr gerade nicht.
Kühnerts Karriere ist ohne den Niedergang der
sPD nicht zu verstehen. Die Kehrseite seines Erfolgs
ist das scheitern der versammelten Führung. sein
Aufstieg ist einer aus den Ruinen seiner Partei. Er hat
den Absturz der sPD vorhergesagt. und auch in
diesen septembertagen schreiben manche über ihn,
er sei der Letzte in der Partei mit klarem Blick. Er
könnte in diesem Moment triumphieren.
Aber Kühnert sagt: »Rechthaben kann manchmal
auch ein scheißgefühl sein.« Er weiß, dass es für die
sPD nie gut ist, wenn ein Juso-Chef wie der gewin-
ner wirkt. und so sitzt er nun da und wirkt zer-
knautscht.



  1. September 2018: Der Zirkus


Ein mittelalter Mann steuert auf Kevin Kühnert zu.
»Herr Kühnert, da sind sie ja, ich bin von der
Bunten und wollte nur mal fragen: tragen sie eigent-
lich nie ’nen Anzug?«
Kühnert verneint.
»Ach, sehen sie, das ist witzig. Darüber würde ich
gerne mit Ihnen mal ein Interview machen. Was Wit-
ziges, sie wissen schon.« Er setzt noch einmal nach:
»Ich glaub, das könnten sie echt super. Bisschen plau-
dern, ganz locker. sie sind ja so ein Lockerer.«
Dinge, die Kevin Kühnert in den nächsten Mo-
naten über Kevin Kühnert lesen wird: Auf seinem
ersten Bayerntrikot stand der Name von Jens Jere-
mies, weil er sympathie für underdogs hat. Wenn er
tindert, denken viele, ein anderer gebe sich als Kevin
Kühnert aus. Er muss sich dann etwas einfallen las-
sen, um zu beweisen, dass er es wirklich ist. Er hört
gerne schlager, wenn er im Auto sitzt und wach
bleiben muss, vor allem Roland Kaiser.
Im Herbst 2018 ist Kevin Kühnert ein Politiker,
der zu Veranstaltungen eingeladen wird, die damit
werben, dass man hier »etwas über den Menschen
Kevin Kühnert« erfährt.
An einem sonntagabend sitzt er auf der Bühne
in einer turnhalle in Franken, neben ihm die spit-
zenkandidatin der bayerischen sPD. Er spricht über
die Jugendbeteiligung in Berlin-tempelhof. Die
habe ihn zur sPD gebracht. Er spricht über sein El-
ternhaus. Dort wurde viel über sport und wenig
über Politik geredet. Er spricht über seine Zeit als
schülersprecher. Damals habe er gemerkt, dass man
etwas bewirken kann, wenn man sich engagiert.
Zur selben Zeit melden die Nachrichtenagenturen:
Einigung im Koalitionsstreit, Maaßen wird nicht
staatssekretär. Als Kühnert von der Bühne steigt, wird
er von Fernsehteams umringt. Er spricht ein paar
sätze in die Kameras. Er müsse sich das jetzt erst einmal
im Detail ansehen. Dann müsse man in den gremien
diskutieren. Es wirkt, als wolle er in diesem Moment
nichts Falsches sagen.
Kühnert sagt, er habe sich den Kanzlerinnenschlaf-
rhythmus von vier bis fünf stunden angewöhnt.





    1. 2019: SPD in der Krise: Schröder wirft Nahles
      »Amateurfehler« vor (»Tagesspiegel«)





    1. 2019: Schröder für Comeback von Sigmar
      Gabriel (»Süddeutsche Zeitung«)





    1. 2019: Sigmar Gabriel: Plant er sein Comeback
      bei der SPD? (»Spiegel«)



  1. Februar 2019: Dagegensein


Im Februar wird er fordern, dass die sPD das Ende
der Koalition zum Jahreswechsel vorbereitet. Im
Juni, dass die sPD ein klares Profil in der Mi gra-
tions poli tik entwickelt. Im selben Monat, dass die
sPD die Bundesregierung verlassen soll. Einen Mo-
nat später wird er fordern, dass sich endlich Bewer-
ber für den sPD-Vorsitz melden, die nicht bloß ihre
eigene Karriere im Blick haben. Im August, dass die
sPD sich um die Interessen der leistungsbereiten
Arbeitnehmer kümmert.
Die Rede ist von sigmar gabriel. Nicht von Ke-
vin Kühnert.
Jede Partei hat von Zeit zu Zeit mit ihren Wider-
sprüchen zu kämpfen. Die grünen wollen das Kli-
ma schützen, aber reisen selbst gerne mit dem Flug-
zeug. Die CDu-Politiker verteidigen die christ-
lichen Werte, aber besuchen die Kirche nur noch an
Heiligabend.
Die sPD hat ein solidaritätsproblem. Am Wo-
chenende zuvor hat gerhard schröder dem Spiegel
ein langes Interview gegeben. Er hat Andrea Nahles
die Eignung für das Kanzleramt abgesprochen. Er
hat Kevin Kühnert einige Kleidungstipps gegeben
und gefordert, dass sigmar gabriel in der Partei wie-
der eine stärkere Rolle spielen solle. gabriel tourt
währenddessen durch die sPD-Ortsvereine. Dabei
lässt er sich von Journalisten begleiten, die anschlie-
ßend über ein »Comeback« schreiben.
In den umfragen liegt die Partei in diesen Wo-
chen bei 15 Prozent.
Kühnert sitzt an einem Konferenztisch im Willy-
Brandt-Haus. Er sagt: »Ich habe das alles so satt.« Er
fischt sein Handy aus der Hosentasche und liest
einen tweet von gabriel vor, in dem er mehr oder
weniger offen Nahles attackiert. Er blickt auf. »Ist
das nicht ätzend?«
Man kann die genossen auch zu Kevin Kühnert
fragen. Oft hört man dann dieselben sätze. Der habe
es ja leicht. Der müsse bloß kritisieren. sie selbst da-
gegen müssten permanent bedenken, dass alles mit
allem zusammenhängt, sie müssten moderieren, aus-
gleichen. Diskurs, Kompromiss, das ganze Programm.
Kühnert dagegen profitiere von der »Erotik des Da-
gegenseins«, sagt ein führender sozialdemokrat.
Auch Kevin Kühnert kann lästern. Er kann die
schwächen mancher sPD-Minister analysieren, er
kann austeilen gegen führende Leute aus der Bundes-
tagsfraktion. Aber er hat sich verboten, es öffentlich zu
tun. In den Wochen zuvor hat er an dem sozialstaats-
papier gearbeitet, das die sPD tags darauf der Öffent-
lichkeit präsentieren wird und mit dem sich die Partei
selbst von Hartz IV befreien will.
Kühnert sagt, das sei alles ein wirklich guter Pro-
zess gewesen. Das Papier werde keines von der sorte,


die man hier im Willy-Brandt-Haus bis unter die
Decke stapeln könne.
Wenn er unterwegs ist, werde er häufig als
»groko-Rebell« angekündigt, sagt er, aber dann
würden sich die Leute wundern, dass er gar nicht über
die groko rede, sondern über die Erneuerung der
Partei und darüber, was sie demnächst sozialpolitisch
verändern wollen.
Er sagt: »Ich will nicht die Möhre sein, hinter der
alle herlaufen, nur weil sie denken, der ist ein bisschen
linker als der Rest.«
Man könnte glauben, dass Kevin Kühnert nach
einem Jahr im Zentrum der Öffentlichkeit eitel ge-
worden sei oder abgehoben, weil die Dinge ja hin und
wieder so laufen. Aber so ist es nicht. Vielmehr wirkt
er oft derart ernsthaft, dass man sich manchmal darü-
ber wundert, dass sich die sehnsüchte in der Partei
ausgerechnet ihn als Figur ausgesucht haben.
Wenn man ihn bei anderer gelegenheit fragt, wie
ein linkes Programm für die sPD aussähe, sagt er:
Vermögensteuer, Erbschaftsteuer, Investitionsoffen-
sive. Es ist das, was man als linker sozialdemokrat
für gewöhnlich so fordert. Vorschläge, die zu guten
Zeiten dazu taugten, dass sich Leute darüber ärger-
ten, und die heute seltsam klein wirken. Als würde
jemand mitten in einem tsunami nach seinem Re-
genschirm suchen.




    1. 2019: Sozialstaatsreform: SPD diskutiert über
      Ende von Hartz IV (»Frankfurter Allgemeine Zei-
      tung«)





    1. 2019: Kühnert verteidigt SPD-Sozialpläne
      (»Hamburger Abendblatt«)





    1. 2019: SPD: Zarter Aufschwung (»Handels-
      blatt«)





    1. 2019: Umfrage: Union verliert, SPD gewinnt
      hinzu (»Frankfurter Allgemeine Zeitung«)



  1. Februar 2019: Ungeduld


An diesem Abend soll es um das große gehen. um die
»Philosophie der sozialdemokratie«. so hat es die
Moderatorin gesagt, und als die Veranstaltung im
Kulturzentrum in Berlin schon fast zu Ende ist, meldet
sich ein Zuhörer, steigt auf das Podium und beginnt,
vom Erfurter Programm von 1891 zu sprechen und
davon, dass die sPD ihre ideologischen grundsätze
verloren habe. Dass sie nicht einmal mehr daran den-
ke, den Kapitalismus infrage zu stellen.
Kühnert könnte sich nun mit diesem Mann soli-
darisieren, er könnte ihm zustimmen, als der fordert,
die sPD müsse sich wieder auf ihre tradition des
demokratischen sozialismus besinnen. Aber er
schaut ihn bloß ausdruckslos an. Dann sagt er, dass
die Besteuerung von Digitalkonzernen zum Beispiel
etwas sehr grundsätzliches sei. Als der Zuschauer
noch etwas hinterherschieben will, unterbricht ihn
Kühnert. »Das ist immer das Problem bei solchen
Veranstaltungen«, sagt er.
Für einen Moment ahnt man, dass Kevin Kühnert
unter Druck auch ganz anders kann. Etwas weniger
nett.
später sagt der Mann, er sei enttäuscht vom Juso-
Chef. Kühnert sagt, er sei gerade ganz zufrieden.
Drei Monate später wird die sPD das schlechteste
Wahlergebnis seit den Wahlen zum Reichstag 1887
erzielen. Es wird ein Machtkampf beginnen, der
eigentlich keiner ist, weil die Macht niemand mehr
will. Die Ersten werden sich melden und fordern,
dass Kühnert nun in die Verantwortung müsse.




    1. 2019: Wie viel DDR steckt in der SPD?
      (»Bild«)





    1. 2019: Sozialismus-Thesen des Juso-Chefs spalten
      die große Koalition (»Bild am Sonntag«)





    1. 2019: SPD mobbt Nahles weg (»Bild«)





    1. 2019: Kommt jetzt Kevin Kühnert? (»Hamburger
      Abendblatt«)



  1. Juni 2019: Schuld


Man kann an Andrea Nahles erkennen, wie das Le-
ben eines Juso-Vorsitzenden verlaufen kann, wenn
erst vieles gut und dann manches schiefgeht: Andrea
Nahles war die linke Hoffnungsträgerin. Oskar La-
fontaine nannte sie ein »gottesgeschenk«. sie war ge-
neralsekretärin, Ministerin, Vorsitzende. Vor einigen
tagen hat sie ihrer Karriere selbst ein Ende gesetzt.
»Machen sie es gut«, hat sie zu den Journalisten gesagt
und ist nach Hause, in ihr Heimatdorf gefahren. so
endet ein halbes Leben für die sozialdemokratie.
Man könnte Kevin Kühnert verstehen, wenn er
diese Aussicht nicht gerade verlockend findet.
Hat er schuld an Nahles’ Ende?
Kühnerts Augen verengen sich. Er sagt, das sei
ein Vorwurf, der einer sehr oberflächlichen Analyse
von Politik entspringe. Es sei doch so: Er habe die
Führung in der sache kritisiert, aber sei nie persön-
lich geworden. Inhaltliche Kritik sei keine Ma jes-
täts belei di gung. Er habe sich konstruktiv verhalten
und überhaupt nur einmal, und zwar bei Maaßen,
den Ausstieg aus der Koalition gefordert. Er habe
keine sitzungsprotokolle an die Medien durchge-
stochen. Er sei es nicht gewesen, der die Fraktions-
sitzungen zum tribunal für Nahles gemacht habe.
Er habe sich nichts vorzuwerfen.
Einerseits stimmt alles, was er sagt. Aber ande-
rerseits auch nicht. Er hat Andrea Nahles vorge-
führt, ohne es zu wollen. Er war es, der während der
Maaßen-Affäre im entscheidenden Moment einen
besseren Instinkt bewies als die erfahrene strategin.
Er war es, der am Anfang von ihrem Ende stand.
Oder war es doch sie selbst?
Man merkt Kühnert mit jedem satz an, dass er als
jemand gelten will, der immer fair spielt. Er sagt, es
habe sich bei ihm eingebrannt, dass viele Leute ihn
nach seinem Widerstand gegen die groko dafür lob-
ten, dass er dabei ohne Verletzungen, ohne apokalyp-
tische Wortwahl ausgekommen sei. Dass er sich auf
die sache konzentriert habe. seitdem, sagt er, sei er
überzeugt, dass für eine neue sPD auch ein anderer
stil nötig sei. Keine breiten Beine, keine Machtgesten,
nicht auf alles eine Antwort haben. Ein bisschen wie
Habeck, nur mit nicht ganz so viel Meta.

Nahles sagte über Kühnert in vertrauter Runde:
»Der weiß eben, welche Knöpfe man drücken
muss.«




    1. 2019: Jetzt muss Kevin springen! (»taz«)





    1. 2019: Kevin Kühnerts ehemalige Grundschul-
      lehrerin hält ihn für SPD-Parteivorsitz für geeignet
      (»Bild am Sonntag«)





    1. 2019: SPD-Vorsitz: Gute Chancen für
      Kühnert (»Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung«)



  1. Juni 2019: Vernunft


Olaf scholz hat ein paar tage zuvor erklärt, die
Chancen, dass die sPD bei der nächsten Bundes-
tagswahl stärkste Partei werde, stünden so gut wie
lange nicht mehr.
Kevin Kühnert sitzt auf einer Bühne in einem
fensterlosen Raum. Ein Mann fragt ihn: »Warum
hast du nach der Europawahl nicht gesagt: ›ge-
nug ist genug‹? Warum bist du nicht hergegangen
und hast gesagt: ›Wir müssen raus‹? Ich versteh’s
einfach nicht.« Der Mann wirkt ernsthaft ver-
zweifelt.
Kühnert blickt nun finster drein. Er sagt, er er-
kenne keine strategie darin, in einer für die sPD
disruptiven situation einen planlosen Ausstieg zu
fordern. Er sagt, wenn man immer das gleiche er-
zähle, verwässere das den eigenen standpunkt, weil
es Folklore werde. Er sagt, wenn man aus einer Koa-
lition aussteigen wolle, dann brauche man gerade von
linker seite einen Plan für die Zeit danach. Er jeden-
falls wolle nicht kopflos von einem unglück ins
nächste stolpern.
Es ist in der sPD gerade nicht besonders schwie-
rig, als Jüngster wie der Erwachsenste zu wirken.


  1. Juli 2019: Zwischenwelt


schon fünf Personen kandidieren für den sPD-
Vorsitz, drei Bundestagsabgeordnete, eine ehemalige
Landesministerin und ein Neunundsiebzigjähriger,
der gesagt hat, dass der »tanker sPD« derzeit »im
treibsand« stecke.
Kühnert hat sich noch nicht geäußert. Aber weil
er bereits die Prominenz eines sPD-Vorsitzenden
hat, nur mit dem Apparat eines Asta-Vorsitzenden,
hat er sich ein paar tricks angewöhnt. Wenn er
durch die straßen Berlins läuft, schaut er möglichst
konzentriert auf den Boden. Wenn er in der u-Bahn
steht, dreht er sich halb zur seite, das reduziert die
Zahl derer, die ihn erkennen könnten, um die Hälf-
te. Wenn er, wie an diesem Mittag, mehrere stunden
Zug fahren muss, setzt er sich möglichst nah ans
Bordbistro, um nicht durch mehrere Waggons lau-
fen zu müssen.
Kevin Kühnert steckt in einer seltsamen Zwi-
schenwelt. Er ist Vorsitzender einer Jugendorganisa-
tion, die an diesem tag in München das 50. Jubilä-
um ihrer sogenannten Linkswende feiert und Work-
shops zum Arbeiterliedersingen und zur »Hoch-
schulpolitik im/trotz Kapitalismus« abhält. Aber er
ist auch ein Mann, von dem viele in der Partei sagen,
dass er die Hoffnung trage. Oder tragen die Hoff-
nungen ihn?
seine Veranstaltungen wirken dagegen seltsam
harmlos. Er ist in diesem Jahr aus ihnen herausgewach-
sen. Am frühen Abend sitzt er in einem saal und will
mit seiner Vorgängerin Johanna uekermann und ei-
nem Dutzend anderen Jusos über »Kämpfe gegen die
groko früher und heute« sprechen. uekermann war
2013 ebenfalls gegen die groko, vier Jahre später woll-
te sie in den Bundestag, aber ihr Landesverband wähl-
te sie auf einen aussichtslosen Listenplatz. Heute ist
sie Jugendsekretärin bei der Eisenbahn- und Verkehrs-
gewerkschaft. Man kann es gut meinen in der Politik
und trotzdem am falschen Ort landen. Wenn man sie
darauf anspricht, schaut sie einen an, als würde sie
einen gerne ohrfeigen.
Kevin Kühnert wird an diesem Abend O-töne
für die Abendnachrichten sprechen und danach zu-
frieden sagen: »Vielleicht geht da der Puls in den
Wohnzimmern gleich ein bisschen hoch.«
Er wird grinsen, als ein Wirt im Biergarten Feier-
abend machen will und ihm daraufhin hundert Jusos
die Internationale entgegensingen.
Er wird mitten in der Nacht eine stunde mit
Manuela schwesig telefonieren und die Lage der
Partei diskutieren.
sechs Wochen später sitzt er in einem Café in
Berlin. Er war zehn tage wandern, aber abschalten,
sagt er, konnte er nicht. Über das, was nun bespro-
chen wird, darf man nicht schreiben. Es ist Vertrau-
lichkeit vereinbart. Aber nach so einem gespräch
kann man den Eindruck haben, dass es nicht Kevin
Kühnerts Plan ist, Vorsitzender der sPD zu werden.
Kühnert hat für seine Partei ein Bild. Die sPD sei
wie ein schwamm, der ausgetrocknet sei und gerade
Wasser brauche. Mit Wasser meint er Inhalte, Ziele
und nicht Debatten über Personal, Machtkämpfe,
schlagzeilen, also all das, was die sozialdemokratie
in den vergangenen Monaten ausgemacht hat.
In der sPD aber gehen die spekulationen weiter.
Wird Kühnert sich mit einem stellvertreterposten
zufriedengeben? Eher nicht, meinen viele. Wird er
generalsekretär werden wollen, womöglich in einem
trio mit Lars Klingbeil und einer Frau als neuen
Parteichefs? Vielleicht, sagen manche. Das Amt
würde schließlich zu ihm passen, weil er nicht in der
ersten Reihe stünde, aber nun tatsächlich Verant-
wortung bekäme – und übernehmen müsse.
Jede Option wirkt wie eine Last, jede Entschei-
dung kann die falsche sein.
An diesem Juliabend in München, als alle Ver-
anstaltungen vorbei und alle O-töne gesendet
sind, fällt der Druck von Kevin Kühnert ab. Er lässt
sich auf einen stuhl in einer Kneipe fallen. Er be-
stellt ein großes Helles, stellt einen Aschenbecher
auf den tisch, legt seine Zigarettenschachtel dane-
ben. Wenn man ihn hier sitzen sieht, kann man
verstehen, wie anstrengend es ist, die letzte Chance
der sPD zu sein. Als das Lied Rhythm Is a Dancer
von snap aus den Boxen dröhnt, ruft der Juso-
Vorsitzende: »geil!«

POLITIK 5


»Wie man sich selbst


im Grunde killt«


Andrea Nahles redet wieder öffentlich und verrät dabei


so einiges über ihren Rücktritt VON TINA HILDEBRANDT


Die ehemalige SPD-Chefin Andrea Nahles im Kloster Maria Laach in der Eifel
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