Neue Zürcher Zeitung - 10.08.2019

(Ann) #1

26 WIRTSCHAFT Samstag, 10. August 2019


Macht Norwegens Bahnreform

der eigenen Staatsbahn den Garaus?

Die Regierung will die Subventionen für den Zugverkehr verringern und lässt ausländ ische Anbieter zu


Norwegen schreibtKonzessionen


für einzelneTeilnetze imLand


neu aus. Die bisherige


Betreiberin NSB/Vy ging


in den ersten beiden


Wettbewerben leer aus.


RUDOLF HERMANN, OSLO


Man liebte sie als nationales Sym-
bol, hasste sie aber für ihreVerspä-
tungen undAusfälle: NSB, die norwe-
gische Staatsbahn, die es nicht mehr
gibt. Seit imFrühling mit grossemTam-
tam der Namegewechselt wurde, heisst
das nach wie vor in Staatshand befind-
licheVerkehrsunternehmen nunVy.Das
Management will mit dem umgerechnet
rund 30 Mio. Fr. teuren «Rebranding»
zum Ausdruck bringen, dass man eine
«neueVision» habe und mit dieser in
einem verkehrspolitischen Umfeld be-
stehen wolle, in dem man harterKon-
kurrenz ausgesetzt sei.Das Publikum
allerdingskonnte zunächst nicht nach-
vollziehen, weshalb eine seit überhun-
dert Jahren bestehende und bestens ein-
geführte Marke aufgegeben und gegen
einen Namen eingetauscht werden
sollte, der niemandem etwas sagt. Und
noch viel weniger wurde verstanden,
warum das Geld nicht in eineVerbesse-
rung der Dienstleistung gestecktwurde.


Ausgerechnetdie Schweden


Dochdasallesspieltvielleichtschonbald
gar keine Rolle mehr. Denn es ist durch-
aus möglich, dass die NSB – pardon,Vy



  • demnächst von einem grossenTeil des
    norwegischen Schienennetzes ohnehin
    verschwunden sein wird. ImRahmen
    einer von derRegierung angestossenen
    Reorganisation desBahnverkehrs wer-
    dennämlichsukzessivedieFernstrecken
    in sogenanntenPaketen ausgeschrieben


und derjenigenBahngesellschaft zuge-
sprochen,die das beste Betriebsangebot
unterbreitet. Die ersten zweiAusschrei-
bungen sind bereits über die Bühne ge-
gangen. Und beide Male gehörte NSB/
Vy zu denVerlierern.
Das Südwest-Paket mit der Stre-
cke Oslo–Kristiansand–Stavanger als
Kernstück ging vor knapp einemJahr
an die britische Go-Ahead-Gruppe.
Mehr schmerzen dürfte die norwegische
Staatsbahn jedoch,dass imJuni auch das
Nord-Paket mit denFernverbindungen
Oslo–Trondheim–Bodö verloren ging.
Nicht nur umfasst dieses die touristisch
interessanten Strecken derRauma- und
der Nordlandbahn , sondern den Zu-
schlag erhielt ausgerechnet die schwe-
discheBahngesellschaft SJ.Aus Schwei-
zer Sicht wäre das etwa so, wie wenn die
DeutscheBahn die Strecke St. Gallen–
Genf oder die Gotthardbahn überneh-
men würde.
WieausdenMedienmitteilungenzum
Ausgang der beidenAusschreibungen
hervorging, lagen die Angebote von Go
Ahead und SJ bei vergleichbarem Leis-
tung sumfang um 21% bzw. 27%unter
den jeweiligen Offerten von NSB/Vy.
In der Eisenbahndirektion, der für den
Bahnverkehr und damit auch dieTender
zuständigenStaatsagentur,siehtmansich


damitbeimeingeschlagenenWegderRe-
organisationbestätigt.GünstigereAnge-
bote bedeuten nämlich, dass der Staat
bei den Subventionen deutlich weniger
tief in die Kasse greifen muss.«Unser
vorrangigesZielbestehtdarin,dieMobi-
lität sicherzustellen, die Effizienz zu er-
höhen und dieKundenorientierung zu
verbessern»,sagt TörreAalbuRasmus-
sen,einAnalytiker der Eisenbahndirek-
tion(derstaatlichenBahnbehörde).Das
müsse nicht unbedingt durchKonkur-
renz auf der Schiene geschehen, son-
dernkönne auch allein schon dadurch
erreicht werden,dass eine exklusive Be-
triebskonzession nicht mehr einfach an
ein vorbestimmtes Unternehmen erteilt
werde,sondernebenmehrereAngebote
eingeholt würden.
Konkurrenz auf der Schiene, wie sie
beispielsweise in Schweden auf gewissen

Strecken schon besteht, dürfte man in
Norwegen hingegen so schnell nicht se-
hen. Laut AalbuRasmussen gibt es sei-
tens des EWR (dem Norwegen ange-
hört) zurzeit nochkeine Verpflichtung
dazu. Obwohl auf dieses Ziel hingear-
beitet wird, ist das sogenannteVierte
Eisenbahnpaket der EU noch nicht
implementiert.Auch ist Norwegen inso-
weit ein Sonderfall, als eskeine «Renn-
strecke» gibt, auf der dasVerkehrsauf-
kommen gross genug wäre für mehrere
Anbieter gleichzeitig.
BahnfahrtenzwischenderHauptstadt-
region und den drei grösseren urbanen
Zentren Stavanger, Bergen undTrond-
heim dauern zwischen sechs und acht
Stunden.Das Flugzeug ist hier nicht nur
wesentlich schneller, sondern oft auch
günstiger. Die Bahn dient deshalb mehr
dem Zweck,die Orteentlang der Strecke

mit den grösseren Zentren zu verbinden.
Dadurch allerdings werdenkeine grossen
Volumina generiert. Entsprechend ist ein
Stundentakt illusorisch;keine der drei
Routen bringt es auf mehr als ein halbes
DutzendAbfahrtenproTagundRichtung.
Ein Hindernis für dichterenVerkehr ist
auchderUmstand,dassessichausnahms-
los um einspurige Strecken handelt.
Die Bahnreform in Norwegen ist mit
Blick auf diese Besonderheitenkonzi-
piert worden.WährendStrecken-Mono-
pole erhalten bleiben, werden die einst
ebenfalls von der Staatsbahn besetzten
Bereiche Schienennetz-Infrastruktur,
Rollmaterial undTicketing vom eigent-
lichenBahnbetrieb getrennt.Wenn Go
AheadimDezember2019 unddieSchwe-
dischenBahnen imJuni 2020 dieihnen
zugesprochenen Strecken übernehmen,
dann müssen sie dasRollmaterial von
NorskeTog mieten, einer Staatsgesell-
schaft, in die alle bestehenden Lokomo-
tivenundWagendesNoch-Monopolisten
NSB/Vy ausgelagert worden sind.
Erst wenn den Neuen das Geschäft
so gut läuft, dass sieVerbindungen über
das vertraglich festgelegte Niveau hin-
aus anbietenkönnen, dürfen sieallen-
falls eigenes Rollmaterial einsetzen.
Desgleichen mussten sich die neuen
Betriebsgesellschaften verpflichten, das
NSB-Personal und damit auch das bis-
herige Beschäftigungsniveau mindes-
tens einstweilen zu übernehmen. Soll-
ten sie sich mit ihrem Businessplan ver-
schätzt haben und deshalb vorzeitig das
Handtuch werfen wollen,sehen dieVer-
träge substanzielle Strafzahlungen vor,
die einAussteigen vor Ablauf der acht-
bis zehnjährigenLaufzeit derKonzes-
sion relativ unattraktiv machen.

Die Stunde derWahrheit


Für NSB/Vykommt die Stunde der
Wahrheit, wenn die Eisenbahndirek-
tion über denAusgang der drittenAus-
schreibung befindet. Diese betrifft die
berühmte Bergen-Bahn; dieFrist für
das Einreichen von Angeboten ist am


  1. Au gust zu Ende gegangen.Verliert
    die staatlicheBahngesellschaft diesen
    Wettbewerb ebenfalls,muss sie auch
    das unbestritteneFiletstück im norwe-
    gischen Streckennetz abgeben. Die Ber-
    gen-Bahn hatsich zueinemTourismus-
    Renner entwickelt; ihre Züge sind oft
    restlos ausgebucht. Ohne die Bergen-
    Bahn bliebe NSB/Vy nur noch das zwar


voluminöse, aber unattra ktive S-Bahn-
Geschäft im Grossraum Oslo. Dieses ist
wegen derPendler-Pauschaltarife kaum
gewinnbringend zu betreiben und auf
staatliche Subventionen angewiesen.
Bei denFernstrecken geht man in der
Eisenbahndirektion hingegen davon
aus, dass die zwei neuen Betriebsgesell-
schaften gegen Ende ihresKontrakts die
Gewinnschwelle erreicht haben sollten.
Und bei der Bergen-Bahn sei dasPoten-
zial nochgrösser.
Brancheninsider meinen, dass das
Management von NSB/Vy spätestens
beim Misserfolg in derAusschreibung
des Nordbahn-Pakets aus seiner frühe-
ren Selbstgefälligkeit gerüttelt worden
sei und habe feststellen müssen, dass
Effizienz sich nicht von selbst einstelle.
Zu reden gab in diesem Zusammenhang
laut einem Bericht des öffentlichenFern-
sehsenders NRK auch die «Direktoren-
Schwemme» imBahnbereich: Seit der

Aufspaltung der früheren Staatsbahn,
die von insgesamt 11 Spitzenmanagern
geleitet worden war,in mehrere selb-
ständige Einheiten sei die Zahl derTop-
kader auf 49 angeschwollen.
VerkehrsministerJon GeorgDale, in
dessen Zuständigkeitsbereich dieBahn
fällt, rechtfertigte indes gegenüber NRK
das Vorgehen: Die neuen Direktoren
seien nötig, um die einzelnenTeile des
früheren Staatskolosses zureformieren
und die Gesellschaften auf einDasein
in einemKonkurrenzumfeld vorzube-
reiten. Die Einsparungen, die durch die
Ausschreibung der einzelnen Betriebs-
konzessionen erzielt würden, mach-
ten dieAusgaben für die neuen Kader-
posten mehr als wett, befandDale.

Ein ähnlich schlechter Ruf


AusSicht desBahnfahrers weckt jedoch
nicht bloss die Diskussion darüber Stirn-
runzeln, ob eine abgespeckte norwegi-
sche Staatsbahn tatsächlich mehr Chefs
als zuvor braucht. Sondern auch die
Tatsache, dass das umfangreichePaket
Nord ausgerechnetden schwedischen
SJ zuerkannt wurde. Sind die Norweger
über die Unzuverlässigkeit ihrer frühe-
ren NSB verärgert (und geben ihnen die
Statistiken diesbezüglichrecht),so hört
man ähnliche Klagelieder im Nachbar-
landauchüberdieSJ.Demnorwegischen
Konsumentendürftedeshalbschleierhaft
sein, wie eineBahngesellschaft mit ähn-
lich schlechtemRuf punkto Störungs-
anfälligkeitanderswoeineentscheidende
Verbesserung bringen soll.
Allerdings büssen hier sowohl NSB/
Vy als auch SJ für ihreVergangenheit
als Staatsmonopolisten. Betriebsstörun-
gen werden ihnen auch dann zurLast
gelegt, wenn sie gar nicht(mehr) direkt
daran schuld sind.Die Mehrzahl derVer-
spätungen rührt von der unzulänglichen
Gleis-Infrastrukturher,undfürdiesesind
schon einige Zeit nicht mehr dieBahn-
betreiber, sondern die staatlichenVer-
kehrsabteilungen zuständig (Bane Nor
in Norwegen beziehungsweiseTrafikver-
ket in Schweden).Sehr wohlverantwort-
lich sind dieBahnbetreiber allerdings für
die Bereitstellung vonBahnersatz-Ver-
bindungen, und dort hat SJ bei diver-
sen grösseren Störungen in jüngster Zeit
nicht die besteFigur gemacht.

Derarktische Norden will auch eine Bahn


ruh. Bodö·Bei einem Blick auf die
Karte Norwegens liegt Bodö schon
eine respektableReisedistanz von der
Hauptstadt Oslo entfernt – rund 1200
Strassenkilometer,meldet derRouten-
planer.Wer derKüste nach weiterfahren
will bis ans nordöstliche Ende desLan-
des beiKirkenes, ist in Bodö allerdings
erst gerade in der Hälfte.Und wenndas
norwegische Eisenbahnnetz hier endet,
dann bedeutet das,dass die ganze nörd-
liche Hälfte Norwegens ohne dieses
Transportmittel auskommen muss.
Eine Nordnorwegen-Bahn spukte
schon des Öfteren in denKöpfen von
Verkehrsplanern herum. Ein erster, un-
rühmlicher Anlauf stammt aus der Zeit
der nazideutschen Besetzung Norwe-
gens im ZweitenWeltkrieg: EineBahn-
strecke bis Kirkenes sollte dieVersor-
gung Deutschlands mit kriegswichtigen
Rohstoffen sichern,namentlich Eisenerz
und Nickel. Unter unmenschlichen Be-
dingungen wurdenTausende Zwangs-
arbeiter eingesetzt, die mit einfachs-
ten technischen Hilfsmitteln die Stre-
cke durch das schwierige Gelände der
nordnorwegischen Berg- und Fjordland-
schaft legen sollten.
Nachdem Norwegen1962 die Nord-
landbahn vonTrondheim nachFauske
und Bodö ganz in Betrieb hatte nehmen
können,kam der Gedanke einerWeiter-

führung nach Narvik oder sogarTromsö
immer wieder aufsTapet – und wurde
ebenso häufig verworfen. Nun steht das
Thema einmal mehr zur Debatte. Die
staatliche Eisenbahndirektion (Bahn-
behörde) veröffentlichteim Juli eine
Kalkulation, die dieBaukosten einer
knapp 400 km langen einspurigen Stre-
cke vonFauske nachTromsö mit einem
80 km langen Seitenarm nach Harstad,
einem wichtigen Stützpunkt derFische-
rei und derPetroleum-Industrie, auf
insgesamt 132 Mrd.nKr. (14,5 Mrd.Fr.)
veranschlagt (zumVergleich: Der Gott-
hard-Basistunnelkostete rund 12Mrd.
Fr.). DiePolitik soll nun bis Oktober
dazu Stellung beziehen.
In Nordnorwegen ist dasVorhaben
populär. «Wir wollen dieBahn jetzt!»,
titelteeine Lokalzeitung inTromsö un-
längstresolut.Für die Politik hiesse dies
allerdings, bewusst ein Eisenbahnpro-
jekt aufzugleisen, das laut derBahn-
behörde nie in die schwarzen Zahlen
kommen wird.
Als Gründe, die für denBau der
Bahnlinie sprechen, werden die stei-
gende wirtschaftliche Bedeutung des
Nordens,die Verbesserung desVer-
kehrsangebots für die Bevölkerung und
die Verlagerungvon Transporten von
der Strasse auf die Schiene angeführt.
Ausserdemkönnte bei Narvik ein An-

schluss an die von Nordschweden her-
einragendeBahnst recke von Kiruna
hergestellt werden. Skeptiker befürch-
ten allerdings, dass andere, ebenfalls
nötige Infrastrukturprojekte für den
arktischen Norden dann auf der Strecke
blieben. Mit dem Geld, das dieBahn-
linie verschlingen würde, könne man in
der Region das gesamte Strassennetz
auf Vordermann bringen, wovon eine
ungleich grössere Zahl von Bewohnern
profitieren würde, heisst es.
Nimmt man die bestehende Nord-
landbahn zwischen Trondheim und
Bodö zum Massstab, sind tatsäch-
lich Zweifel am Sinn einer Strecken-
erweiterung angebracht. Mit je einem
Tages- und einem Nachtzug proTag
und Richtung über die ganzeStrecken-
länge ist die Eisenbahn zwar fürTou-
risten attraktiv, die die nötige Musse
haben, die spektakuläreReise zu ge-
niessen. Der Zug taugt mit dieserVer-
kehrsdichte aber kaum alsKonkurrenz
für den motorisierten Individualverkehr.
Bei den Gütertransporten befindet sich
die Bahn unter so grossem Preisdruck
durch den Strassen-Schwerverkehr, dass
das Geschäft zunehmend unrentabel ist.
Ohne politische Lenkungsmassnahmen
zugunsten der Schiene wäre eine Nord-
norwegen-Bahn deshalb ein zweifelhaf-
tes Vorhaben.

NZZ Visuals/lea.

DienorwegischenFernstrecken


Oslo–Kristiansand–Stavanger
Oslo–Bergen
Oslo–Trondheim–Bodö
Bodö–Narvik–Tromsö (erwogen)

SCHWEDEN

FINNLAND

300 Kilometer

NORWEGEN

Oslo

Kristiansand

Stavanger

Bergen

Andalsnes

Tr ondheim

Bodö

Narvik

Tr omsö

Sollten sich die Neuen
mit ihrem Businessplan
verschätzt haben und
vorzeitig das Handtuch
werfen wollen,
sehen dieVe rträge
substanzielle
Strafzahlungen vor.

Die Bergen-Bahn ist
einTourismus-Renner.
Ve rliert die staatliche
Bahngesellschaft
diese Strecke ebenfalls,
muss sie das
unbestrittene Filetstück
abgeben.
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