Süddeutsche Zeitung - 17.08.2019

(Jacob Rumans) #1
von wolfgang görl

I


m Oktober 1285 wird die kleine jüdi-
sche Gemeinde der knapp 130 Jahre
alten Stadt München Opfer eines Po-
groms. Wie häufig bei mörderischen
Exzessen dieser Art dient die frei er-
fundene Behauptung, die Juden hätten ei-
nen Ritualmord begangen, als Vorwand für
die Gewalt. Angeblich hätten Juden einen
christlichen Knaben getötet, um sein Blut
für rituelle Zwecke zu missbrauchen. Dar-
aufhin treiben Münchner Bürger alle in der
Stadt lebenden Juden in einem Haus zu-
sammen und verbrennen sie. Die Namen
der Ermordeten sind im „Nürnberger Me-
morbuch“, einem zeitgenössischen jüdi-
schen Totengedenkbuch, verzeichnet. Min-
destens 67 Männer, Frauen und Kinder
sind damals umgebracht worden.
Die Kopie der einschlägigen Seite des
Memorbuchs sowie andere historische Do-
kumente sind derzeit in der Universitätsbi-
bliothek der Ludwig-Maximilians-Univer-
sität (LMU) zu sehen. Sie sind Teil einer auf-
schlussreichen Ausstellung, die sich unter
dem Titel „Lost Neighbourhood“ auf die
Spuren der Münchner Juden im Mittelal-
ter begibt. Dreizehn Studentinnen und Stu-
denten haben unter der Ägide von Eva Ha-
verkamp, Professorin für Mittelalterliche
Jüdische Geschichte und Kultur, sowie Ast-
rid Riedler-Pohlers vom Bayerischen
Hauptstaatsarchiv, die Ausstellung konzi-
piert. Wobei sie Wert darauf legten, die ge-
sammelten Exponate und Quellen nicht
nur zu zeigen, sondern diese auch inhalt-
lich vorzustellen, zu interpretieren und zu
kommentieren. Damit bieten die studenti-
schen Ausstellungsmacher einen erhellen-
den Einblick in das Leben der Juden im mit-
telalterlichen München – ein Einblick, der
dringend notwendig ist, denn wissen-
schaftlich ist das Thema noch unzurei-
chend ausgeleuchtet, wie Eva Haverkamp
in ihrer Rede bei der Eröffnung beklagte.


Die chronologisch aufgebaute Ausstel-
lung erzählt von den ersten Juden, die in
München lebten, von ihrer rechtlichen Si-
tuation, von ihrem kulturellen, religiösen
und wirtschaftlichen Wirken, vom alltägli-
chen Leben, aber auch von Diskriminie-
rung und Verfolgung. Ein Mit- und Gegen-
einander, das Eva Haverkamp so resü-
miert: „Juden hatten neben Patriziern, den
städtischen Eliten, gelebt, die häufig inner-
halb der ersten Stadtummauerung wohn-
ten, an der die Judengasse lag. Mit der Ver-
treibung durch den Herzog und die Stadt-
gemeinde war diese Nachbarschaft verlo-
ren – eine Lost Neighbourhood.“
Die Geschichtsstudentin Katharina
Schneider widmet sich in jeweils einer Vi-
trine der Topografie des ersten jüdischen
Viertels in München und dem Pogrom von



  1. Nicht weit vom Kern der damals noch
    recht kleinen Stadt und nahe dem Alten
    Hof, der herzoglichen Burg, hatten sich die
    meisten Münchner Juden seinerzeit ange-
    siedelt. Das Viertel, in dem keineswegs aus-
    schließlich Juden lebten, befand sich dort,
    wo heute der Marienhof ist. Bereits zwei
    Jahre nach dem mörderischen Pogrom lie-
    ßen sich erneut jüdische Familien in Mün-
    chen nieder, und im 14. Jahrhundert pro-
    sperierte die Gemeinde offenbar so stark,
    dass sie es sich leisten konnte, eine eigene
    Synagoge zu errichten. Diese befand sich
    in der Judengasse, der späteren Gruftgas-
    se, auf dem heutigen Marienhof. Wie die
    christlichen Münchner nutzten ihre jüdi-
    schen Nachbarn den zentralen Marktplatz
    (heute Marienplatz), und sie hatten eine ei-
    gene Fleischbank, wo koscheres Fleisch
    verkauft wurde.
    Zur damaligen Gerichtspraxis gehörte
    auch der Judeneid (More Iudaico), der es Ju-
    den ermöglichte, in einem Prozess, bei
    dem ein Streitfall zwischen Juden und
    Christen verhandelt wurde, einen Eid ge-
    mäß ihrer Religion zu schwören. Zu dieser
    Thematik hat die Studentin Diane Rei-
    nerth eine Vitrine gestaltet. Im Infotext
    schreibt sie: „Juden verwendeten vor Ge-
    richt einen bestimmten Eid, der auf einem


autorisierten Thoraexemplar geleistet wur-
de. (. ..) In den Eidformeln kehren einige Be-
standteile immer wieder: Unschuldsbeteu-
erung, Anrufung und Wesensbestimmung
Gottes sowie Selbstverfluchung im Falle ei-
ne Meineids.“ Waren die Eidformeln zu-
nächst noch neutral gehalten, so kamen im
Verlauf des 15. Jahrhunderts oft diskrimi-
nierende Elemente hinzu. So mussten Ju-
den während des Schwurs auf einer Sau-
haut stehen, mithin auf der Haut eines Tie-
res, das sie als unrein erachteten. Diane Rei-
nerth zufolge lässt sich nicht nachweisen,
dass diese demütigende Praxis auch in
München angewandt wurde.
Ob es den Juden gut oder schlecht ging,
hing im mittelalterlichen München nicht
zuletzt von der Haltung der Wittelsbacher
Herzöge ab, die seit 1240 an der Macht wa-
ren. Eine gute Zeit hatten sie unter Lud-
wig IV., der von 1328 an die Kaiserkrone
trug. Ludwig verlieh den Münchnern Bür-
gern ein Judenrecht nach Augsburger Vor-
bild, mit dem das Zusammenleben zwi-
schen Juden und Christen innerhalb der
Stadtmauern geregelt war. Darin war die
Geld- und Pfandleihe ebenso einem Regel-
werk unterworfen wie etwa der Ausschank
von Wein oder der Fleischverkauf. Den Ju-
den genehmigte der Herrscher ein eigenes
Gericht, das für Konflikte innerhalb der Ge-
meinde zuständig war. Zudem gab es ein
gemischt besetztes Gericht, das Streitigkei-

ten zwischen Juden und Christen regelte.
In der Ära Ludwigs des Bayern lebte
auch der jüdische Geldhändler Lamp, mit
dessen Vita sich der Student Tobias Fi-
scher beschäftigt hat. Lamp wohnte in
Augsburg, wo er zu den reichsten Männern
der Stadt zählte. Viele Hochadelige, darun-
ter auch Ludwig, liehen sich hohe Summen
bei dem Finanzier aus der jüdischen Ge-
meinde Augsburgs. Zwischenzeitlich
wohnte Lamp auch in München, was für
die Geschäfte mit dem herzoglichen Hof si-
cherlich dienlich war. Auf einer Urkunde,
die im Bayerischen Hauptstaatsarchiv la-
gert, steht zu lesen, dass Ludwig, zu die-
sem Zeitpunkt römisch-deutscher König,
die jährliche Steuerlast des Juden Lamp
auf 20 Pfund Haller (Heller) festsetzt. Tobi-
as Fischer schreibt: „Das Dokument be-
tont die Nähe des Juden Lamp zu König
Ludwig und kann als Schutzbrief interpre-
tiert werden.“
Bis heute hält sich das Gerücht, in alter
Zeit übten sämtliche Juden den Beruf des
Geldverleihers aus. Dem ist nicht so,
schreibt Stefan Huber im Begleittext zu sei-
ner Vitrine „Geld regiert die Welt?“. „Weder
waren alle Geldhändler Juden, noch waren
alle Juden im Geldhandel tätig.“ Tatsäch-
lich galt für Juden und Christen das Zins-
verbot innerhalb der jeweiligen Religions-
gemeinschaft. Oft aber wurde das Verbot
mit kreativen Tricks umgangen, etwa in-

dem man Mittelsmänner einsetzte oder
Dreiecksgeschäfte tätigte. In München
wurde die Geldleihe durch das Stadtrecht
geregelt, das nicht wesentlich zwischen
christlichen und jüdischen Geldverleihern
unterschied. Der Warenhandel, bis dahin
eine wichtige Einnahmequelle, war den
Münchner Juden vom Jahr 1400 an unter-
sagt.

Das Verbot war schon deshalb töricht,
weil die Münchner Juden, wie die Studen-
tin Marija Bogeljic-Petersen herausgefun-
den hat, über ein weit verzweigtes Netz-
werk verfügten, das bis nach Straßburg,
Eger oder Wien reichte. Damit gaben sie
der Stadt einen „entscheidenden Impuls
für die Funktionsfähigkeit von Fernhandel
und Geldmarkt“.
Nicht zu leugnen ist allerdings, dass es –
wie überall – auch unter den Juden schwar-
ze Schafe gab. Einer von diesen war Isaak
ha-Zarfati („der Franzose“). Auf dessen
Spuren hat sich Felix Fischer begeben, der
einschlägige Dokumente aus dem Straß-
burger Stadtarchiv ausgewertet hat. Dem-
nach hatte sich der Mann, der offenbar von
auswärts nach München gekommen war
und schon bald wegen Vertragsbrüchigkeit
Ärger mit der jüdischen Gemeinde bekom-
men hatte, eines Tages aus dem Staub ge-
macht und viele wertvolle Pfänder mitge-
nommen. Über Moosburg, Pappenheim
und Rothenburg ist Isaak ha-Zarfati nach
Straßburg geflohen, wo er früher ansässig
gewesen war. Am 15. September 1381 bat
Herzog Stephan III. in einem Brief an die
Stadt Straßburg, den Übeltäter festzuneh-
men. Beigefügt war eine Liste der Prezio-
sen, deren Veruntreuung dem Mann zur
Last gelegt wurde. Wertvoller Schmuck
war darunter, silberne und vergoldete Töp-
fe, Näpfe, Becher, Schalen, Gürtel, Ketten,

Spangen und Ringe. Geschädigt waren
nicht nur die erlauchten Herrschaften bei
Hof; auch gewöhnliche Münchner Bürger
hatten zu Isaaks Schuldnern gezählt. Tat-
sächlich wurde der Geflohene in Straßburg
festgenommen, die kostbaren Pfänder
aber blieben verschwunden. Nicht be-
kannt ist, ob es zu einem Strafverfahren ge-
gen ihn kam.
Doch die Affäre hat auch einen erfreuli-
chen Nebeneffekt, insbesondere für Histo-
riker, die an Originaldokumenten interes-
siert sind: Es gibt da nämlich einen Brief,
den die Münchner Juden, die wegen Isaaks
Verschwinden vom Herzog bereits schika-
niert worden waren, an ihre Glaubensge-
nossen in Straßburg geschrieben haben.
Darin schildern sie die Bedrängnis, in die
sie geraten sind, und bitten um Unterstüt-
zung. Dieses Schreiben befindet sich heute
im Stadtarchiv in Straßburg. Es ist der ein-
zige hebräische Brief der mittelalterlichen
jüdischen Gemeinde Münchens, der erhal-
ten geblieben ist. Unter anderem enthält er
die Klage: „Plötzlich hieß es, der Mann ist
geflohen mit all dem Hab und Gut, das er
aus dem Lande (als Pfand) hatte. Da gab es
ein Jammern in der Stadt, man murrte und
war gegen uns aufgebracht. Die Gläubiger
aus dem Lande, deren Besitz er mitgenom-
men hatte, sagten ‚Der Jude hat nicht Treu
und Glauben usw.‘, schimpften und
schmähten und wir schwebten damals in
großer Gefahr, von Seiten des Fürsten und
der Gläubiger. Manche von uns waren Teil-
haber bei den Leihgeschäften, er aber hat-
te all jene Pfänder mit sich genommen,
und wir hatten denen, die uns schmähten,
nichts entgegenhalten können.“

Politisch hatten die Münchner Juden
keinen Einfluss, im Grunde waren sie der
Willkür der Herrschenden und der Mehr-
heitsgesellschaft ausgeliefert. Das ging
mal gut, mal nicht. Madeleine Rieger schil-
dert im Begleittext zu ihrer Vitrine, in der
sie die Vertreibung der Münchner Juden
thematisiert, wie die jüdischen Einwohner
in Krisenzeiten als Sündenböcke herhal-
ten mussten. Sie waren an allem schuld,
und ihnen wurden alle möglichen Verbre-
chen angedichtet: Hostienschändung,
Brunnenvergiftung, Ritualmord. In der Re-
gel standen hinter der Judenverfolgung
wirtschaftliche Interessen: Waren die Ju-
den vertrieben oder ermordet, war man
auch die Schulden los, die man bei ihnen
hatte. Als Mitte des 14. Jahrhunderts die
Pest wütete, waren natürlich auch die Ju-
den schuld. Sie wurden 1349 aus der Stadt
vertrieben, aber schon drei Jahre später
holte sie der Herzog wieder zurück, was
nicht zuletzt deshalb geschah, weil er de-
ren Geld brauchte. Mit Sondersteuern und
hohen Abgaben wurden die jüdischen
Münchner nach und nach ausgeplündert.
Während Herzog Ernst, der von 1397 bis
1438 regierte, den Juden noch wohlgeson-
nen war, ging dessen Sohn Albrecht III. mit
eiserner Hand gegen die Minderheit vor. Al-
brecht, der als Gatte der in der Donau er-
tränkten Baderstochter Agnes Bernauer in
die Geschichte eingegangen ist, verbot
noch in seiner Zeit als Thronfolger sexuelle
Kontakte zwischen Juden und Christen. An
die Herrschaft gelangt, verbannte Al-
brecht, auch ermutigt durch Einflüsterun-
gen seitens der Kirche, zunächst alle Juden
aus München, die Geldhändler waren. Bis
1442 waren auch die übrigen, nunmehr ver-
armten jüdischen Familien aus der Stadt
vertrieben. Seinem Leibarzt Johannes
Hartlieb schenkte Albrecht die Synagoge
in der Judengasse, die sich der Herrscher
wie alle anderen jüdischen Immobilien un-
ter den Nagel gerissen hatte. Hartlieb ver-
wandelte die Synagoge in eine Marienka-
pelle, die sogenannte Gruftkirche. Die Ju-
dengasse, einst ein Ort des Miteinanders,
hieß fortan Gruftgasse.

Lost Neighbourhood. Auf den Spuren Münchner Ju-
den im Mittelalter. Ausstellung in der Ausleihhalle
der LMU-Bibliothek, Geschwister-Scholl-Platz 1.
Öffnungszeiten bis 11. Oktober: Montag bis Freitag
von 9 bis 22 Uhr.

Auf dem Marienplatz hatten
sie eineeigene Fleischbank,
wo es koscheres Fleisch gab

Albrecht III. verbot
sexuelle Kontakte zwischen
Christen und Juden

In einer Urkunde
(Bild oben) vom


  1. Januar 1369
    bestätigen Konrad von
    dem Tor von Eyrenspurk
    und sein gleichnamiger Sohn,
    von Maennlein
    und Penndit, zwei jüdischen
    Brüdern aus München,
    einen Kredit erhalten
    zu haben. Links
    Kaiser Ludwig der Bayer
    in einer zeitgenössischen
    Miniatur. Daneben:
    Die Lage der Judengasse
    im Stadtmodell von
    Jakob Sandtner.
    Zur Entstehungszeit
    des Modells 1570 hieß sie
    bereits Gruftgasse.
    FOTOS: BAYERISCHES HAUPTSTAATSARCHIV
    MÜNCHEN (2),SZ-PHOTO


Zwischen Alltag und Diskriminierung


Eine Ausstellung zeigt das Leben der Münchner Juden im Mittelalter: Zeitweise prosperierte die Gemeinde,
doch kam es auch zu Pogromen und Verfolgungen – meist aus wirtschaftlichem Interesse

Judengasse

R4 MÜNCHEN Samstag/Sonntag, 17./18. August 2019, Nr. 189 DEFGH


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