Handelsblatt - 16.08.2019

(nextflipdebug2) #1
Für Wissenschaftler wie Clausing sind solche
Aussagen Halbwahrheiten. Schließlich gehe es bei
der Glyphosat-Bewertung nicht um Vergiftung
durch hohe Dosierung, sondern um die Frage, ob
der Wirkstoff Krebs verursacht. Der Vergleich mit
Kochsalz sei schief, schließlich könnten Verbrau-
cher selbst entscheiden, wie viel Salz sie verwen-
den. Glyphosat hingegen sei heute so flächende-
ckend im Einsatz, dass es auch in Brot, Bier und
Muttermilch nachgewiesen wurde. In einem offe-
nen Brief hatten schon Ende 2015 rund 100 inter-
nationale Wissenschaftler die EU-Kommission
eindringlich davor gewarnt, „den fehlerhaften Er-
gebnissen“ der Europäischen Behörde für Lebens-
mittelsicherheit (EFSA) zu folgen, die auf der Eva-
luierung des BfR beruhen. Man habe „ernsthafte
Bedenken bezüglich der wissenschaftlichen Bewer-
tung des BfR“.
Dem Protest ist die Bewertung der WHO-Agentur
für Krebsforschung (IARC) im selben Jahr vorange-
gangen, die Glyphosat als „wahrscheinlich krebser-
regend“ einschätzt. Seither ist in der Debatte um
Glyphosat ordentlich Feuer. Auch weil das BfR an-
ders als die IARC, die aus Transparenzgründen nur
öffentlich zugängliche Studien analysiert hat, gehei-
me Industriepapiere von Herstellern wie Monsanto
in seine Bewertung miteinbezogen hat. Für das BfR
sei es „üblich“, dass man „nach kritischer Prüfung
auch Passagen aus eingereichten Dokumenten in Be-
wertungsberichte integriere“. Vor allem aber inter-
pretiert das BfR Studien ganz unterschiedlich.
Toxikologe Clausing sitzt in einem Café in Berlin-Mit-
te und zerlegt vor Erregung seinen Kugelschreiber.
Clausing hat mehrere wissenschaftlich begutachtete
Artikel in Fachzeitschriften veröffentlicht, die sich
mit „Widersprüchen, Missachtung von EU-Richtlini-
en und groben Fehlern des BfR“ auseinandersetzen.
Doch Zustimmung hat der Mann, der vor der Rente
für einen Pharmakonzern arbeitete, weder beim BfR
noch bei einer Anhörung der europäischen Chemi-
kalienagentur ECHA gefunden. „Nicht nur IARC,
auch das BfR erkennt eine signifikante Zunahme von
Tumoren in insgesamt sieben Krebsstudien an“, so
der Mann mit dem getrimmten Vollbart. Laut der
EG-Verordnung (1272/2008) wäre ein Krebsrisiko er-

reicht, wenn in lediglich zwei oder mehr Versuchen
signifikante Krebseffekte nachgewiesen würden.
Clausing, der als Experte für den gemeinnützi-
gen und pestizidkritischen Verein „Pestizid-Akti-
ons-Netzwerk“, tätig ist, habe außer niedrigen Ho-
noraren für ein Gutachten und als Beobachter bei
der ECHA nie Geld im Glyphosat-Kontext erhalten.
Seine Rente reiche völlig. Ohnehin, so Clausing,
sollten inhaltliche Argumente zählen.

Aus dem Staunen nicht mehr heraus
Auf Clausings Kritik entgegnet das BfR, allein statis-
tische Berechnungen reichten nicht aus, um zu klä-
ren, ob eine Substanz krebserregend sei. „Das
stimmt“, sagt Clausing. Doch lasse das BfR dabei
außer Acht, dass die IARC neben den statistisch sig-
nifikanten Befunden in Tierstudien zusätzlich noch
„begrenzte“ Ursachenbefunde für Lymphdrüsen-
krebs beim Menschen gefunden habe – sowie zwei
klare „Wirkmechanismen“, also Wege, wie Glypho-
sat im menschlichen Körper Krebs auslöst. „Be-
grenzt“ ist die zweithöchste von vier Evidenzstufen
und heißt, dass es einen glaubwürdigen Zusam-
menhang zwischen Glyphosat und Krebs beim
Menschen gibt. Nach eigener Aussage habe die
IARC konservativ bewertet. Doch das BfR kann „im
Ergebnis einer umfassenden Gesamtschau keine
robusten Befunde“ für ein Krebsrisiko erkennen.
Auch der Epidemologe Eberhard Greiser von der
Uni Bremen schließt sich den BfR-Kritikern an. Er
war wie Hensel 2015 als Sachverständiger im Bun-
destag geladen – und kommt seither aus dem Stau-
nen nicht mehr heraus. Hensel behauptet, Greiser
zur Diskussion ins BfR eingeladen zu haben. Greiser
lacht und sagt, „das stimmt nicht, ich wäre gern ge-
kommen“. Das BfR vergrabe sich seit Jahren und
verweigere sich der wissenschaftlichen Debatte mit
dem Verweis, man finde Entgegnungen auf deren
Homepage. „Scheinöffentlichkeit“, meint Greiser.
Was das BfR zu Glyphosat von sich gegeben ha-
be, sei „wissenschaftlich unhaltbar“, so Greiser. Es
es sei davon auszugehen, dass Glyphosat den ex-
trem bösartigen Lymphdrüsenkrebs (Non-Hodgkin-
Lymphom) verursache. „Trotz aggressiver Chemo-
therapie versterben innerhalb von fünf Jahren 35
bis 40 Prozent aller Patienten.“ Am meisten scho-
ckiert Greiser, „dass das BfR gefälschte epidemiolo-
gische Studien der Glyphosat-Industrie kommen-
tarlos in seiner Studie übernommen hat“.
Etwa eine Studie aus dem Jahr 2002, die Auto-
ren: Hardell, Eriksson und Nordström. Sie fanden
nach „Glyphosatexposition“ ein um 204 Prozent
erhöhtes Risiko, an Krebs zu erkranken. In der ers-
ten BfR-Analyse aus dem Jahr 2013 findet sich zur
Studie der Vermerk „nicht verlässlich“. Sie wurde
mit der Begründung verworfen, weder die „Expo-
sition“ oder ihre „Konzentration“ noch die medizi-
nische Vorgeschichte – etwa ob die Erkrankten
Raucher waren – seien erhoben worden, was aber
passiert sei. „Es ist glatt gelogen“, so Greiser.
Das BfR habe „die Fälschungen nicht selbst fabri-
ziert“, sondern Papiere „der Glyphosat-Lobby
übernommen, ohne diese zu korrigieren oder die
Herkunft zu benennen“. In vergleichbarer Weise
seien die Befunde oder Methoden nahezu aller epi-
demiologischer Studien gefälscht und dann gestri-
chen worden, sagt Greiser. „Ein wissenschaftspoli-
tischer Skandal.“ Das BfR kontert, die Vorwürfe sei-
en unwahr und wissenschaftlich nicht haltbar.
„Das BfR hat alle zum jeweiligen Zeitpunkt vorlie-
genden epidemiologischen Studien zu Glyphosat in
ihrer publizierten Version umfassend geprüft und
in seine Bewertungen (...) übernommen.“ An der
besagten Studie bemängelt das BfR allerdings die
Methodik und eine „geringe Aussagekraft“.
Ivan Rusyn ist Professor für Integrative Biowis-
senschaften an der Texas A&M University, Doktor
der Medizin und Toxikologie. Er spielte eine füh-
rende Rolle bei der Erstellung der IARC-Studie, auf
deren Erkenntnisse sich die Roundup-Kläger in
den USA stützen. Von Kritikern wie dem BfR wird
bemängelt, die IARC-Befunde seien beliebig.
Schließlich fokussiere sich die IARC nur auf poten-
zielle Krebsgefahren, nicht auf die Bewertung des
tatsächlichen Risikos auf Basis der Dosis. Neben
Glyphosat schätzt die IARC auch den Friseurberuf
oder rotes Fleisch als krebserregend ein. Es sei
dennoch „absolut falsch zu glauben, die IARC wür-
de schnell so ein Label vergeben“, sagt Rusyn. Es
gebe für alle drei Beispiele starke Belege.
Rusyn sagt, er habe selten erlebt, wie valide wis-
senschaftliche Befunde einfach so weggewischt
wurden. „Das BfR hat sich sehr angestrengt, Wege

zu finden, um positive Befunde zu diskreditieren
und negative stärker zu gewichten.“ Da der Einsatz
von Glyphosat exponentiell gestiegen sei, nachdem
die meisten Behörden keine Bedenken sahen, fehl-
ten Untersuchungen, wie stark Menschen Glypho-
sat heute ausgesetzt seien. „Ohne zu wissen, wie
viel Glyphosat etwa Landwirte abbekommen, wird
geschlussfolgert, dass es ungefährlich sei.
Das BfR argumentiert, dass „auf Basis umfassen-
der Untersuchungen“, etwa an Anwendern, einge-
schätzt werde, wie stark Menschen Pflanzenschutz-
mitteln ausgesetzt seien. Zusätzlich sei durch Urin-
Messungen ermittelt worden, wie viel Glyphosat
Landwirte aufwiesen, um „noch sicherer schluss-
folgern zu können, dass das Herbizid bei sachge-
rechter Anwendung ungefährlich ist“.

Morddrohungen
Hensel sitzt in einer schwarzen BMW-Limousine
und zerkaut ein Bonbon. Der Fahrer steuert den
Wagen zum zweiten BfR-Standort in Berlin-Charlot-
tenburg. Die Luft im Auto wird dicker, weil Hensel
die Fragen zur BfR-Bewertung stören. Lieber, so
scheint es, will er Prestigeprojekte zeigen. Die neue
Sequenziermaschine etwa, ein mannshohes Gerät,
das die „gesamte Infektionslehre“ revolutioniere,
wie Hensel sagt. Ein Mitarbeiter erfasst damit
Krankheitserreger in Lebensmitteln. Oder das
Team, das Mikroplastik in menschlichen Zellen un-
tersucht. Die Laborküche, in der Speisen nachge-
kocht werden, um noch besser zu verstehen, ab
wann Lebensmittel die Gesundheit gefährden.
Hensel meint in Bezug auf Glyphosat-Kritiker, die
Sozialwissenschaften zeigten, dass man gern bei
der eigenen Meinung bleibe, selbst wenn das Ge-
genteil bewiesen sei. „Man muss nur fest an die ei-
gene Sicht glauben, dann wird sie Realität.“ Er ver-
weist darauf, dass BfR-Bewertungen „gemäß ISO
9001 qualitätsgesichert“ seien. Sie verliefen nach ei-
nem Mehraugenprinzip, bei dem jeder EU-Staat die
Aussagen von seinen Toxikologen untersuchen las-
sen konnte. Da wären Fehler garantiert aufgefallen.
Clausing legt den zerstörten Kugelschreiber zur
Seite. Quantität ist für ihn noch lang kein wissen-
schaftlicher Beweis. „Es war auch mal Mehrheits-
meinung, dass die Erde flach ist.“ Andere unterstrei-
chen, dass Monsanto nachweislich Wissenschaftler
gekauft und Studienergebnisse manipuliert hat.
Laut dem „Guardian“ verhinderte Jess Rowland, ein
EPA-Direktor, 2015 eine Glyphosat-Untersuchung in
den USA und sagte zu einem Monsanto-Mitarbeiter:
„Wenn ich das verhindern kann, steht mir eine Me-
daille zu.“ Die EFSA soll er beeinflusst haben, eine
Mäusestudie als unbrauchbar zu verwerfen. Clau-
sing schrieb Jose Tarazona, dem Leiter der EFSA-
Pestizideinheit, er fürchte, Rowlands voreingenom-
mene Meinung werde von Tarazonas Behörde über-
nommen. Tarazona antwortete darauf nicht.
Regulierungsbehörden sind bürokratisch, einer
verlässt sich auf den anderen, „wer will schon der
einsame Held sein?“, erklärt Rusyn die ähnliche
Haltung der Behörden zu Glyphosat. Zum Grup-
penzwang geselle sich fehlende Kompetenz für ein
komplexes Thema und Druck von Firmen wie
Monsanto, sagen andere. Hinzu komme die chroni-
sche Unterfinanzierung von Universitäten, die von
Drittmitteln und damit von Industriegeldern abhin-
gen, sagen weitere Wissenschaftler. Man verstum-
me lieber. „Zudem“, meint Greiser: „Setzen Sie
sich mal gegen eine Bundesbehörde durch, die seit
Gründung 2002 dem Landwirtschaftsministerium
unterstellt ist“ – überwiegend von CSU-Ministern
geführt, die der mächtigen Bauern-Lobby nicht ihr
wirksamstes Herbizid hatten verbieten wollen.
Doch auch das ändert sich. Landwirtschaftsmi-
nisterin Julia Klöckner (CDU) erwartet, dass es ab
2022 keine Mehrheit für die Verlängerung der Gly-
phosat-Zulassung in der EU geben werde. Dem Mi-
nisterium geht es laut einer Sprecherin in erster Li-
nie um Auswirkungen auf die Artenvielfalt.
BfR-Chef Hensel hat schon Morddrohungen er-
halten. Er ärgert sich, wenn man „als letztes Mittel
versucht, die Glaubwürdigkeit des BfR als demokra-
tisch legitimierte wissenschaftliche Einrichtung zu
untergraben“. Bevor er in seine schwarze Limousi-
ne steigen und sich in den Feierabend chauffieren
lassen wird, sagt er noch: „Unsere Leute, das sind
selbst alles Väter und Mütter“, die sich ihrer Verant-
wortung bewusst seien. „Wir wissen: wenn wir ei-
nen Fehler machen, dann hat das für viele Men-
schen sehr ernste Folgen.“

Mitarbeit: Bert Fröndhoff

Andreas Hensel:
Der BfR-Präsident
sieht sich zu Unrecht
im „Dauerfeuer“.

Bayer-Produkt
„Roundup“:
Macht die Dosis
das Gift?

REUTERS,


Gründung Das Bun-
desinstitut für Risiko-
bewertung (BfR)
wurde 2002 als Reak-
tion auf den BSE-
Skandal von der Grü-
nen-Politikerin Renate
Künast gegründet. Sie
war damals Landwirt-
schaftsministerin.

Auftrag Das BfR
macht die wissen-
schaftliche Risikobe-
wertung von Lebens-
und Futtermitteln
sowie von Stoffen und
Produkten als Basis
für den gesundheitli-
chen Verbraucher-
schutz der Bundesre-
gierung. Der Präsi-
dent wird vom Minis-
terium ernannt.

BfR kompakt

Privat


Es ist davon


auszugehen,


dass


Glyphosat


extrem


bösartigen


Lymph-


drüsenkrebs


verursacht.


Eberhard Greiser
Epidemologe

Report
WOCHENENDE 16./17./18. AUGUST 2019, NR. 157
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