Handelsblatt - 16.08.2019

(nextflipdebug2) #1
Arbeiten im Start-up:
Immer weniger deutsche
Erwerbstätige wollen ihr
eigener Chef werden.

Gordon Welters/laif

Christoph Kapalschinski,
Sebastian Matthes, Moritz Koch
Hamburg, Düsseldorf, Berlin

E


s war ein erboster
Tweet, mit dem Christi-
an Miele in dieser Woche
eine rege Diskussion aus-
löste: „Die Politik unter-
schätzt das Risiko, dass Start-ups
auswandern könnten. Habe in den
letzten Wochen viel mit sehr erfolg-
reichen Gründern gesprochen. De-
nen ist es egal, wo ihr Stammsitz ist.
Je mehr Steine Gründern in den Weg
gelegt werden, desto eher sehen wir
sie wegziehen.“ Miele ist nicht ir-
gendwer. Der Spross der Waschma-
schinen-Dynastie hat sich als Partner
des Berliner Risikokapitalgebers
eVenture einen Namen in der Grün-
derszene gemacht.
Tatsächlich droht im Land der
Dichter und Denker ausgerechnet
der Gründungsgeist zu erlöschen.
Das zeigt eine Studie, die die Förder-
bank KfW am Donnerstag veröffent-
lichte. Demnach wäre 2018 nur ein
Viertel der Erwerbsbevölkerung ger-
ne sein eigener Chef gewesen. Damit
hat der Wunsch nach Selbstständig-
keit in Deutschland ein Rekordtief er-
reicht. Im Jahr 2000 hatte der Anteil
laut der Studie noch bei 45 Prozent
gelegen, bevor er zunächst allmäh-

lich und nach der Finanzkrise deut-
lich zurückging.
„Der Rückgang der Gründungstä-
tigkeit in Deutschland hat viel mit der
sehr guten Arbeitsmarktentwicklung
zu tun, dazu kommt der schwinden-
de Gründergeist in der Bevölkerung“,
erklärte Georg Metzger, Gründungs-
experte bei KfW Research.
Unionsfraktionschef Ralph Brink-
haus kündigte an gegenzusteuern.
„Das Thema hat in meiner Fraktion
Priorität“, versprach er. „Die Kon-

junktur trübt sich ein, aber wir dür-
fen nicht allein an Krisenverwaltung
denken – wie die SPD und Arbeitsmi-
nister Hubertus Heil es tun.“ Gründer
zu fördern sei auch „die beste Sozial-
politik“, es gehe darum, in Deutsch-
land „ein solides wirtschaftliches
Fundament“ zu erhalten.
Auch Bernd Westphal, Wirtschafts-
politiker der SPD, sieht dringenden
Handlungsbedarf: „Der Staat muss
den Gang in die Selbstständigkeit er-
leichtern, indem der die Rahmenbe-

dingungen für junge Unternehmen
verbessert.“ Konkrete Beschlüsse der
Großen Koalition lassen aber auf sich
warten, die Start-up-Branche ist von
der Politik tief enttäuscht.
Eine Ursache für den Rückgang ist
nach Meinung von Experten die man-
gelnde gesellschaftliche Wertschät-
zung für Gründer – die sich eben auch
in der von Miele beklagten komplexen
Bürokratie widerspiegelt. „Es geht gar
nicht so sehr um die konkrete Regu-
lierung oder die Höhe eines Steuersat-
zes“, sagte Peter Jungen dem Handels-
blatt. „In Deutschland fehlt das grund-
legende Verständnis für die
entscheidende Rolle der Unterneh-
mer.“ Jungen selbst ist ein Veteran der
deutschen Wirtschaft. In diesem Mo-
nat wird der Ex-Chef des Baukonzerns
Strabag 80 Jahre alt. Seit Jahrzehnten
ist er als Start-up-Investor aktiv.
Jungen warnt: Seit 1995 zeige die
KfW-Statistik durchgängig, dass die
Zahl der Vollerwerbsgründungen zu-
rückgeht – also die Zahl derjenigen
Gründer, die nicht nur nach Feier-
abend etwa als Amazon-Händler ak-
tiv sind. „Bemerkenswert ist, dass in
Deutschland darüber überhaupt kei-
ne Diskussion stattfindet“, klagt er.
Überschlägig gerechnet entfielen
jährlich nur noch 1,5 Prozent der
weltweiten Gründungen auf Deutsch-
land – bei vier Prozent Anteil an der
Weltwirtschaftsleistung.
„Wir müssen als Gesellschaft po-
tenziellen Gründern helfen, in einer
Gründung mehr Chancen und weni-
ger Risiken zu sehen, das gelingt uns
aktuell zu wenig“, mahnt auch Hen-
drik Brandis vom Investor Earlybird,
der unter anderem die Bank N26 und
UIpath mitfinanziert. Bei Menschen
aus anderen Ländern sei der Grün-
dungswille ausgeprägter: „Wenn wir
Migranten, die Unternehmen aufbau-
en wollen, leichter Arbeitsgenehmi-
gungen, Startkapital und Kontakte
verschaffen würden, würden wir
schnell einen positiven Effekt für die
Volkswirtschaft sehen“, sagt er.
Dabei sind Gründer in Deutschland
recht erfolgreich, zumindest im frü-
hen Stadium: Nach einer Studie des
Start-up-Verbands und der Beratung
KPMG entwickelt sich die Szene der
besonders innovativen Jungunter-
nehmen gut. Zu den wichtigsten For-
derungen der darin befragten Grün-
der gehört aber, die Bürokratie gera-
de im ersten Jahr auf ein Minimum
zu reduzieren.
„Das muss die Politik auch verste-
hen: Wenn der Erfolg meiner Firma
davon abhängt und ich bessere Bedin-
gungen anderswo habe, dann stelle ich
die Heimatverbundenheit hintenan“,
warnte Miele. Dabei gehe es oft um De-
tails: In Deutschland sei es etwa deut-
lich schwerer, Programme zur Mitar-
beiterbeteiligung aufzusetzen. Dabei
sind diese in der Start-up-Szene oft ent-
scheidend: Die jungen Unternehmen
locken Talente mit der Aussicht auf ho-
he Rendite bei einem Exit, selbst wenn
anfangs die Gehälter bescheiden sind.
Immerhin hat die KfW-Untersu-
chung auch einen positiven Aspekt
zutage gebracht. „Dass sich zuletzt
die jüngere Generation wieder häufi-
ger eine berufliche Selbstständigkeit
vorstellen kann, ist aber ein positives
Zeichen“, sagte KfW-Experte Metzger.
Es könnte also auch wieder eine
Trendwende geben.

> Leitartikel Seite 26

Studie


Junge Gründer



  • verzweifelt gesucht


Die KfW warnt, dass die Bereitschaft zur Selbstständigkeit sinkt.


Das hat nicht nur realwirtschaftliche Ursachen, sondern auch kulturelle.


Gründergeist in Deutschland nimmt ab
Anteil der Erwerbsbevölkerung*,
die lieber beruflich selbstständig
wäre, in Prozent

Zahl der Existenzgründer
in Millionen

25 %

HANDELSBLATT

2000 ’07’09’12 201
*Ausgewählte Jahre • Quelle: KfW

50

40

30

20

0,
Mio.

2001 201

1,

1,

0,

0

Christian Miele:
Der Investor vermisst
in Deutschland
das Verständnis für
die Probleme von
Firmengründern.

Marc-Steffen Unger für Handelsblatt

Unternehmen & Märkte
WOCHENENDE 16./17./18. AUGUST 2019, NR. 157
20
Free download pdf