P.M. History - 09.2019

(nextflipdebug2) #1

NEUE SERIE: WIE KRANKHEITEN GESCHICHTE MACHEN DIE POCKEN


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Sie wüteten im alten China, Ägypten, Persien. Sie töteten


und entstellten Tausende in Europa, zerstörten Amerikas


Hochkulturen: Wie die Pocken unsere heutige Welt schufen


Von Ronald D. Gerste

D


er 8. Mai 1980 kann durch­
aus als eine Sternstunde
der Menschheit bezeichnet
werden. An diesem Tag er­
klärte die Weltgesundheits­
organisation WHO in Genf die Pocken
offiziell für ausgerottet. Zum ersten Mal
überhaupt war eine epidemische Krank­
heit eliminiert worden. Es war eine Seu­
che, deren verheerende Wirkung über
viele Jahrhunderte heute kaum noch
vorstellbar ist; allein im 20. Jahrhundert
sollen ihr rund 300 Millionen Menschen
zum Opfer gefallen sein.
Die Erkrankung, bei der sich cha­
rakteristischerweise zahlreiche Pusteln
im Gesicht und am Körper bilden, ver­
läuft zunächst mit rechtunspezifischen
Frühsymptomen wie Fieber, Kopf-, Rü­
cken- und Gliederschmerzen und Ab­
geschlagenheit. Rund 200 der mit Flüs­
sigkeit gefüllten Pusteln im Gesicht zu
haben gilt noch als ein vergleichsweise
"milder" Verlauf, bei schweren Verläu­
fen können es 500 und mehr dieser klei­
nen Bläschen sein. Stirbt der Betroffene
nicht daran, wird er oder sie ein gan­
zes Leben an die Erkrankung, die im
Deutschen auch als "Blattern" bekannt


MESSBLECH Mit dieser Schablone,
gefertigt in Edinburgh, teilten Ärzte
Pockenpusteln in vier Größen
zwischen 13 und 20 Millimeter ein

ist, erinnert: Die Bläschen hinterlassen
Narben, manchmal in einem Ausmaß,
dass das ganze Gesicht entstellt ist. Für
viele junge Frauen und Mädchen war
dieser Verlauf in der Vergangenheit eine
Katastrophe, galten sie doch mit einem
narbenübersäten Gesicht als nicht hei­
ratsfähig. Viele dieser Opfer endeten in
sozialem Elend, die noch vergleichswei­
se Glücklicheren fanden vor allem im
Mittelalter Zuflucht in einem Kloster.
Zahlreiche historische Persönlichkeiten

waren von Pockennarben gezeichnet.
Dass uns das verborgen blieb, liegt an
der Feinfühligkeit (und der Geschäfts­
tüchtigkeit) der Porträtmaler, die dieses
Detail kaschierten, um ihre Auftragge­
ber nicht zu düpieren. Goethe und Mo­
zart gehörten zu ihnen; der Gründerva­
ter der USA, George Washington, kam
mit nur leichter Narbenbildung davon.
Auslöser der Pocken sind - oder besser
gesagt: waren -zwei Subtypen des Va­
riola-Virus.

V

ariola major war der im Engli­
schen "angel of death" genannte
schlimmere Typ mit einer Mor­
talitätsrate von bis zu 50 Prozent; Va­
riola minor hingegen verursachte einen
wesentlich leichteren Befall und führte
nur bei etwa 0,2 Prozent der Erkrank­
ten zum Tode. "Sich Variola minor
einzufangen", so beschreibt es der bri­
tische Arzt und Medizinautor Gareth
Williams, "war ein doppelter Glücks­
fall: Das Opfer kam normalerweise mit
einer leichten Erkrankung und unbe­
deutender Vernarbung davon und hat­
te danach eine lebenslange Immunität
auch gegen Variola major."
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