P.M. History - 09.2019

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UNTER KONTROLLE Ein Arzt begutachtet um 1820 die Pusteln, die sich am Arm
eines Kindes nach der absichtlichen Infizierung mit Kuhpocken gebildet haben

nommen und in die Haut eines Gesun­
den eingeritzt wurde. Dadurch, so die
Hoffnung oder Annahme, würde bei
dem Inokulierten eine ebenfalls milde
Erkrankung auftreten, die keine oder
wenige Narben hinterlassen und das
Individuum für den Rest seines Lebens
schützen würde.
Es gelang nicht immer: Der eben­
falls die Inokulation propagierende
Geistliche Cotton Mather in Boston
erwartete eine Sterblichkeitsrate von
2,5 Prozent, was um eine Zehnerpotenz
unter der bei Ausbruch einer Epidemie
zu erwartenden Letalitätsrate lag. Nach
ihrer Rückkehr nach England wurde
Lady Mary zu einer wichtigen Verfech­
terin der Methode, die allmählich das
Vertrauen der Ärzteschaft und auch
der Herrschenden gewann: 1722 ließ
der englische König Georg I. zwei Prin­
zessinnen aus der königlichen Familie
inokulieren.
Wesentlich effektiver und vor allem
sicherer war die große Innovation, die
mit dem Namen des englischen Arz­
tes Edward Jenner verbunden ist. In

England war damals die Schönheit der
Mägde auf den Farmen, speziell der
"milkmaids", deren Hauptaufgabe das
Melken der Kühe war, legendär. Dies
lag vor allem daran, dass diese nie oder
selten an Pocken erkrankten und somit
keine Narben hatten.

J

enner machte nicht als Erster die
Beobachtung, verfolgte sie aber
konsequent weiter: Die Kuhpo­
cken hingegen waren bei den Frauen
geradezu eine Berufskrankheit - eine
mit Blasenbildung einhergehende In­
fektion am Euter der Kühe. Die Blasen
übertrugen sich auch auf die Hände der
Mägde und wurden als Melkerknoten
bezeichnet. Offenbar war derjenige,
der eine Kuhpockeninfektion durchge­
macht hatte, gegen Pocken immun.
Im Mai 1796 führte Jenner eines
der klassischen Experimente der Me­
dizingeschichte durch: Er entnahm ei­
ner der Blasen an der Hand der Milch­
magd Sarah Nelmes, die sich gerade
mit Kuhpocken infiziert hatte, etwas
Sekret und ritzte dies dem achtjährigen

WIE


KRANKHEITEN


GESCHICHTE
MAcH E N RONALD D. BERSTE

DAS BUCH ZUR SERIE
Dieser Text ist ein gekürztes
Kapitel aus .,Wie Krankheiten
Geschichte machen. Von der
Antike bis heute" von Ronald
D. Gerste, erschienen 2019
bei Klett-Cotta (20 Euro)

James Phipps in die Haut, der an der
Einstichstelle eine leichte, entzündli­
che Reaktion entwickelte. Einige Wo­
chen später übertrug Jenner Flüssigkeit
eines Pockenkranken auf den Jungen:
Es blieb ohne Folgen. Und auch die ei­
nige Monate später neuerliche Übertra­
gung von Material aus Pockenpusteln
zeigte bei James keine Wirkung. Die
Pockenschutzimpfung war geboren!
Bald darauf veröffentlichte Jenner ei­
nen wissenschaftlichen Bericht über
die ersten 18 erfolgreich vor der Seu­
che geschützten Personen. Die Imp­
fung trat ihren Siegeszug um die Welt
an. Das größte Kompliment für dieses
Beispiel britischen Forschergeistes kam
vom machtpolitischen Gegner: 1805 ließ
Napoleon seine gesamte Armee impfen.
Der Weg zum Sieg über die grauenhafte
Seuche war beschritten. •

Ronald D. Gerste ist Arzt und
Historiker: Der Einfluss medizi­
nischer Faktoren auf den Lauf
der Geschichte fasziniert ihn
seit frühen Studientagen.
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