Der Spiegel - 17.08.2019

(singke) #1

lige Entscheidung sei während der Peres-
troika gefallen, auf dem Höhepunkt jener
Stimmungen, die die Sowjetunion nur
noch negativ sahen. »Die Abgeordneten
standen unter dem Druck einer aggressiven
Minderheit der baltischen Republiken, die
sich in Moskau versammelt hatte. »Die
wollte sich für das rächen, was sie die ›Ok-
kupation‹ der baltischen Länder durch die
Sowjetunion nannten. Den Anschluss der
baltischen Staaten, der nach dem Pakt statt-
fand, hatte ein großer Teil der Bevölkerung
jedoch gewünscht. Wie kann man das ›Ok-
kupation‹ nennen?«
Dann kommt Mjagkow auf den eigent-
lichen Kern: »Die baltischen Unabhängig-
keitsführer haben 1989 die Verurteilung
dieses Pakts angestoßen, um ihre Länder
auf diesem Weg aus der Sowjetunion he-
rauszubrechen. Sie waren der Auslöser, sie
haben die nationalen Säulen der Sowjet-
union zum Einsturz gebracht.« Die dama-
lige liberale Mehrheit in Russland habe
das mit Begeisterung quittiert.
Mjagkow betont, dass dies seine Privat-
meinung sei. Aber er hat prominente Un-
terstützung, nicht nur von Duma-Abge-
ordneten, sondern auch vom Ex-Verteidi-
gungsminister Sergej Iwanow, der unter
Putin fünf Jahre lang Vorsitzender der Prä-
sidialverwaltung war und nun Kuratori-
umsvorsitzender der Militärhistorischen
Gesellschaft ist. Seit Wochen tritt er in In-
terviews und Pressekonferenzen auf.
Als Rechtsnachfolger der UdSSR habe
Russland »in jedem Fall die Möglichkeit«,
über die Aufhebung des Beschlusses aus
der Gorbatschow-Zeit zu befinden, sagt


Iwanow. »In den Neunzigerjahren hat er
zu unserer diplomatischen, ideologischen
und faktischen Entwaffnung gegenüber
dem Westen beigetragen.« Man müsse,
heißt das, dem Abkommen zwischen Sta-
lin und Hitler den negativen Ruf nehmen.
In Presse und Fernsehen verbreiten
Mjagkow, Iwanow und weitere Anhänger
einer Geschichtsrevision jetzt Argumente,
die für den Pakt sprächen. Sie heben her-
vor, dass andere Staaten ähnliche Abkom-
men mit Hitler getroffen hätten und mit-
unter auch Geheimprotokolle Teil dieser
Pakte gewesen seien. Der Oberste Sowjet
habe lediglich den Nichtangriffsvertrag ra-
tifiziert, nicht aber die Geheimprotokolle.
Rechtlich hätten sie damit nie existiert.
Was die Gebietseroberungen beträfe, so
habe Stalin sich nur jene Gebiete zurück-
geholt, die sowieso einst zur Sowjetunion
oder zu Russland gehört hätten, sagen Mjag-
kow und Iwanow. Das habe Frankreich
auch mit Elsass-Lothringen getan. Außer-
dem habe die Sowjetunion die Weißrussen
und die Ukrainer schützen müssen, die da-
mals im Osten Polens lebten. Es sind ähnli-
che Argumente wie jene, die Putin 2014 bei
der »Heimholung« der Krim gebrauchte.
Das ist auch eine der Erklärungen, wa-
rum die Moskauer Führung den Hitler-Sta-
lin-Pakt neu bewerten möchte. Sie will an-
knüpfen an das große alte Russland.
Über eines allerdings schweigen die
Apologeten des Pakts: darüber, wie rück-
sichtslos die Sowjetunion in Polen vorge-
gangen ist. Iwanow sagt, Moskau habe kei-
ne andere Wahl gehabt, als in Polen ein -
zu marschieren. Das Land sei zu diesem

Zeitpunkt bereits kollabiert, die Armee in
Agonie gewesen und die Regierung auf der
Flucht – Polen habe es de facto gar nicht
mehr gegeben. Kein Wort darüber, dass
die Sowjetunion Hitler bei seinem Überfall
erst die nötige Rückendeckung gab.
Wladimir Putin hatte den Pakt 2009 eben-
falls als »moralisch unannehmbar« bezeich-
net. Doch er ist ein Meister der Doppeldeu-
tigkeit bei der Bewertung russischer Ge-
schichte – und hat sein Urteil inzwischen
selbst relativiert. 2014 erklärte er: »Man sagt:
Ach, wie schlecht ist dieser (Vertrag). Aber
was ist schlecht daran, wenn die Sowjet -
union nicht (gegen Hitler) kämpfen wollte?«

Was sagen jene, an die sich die Vorwürfe
richten, der Beschluss von 1989 sei eine
Provokation antisowjetischer Kräfte gewe-
sen? Michail Gorbatschow, inzwischen
schwer krank, lässt ausrichten, dass er sei-
ne Meinung nicht ge ändert habe – er hatte
für die Verurteilung des Pakts gestimmt.
Die meisten Mitglieder jener Kommission,
die damals die Archivdokumente von 1939
studiert und den Beschluss entworfen hat-
te, sind bereits tot. Unter den wenigen
noch lebenden ist der Schriftsteller Witalij
Korotitsch, einst Chefredakteur des Ma-
gazins »Ogonjok« (Das Flämmchen), das
mit seiner Fünf-Millionen-Auflage das
popu lärste Blatt der Perestroika war. Ko-
rotitsch, heute 83 und Ukrainer, hatte in
der Kommission Estland vertreten.
Der Pakt habe eine Bombe unter das
Fundament der Sowjetunion gelegt, die
früher oder später explodieren musste,
sagt Korotitsch in seiner Wohnung in Mos-

DER SPIEGEL Nr. 34 / 17. 8. 2019 83


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Antikommunistische Demonstranten in Moskau im Dezember 1989: »Das Minenfeld, das wir geerbt haben«
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