Die Welt Kompakt - 13.08.2019

(Barré) #1

22 KULTUR DIE WELIE WELIE WELTKOMPAKTTKOMPAKT DIENSTAG,13.AUGUST2019


W


ir alle haben
bei Umberto
Eco gelernt,
dass es im Mit-
telalter weniger darauf an-
kam, wie ein Tier wirklich
aussah, als vielmehr darauf,
wie es in den Büchern be-
schrieben wurde. Zu Beginn
von „Der Name der Rose“ be-
gegnen William von Basker-
ville und sein Adlatus Adson
von Melk vor einer Benedikti-
nerabtei einem Klosterbru-
der, der das entlaufene Pferd
seines Abts sucht. Der
Mönchdetektiv William ver-
blüfft den Franziskaner da-
mit, dass er das Aussehen des
Pferdes kennt, ohne es je ge-
sehen zu haben: „Einen Rap-
pen, fünf Fuß hoch, mit
prächtigem Schweif; kleine
runde Hufe, aber sehr regel-
mäßiger Galopp, schmaler
Kopf, feine Ohren, aber große
AAAugen.“ugen.“


VON MATTHIAS HEINE

Seinem Schüler erklärt
William später, es komme gar
nicht darauf an, wie das Pferd
wirklich aussehe. Aber es han-
dele sich nun mal gewiss um
das beste im Stall, und ein be-
lesener Mönch könne es – un-
geachtet seiner natürlichen
Formen – gar nicht anders be-
schreiben, als es bei den
„auctoritates“ stehe. In die-
sem Falle sei die Autorität Isi-
dor von Sevilla. Der beschrei-
be ein hervorragendes Pferd
nun mal genau so.
Der Bischof von Sevilla, der
6 36 starb, hatte kurz vor dem
Ende der Antike in seiner En-
zyklopädie das ganze damals
noch verfügbare Wissen der
Griechen und Römer in den
2 0 Bänden seiner „Etymolo-
giae“ genannten Enzyklopä-
die gesammelt. Durch zahlrei-
che Abschriften und Auszüge
wurde Isidors Lexikon zum
„Grundbuch des ganzen Mit-
telalters“ (Ernst Robert Cur-
tius). Das zwölfte Buch, das
von Tieren handelt, ist die
Quelle zahlreicher „Bestia-
rien“, einer Gattung von Tier-
büchern, die in der Zeit der
Kathedralen extrem beliebt
und verbreitet waren. Die an-
dere Quelle ist der „Physiolo-
gus“, eine frühchristliche Na-
turlehre in 48 Kapiteln, die im
2. Jahrhundert nach Chr. in
griechischer Sprache verfasst
wurde.
Die Bestiarien, deren
Schönheit jetzt eine Ausstel-
lung im Getty Center von Los
Angeles feiert, hatten einen
kaum zu überschätzenden
Einfluss auf die Geistes- und
Kunstgeschichte Europas.
Durch sie wurde beispielswei-
se die gerade durch den Dis-
ney-Film wieder sehr aktuelle
VVVorstellung verbreitet, derorstellung verbreitet, der
Löwe sei der König der Tiere.
Egal, in welcher Folge und
AAAuswahl die Fauna in den je-uswahl die Fauna in den je-
weiligen Bestiarien beschrie-
ben war – immer stand der
Löwe am Anfang, so wie der


die von wohlhabenden Stif-
tern für Kloster oder öffentli-
che Kirchen gespendet wur-
den. Ursprünglich dienten
Bestiarien dazu, Mönchen an-
hand von Fabeln die elemen-
taren Grundsätze des Glau-
bens nahezubringen. Bald
wurden sie aber auch bei öf-
fffentlichen Predigten, die vorentlichen Predigten, die vor
Laien gehalten wurden, ge-
zeigt. Ihre Illustrationen hal-
fffen auch Analphabeten, sichen auch Analphabeten, sich
das Gehörte einzuprägen.
Noch Leonardo da Vinci hat
sich für solche allegorischen
Tierdarstellungen interes-
siert. Von ihm stammt eines
der letzten Bestiarien.
Sogar real existierende Tie-
re wurden in der Überliefe-
rungsgeschichte der Bestia-
rien zu reinen Fabelwesen
umgewandelt, beispielsweise
der Tiger. Von ihm heißt es im
„Physiologus“, er sei ein „bunt
geschecktes“ Tier, das vor al-
lem in der persischen Provinz
Hyrcania am Kaspischen Meer
zu Hause sei – heute der nörd-
liche Iran und das südliche
Turkmenistan. In dieser In-
ffformation hallte vielleichtormation hallte vielleicht
noch nach, dass die Griechen
von der Raubkatze erstmals
auf dem Wege über Persien
gehört hatten. Im vierten
Jahrhundert v. Chr. erwähnte
der griechische Arzt Ktesias
von Knidos in seinem Werk
„Indiká“ den Tiger. Dabei ver-
arbeitete er wohl persische
Quellen. Zu Gesicht bekamen
Europäer einen Tiger erstmals
ein paar Jahrzehnte später, als
der Diadoche, Seleukos I.,
Nachfolger Alexanders als
Herrscher des Perserreichs,
den Athenern ein Exemplar
schenkte. Während der ge-
samten Antike sind nur weni-
ge dieser schwer zu fangenden
Tiere in Europa aufgetaucht
und meist in römischen Zir-
kusarenen verbraucht wor-
den. Der letzte wurde 448 in
Konstantinopel gesehen. Da-
nach hat sich 1000 Jahre lang
kein Abendländer mehr ein
realistisches Bild von einem
Tiger machen können.
Das führte dazu, dass mit-
telalterliche Buchillustrato-
ren sich bei der Interpretati-
on dessen, was mit „bunt ge-
scheckt“ gemeint war, ziem-
lich viele Freiheiten heraus-
nehmen durften. Eine Dar-
stellung im 1200 entstande-
nen Aberdeen-Bestiarium
zeigt einen nachtblauen Tiger
mit roten und weißen Punk-
ten. Das war aber immerhin
schon realistischer, als Ktesi-
as von Knidos die „Bestie In-
diens“ beschrieben hatte:
Laut seinen Informanten – of-
fffenbar Perser, die sehr gut Jä-enbar Perser, die sehr gut Jä-
gerlatein konnten – sollte der
Tiger drei Zahnreihen haben
und außerdem einen Stachel
am Schwanz, den er auf ihn
verfolgende Feinde schleu-
dern konnte.

TBook of Beast. The Bestiary
in the Medieval World, Getty
Center, Los Angeles

Das Einhorn symbolisierte in der Allegorik mittelalterlicher Tierbücher Jesus Christus

THE BODLEIAN LIBRARIES, UNIVERSITY OF OXFORD/ MS. ASHMOLE

Die Erfindung desEinhorns


Im Mittelalter glaubte man, Tiger seien buntgescheckt


und Krokodile würden weinen – eine Ausstellung


in Los Angeles erzählt vom wunderbaren Einfluss tierischer


Missverständnisse auf die Kulturgeschichte


König oben in der gesell-
schaftlichen Pyramide des
Mittelalters thronte.
Redensarten wie die vom
Elefantengedächtnis oder der
Schläue des Fuchses sind
durch die Bestiarien von der
Antike in die Neuzeit überlie-
fffert worden. Am frappie-ert worden. Am frappie-
rendsten ist das bei der Le-
gende von Krokodilstränen,
weil es im Europa des Mittel-
alters ja nur sehr wenige Men-
schen gab, die jemals ein Kro-
kodil gesehen hatten. Ledig-
lich die Kreuzritter kannten
die Tiere aus eigener An-
schauung, denn damals
schwammen die großen Ech-
sen noch in Flüssen der Le-
vante. Aber Herodot, der Va-
ter der griechischen Ge-
schichtsschreibung, hatte
schon im fünften Jahrhundert
vor Christus behauptet, Kro-
kodile vergössen Tränen,
wenn sie ihre Opfer ver-
schlingen. Über die Bestiarien
wurde diese antike biologi-
sche Fake News in die Bilder-
und Sprachwelt des Mittelal-
ters eingespeist.
Ebenfalls auf den „Physio-
logus“ und damit auf die Anti-
ke geht die Mär zurück, der
Pelikan reiße seine Brust auf,

um mit dem Blut seine Küken
zu nähren. Dadurch wurde der
VVVogel zum Symbol für Jesusogel zum Symbol für Jesus
Christus, der sein Blut gege-
ben habe, um die Menschheit
zu retten. Das ist typisch für
einen Wandel, den die Dar-
stellung von Tieren beim Epo-
chenwechsel von der Antike
zum christlichen Mittelalter
durchmachte: Das Interesse
verschob sich von der tatsäch-
lichen Biologie der Tiere da-
hin, inwieweit sie für religiöse
Symbolik tauglich waren. Des-
halb wurde die Information,
der Hirsch sei der Todfeind
der Schlange nie falsifiziert,
obwohl es doch in Europa ge-
nügend Gelegenheiten gab,
Hirsche in der Natur zu beob-
achten. Man wollte sich die
vielen schönen Hirsche, die in
der mittelalterlichen Buchma-
lerei oder auf Schmuckplasti-
ken von Kirchen die bösen
Schlangen zertreten oder tot-
beißen, nicht durch Recher-
che kaputt machen.
Manche Tiere existierten
ohnehin nur in der Fantasie.
Etwa der Greif, ein geflügel-
tes Mischwesen aus Vogel und
Löwe mit vier Krallenfüßen,
einem Schnabel und gewalti-
gen Adlerschwingen, das

Pferde und ihre Reiter in Stü-
cke reißt, wo es sie schnappen
kann. Oder das Einhorn, das
nur von einer Jungfrau gefan-
gen werden konnte. Wie der
Pelikan wurde auch dieses Fa-
belwesen allegorisch als Jesus
Christus gedeutet. Die Jung-
fffrau setzte man mit Mariarau setzte man mit Maria
gleich, und das einzige Horn
verwies auf den Glauben an
den einzigen Gott.
Nun richtet ausgerechnet
das Getty Center in Los Ange-
les, ein Ort, der denkbar weit
vom europäischen Mittelalter
entfernt ist, eine solche Aus-
stellung aus, die den ganzen
Wissensstand über die Bestia-
rien von den besten Köpfen aus
aller Welt sammelt. Das hat da-
mit zu tun, dass das Museum
2007 das Northumberland-Be-
stiarium erwarb, eines der
prachtvollsten Werke der Gat-
tung aus dem 13. Jahrhundert.
Dadurch wurde das Getty Cen-
ter zur Hochburg der Bestia-
rienforschung. Wissenschaftler
aus aller Welt reisen dorthin,
wenn sie die Illustrationen ein-
mal im Original sehen wollen.
Zwar gab es auch Bestia-
rien, die nur aus reinem Text
bestanden. Doch oft waren es
schön illustrierte Exemplare,
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