FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG Wirtschaft DIENSTAG, 13. AUGUST 2019·NR. 186·SEITE 15
In einem Pariser Vorort kommt
derBusper Smartphone. Ist das
die Mobilität der Zukunft?Seite 16
Das Interesse von Investoren aus
Chinaandeutschen Betrieben ist
gesunken, bleibt aber hoch.Seite 20
Die Dekarbonisierung kann starten,
sagt der Chef von Salzgitter – wenn
die Politik den Rahmen setzt.Seite 22
Transport auf Nachfrage Transaktionen auf dem Rückzug Transformation auf Abruf
W
ohl dem, der in Frankreich bei
der Bahn arbeitet. Denn er darf
auf ein langes drittes Lebensalter hof-
fen. Bei der staatlichen Pariser Trans-
portgesellschaft RATP beträgt das
durchschnittliche Rentenalter 55,
Jahre und bei der Staatsbahn SNCF
56,9 Jahre. Bei Erreichen der vollen
Beitragsjahre sind die Renten komfor-
tabel: im Durchschnitt 3705 Euro brut-
to pro Monat bei der RATP sowie
2636 Euro bei der SNCF. Der durch-
schnittliche Beamte Frankreichs
kommt auf 400 Euro weniger als die
SNCF-Rentner.
Diese Zahlen hat kürzlich der fran-
zösische Rechnungshof veröffentlicht.
Kurz danach legte ein Gremium aus
Fachleuten im Auftrag von Emmanu-
el Macron seine Vorschläge für die
Rentenreform vor. Es ist eines der hei-
ßesten Eisen, das der Präsident an-
packt. Er will die 42 Sonderrentensys-
teme für einzelne Berufsgruppen ab-
schaffen und die Franzosen allgemein
dazu bringen, länger zu arbeiten.
Wenn er konsequent vorgeht, steht
eine Mammutreform an.
An der Dringlichkeit besteht kein
Zweifel, wie das umfangreiche statisti-
sche Material belegt. Würden sich die
Sonderrentensysteme selbst finanzie-
ren, wäre das anders. Doch bei der
Bahn decken die Beiträge von Arbeit-
gebern und Arbeitnehmern nur rund
ein Drittel der Ausgaben, bei der Pari-
ser Transportgesellschaft ist es nicht
viel mehr. Der größte Teil des Geldes
kommt vom Staat. Der Reformbedarf
erschließt sich schon beim Blick auf
die Lebenserwartung: Heute leben die
Franzosen im Durchschnitt 14 Jahre
länger als Ende der fünfziger Jahre.
Ein heute in Frankreich geborenes
Mädchen darf hoffen, mehr als 85 Jah-
re alt zu werden, bei Jungen sind es
fast 80 Jahre. Damit leben die Männer
etwa ein Jahr länger als in Deutsch-
land, die Frauen zwei Jahre. Das be-
deutet, dass den Französinnen nach
dem Rentenbeginn inzwischen 27 wei-
tere Jahre bleiben. Das ist erfreulich,
doch es muss auch finanziert werden.
Ende der fünfziger Jahre lag das
Eintrittsalter für die staatliche Rente
noch bei 65 Jahren. Der sozialistische
Präsident François Mitterrand senkte
es Anfang der achtziger Jahre auf
60 Jahre. Damit fingen die Sorgen an.
Nur mühsam haben die Regierungen
es seither geschafft, das Rentenalter
wieder auf 62 Jahre anzuheben. Tat-
sächlich gehen die Franzosen durch-
schnittlich erst mit mehr als 63 Jahren
in Rente, weil die meisten vorher
nicht genügend Beitragsjahre gesam-
melt haben, um eine volle Rente zu be-
kommen. Auch damit aber liegt das
Rentenalter im internationalen Ver-
gleich niedrig. Im Schnitt scheiden die
Franzosen rund vier Jahre früher aus
dem Arbeitsmarkt aus als die Men-
schen in den übrigen OECD-Ländern.
Das macht das System teuer. Frank-
reich gibt fast 14 Prozent seines Brut-
toinlandsproduktes für die Rente aus,
Tendenz steigend. Kein anderer Pos-
ten seiner Staatsausgaben ist größer.
Die Renten werden vor allem durch
hohe Beiträge der Arbeitgeber finan-
ziert, was auf Kosten der Wettbewerbs-
fähigkeit geht. Zudem tragen die Ar-
beitnehmer mit ihren Einzahlungen
bei, was die Kaufkraft belastet. Doch
auch das reicht nicht: Trotz einer ho-
hen Geburtenrate muss der Staat jähr-
lich ein Viertel der Ausgaben aus dem
laufenden Haushalt für die allgemeine
Rentenkasse reservieren.
Das geht auf Kosten der Investitio-
nen in die Infrastruktur oder sozialer
Hilfen für die wirklich Bedürftigen.
Den Rentnern Frankreichs geht es ins-
gesamt gut. Ihre Armutsquote beträgt
3,5 Prozent, nur ein Viertel des
OECD-Durchschnitts. Unter der akti-
ven Bevölkerung gibt es längst viel
mehr Arme. Summiert man die Rente
und die Bezüge aus privaten Quellen,
dann verfügen die französischen Pen-
sionäre heute im Schnitt über höhere
Einkommen als die arbeitende Bevöl-
kerung. In der Altersklasse von 66 bis
75 Jahren war dieser Überschuss im
Jahr 2014 höher als in allen anderen
OECD-Ländern. Denn das Rentensys-
tem stellt eine starke Umverteilung
von der berufstätigen Bevölkerung zu
den Ruheständlern sicher.
Macrons Pläne liegen im Einzelnen
noch nicht vor, er will zunächst um-
fangreiche Konsultationen vorneh-
men, die sich bis ins kommende Jahr
ziehen können. Sein Rentenkommis-
sar Jean-Paul Delevoye schlägt vor,
eine Einheitskasse für alle einzurich-
ten, in die jeder eingezahlte Euro zu
gleichen Rechten führt. Dies hatte Ma-
cron schon im Wahlkampf gefordert.
Durch ein Punktesystem soll der Ren-
tenbeginn vor dem künftigen „Gleich-
gewichtsalter“ von 64 Jahren möglich
sein, allerdings nur mit größeren Ab-
schlägen. Länger zu arbeiten bringt da-
gegen Pluspunkte.
Die Reform soll sich von 2025 an
über einen Zeitraum von 15 Jahren
hinziehen. Leider fehlt darin ein Ele-
ment privatwirtschaftlicher Vorsorge,
so dass die Reform die Staatsausgaben
kaum senken dürfte. Doch Macron
meint, dass er mit der Abschaffung
der Sonderregime schon genügend
Konfliktpotential schafft. Ein Teil der
Gewerkschaften hat für den Septem-
ber Proteste angekündigt. Auch die
„Gelbwesten“ können jederzeit wie-
der zurückkommen. Macron ist vor-
sichtiger geworden. Die Rentenre-
form wird der große Gradmesser für
seine Entschlossenheit und seine
Durchsetzungskraft sein.
D
er Müll im öffentlichen Raum
nimmt zu. Das ist eine ambivalen-
te Entwicklung, denn einerseits ist es
die Folge einer erfreulichen Verände-
rung der Lebensgewohnheiten: Men-
schen essen mehr unterwegs, um sich
an der freien Luft mit anderen auszu-
tauschen, Kunst, Kino und Theater un-
ter freiem Himmel zu erleben. Ande-
rerseits ist der Müll selbst ein Ärger-
nis. Zum Glück ist ins allgemeine Be-
wusstsein gerückt, dass Plastik nicht in
den Nahrungskreislauf gelangen soll-
te. Andernfalls verenden Tiere, gera-
ten ungesunde Stoffe in die Nahrung
und wird die fürs Überleben notwendi-
ge Biodiversität gefährdet. Deshalb ist
es sinnvoll, nach politischen Ideen zu
suchen, um das Müllaufkommen zu
senken.
Doch im Bundesumweltministeri-
um fehlt es bislang noch an einem kon-
sistenten Plan dafür. Jetzt will Ministe-
rin Svenja Schulze Hersteller von Weg-
werfartikeln an den Kosten von deren
Beseitigung beteiligen. Gegen diese
Idee der SPD-Politikerin ist erst mal
wenig einzuwenden. Das Verursacher-
prinzip ist seit der Geburt der Umwelt-
politik in den frühen siebziger Jahren
eines ihrer erfolgreichsten Verfahren.
Es stand bei der Besteuerung von
Emissionen genauso Pate wie beim
Aufbau der Kreislaufwirtschaft. Wer-
den also Hersteller von Pizzakartons,
Currywurstschalen und Einwegbe-
chern finanziell an den nötigen Auf-
räumarbeiten beteiligt, entlastet das
die Kommunen, und Wegwerfbehält-
nisse werden teurer.
Doch leider folgt Schulze in ver-
wandten Themen eben nicht den gut
etablierten Prinzipien. Verbote sieht
die Umweltpolitik zum Beispiel dann
vor, wenn gefährliche Schadstoffe ver-
hindert werden sollen, etwa Stickoxi-
de oder schädliche Emissionen aus
der Chemieindustrie. Um Volumenef-
fekte zu erzielen – also etwa um den
Einsatz von Plastiktüten zu reduzie-
ren –, empfehlen Fachleute in der Re-
gel ökonomische Instrumente wie
Steuern oder Zertifikate. Trotzdem
setzt Schulze auf Verbote. Dabei wer-
den Plastiktüten schon heute großflä-
chig aus dem Verkehr gezogen, weil
Supermarktketten freiwillig verzich-
ten. Doch die Alternativen sind nicht
immer besser: Immer wieder kommen
stattdessen Papiertüten zum Einsatz.
Das erleichtert zwar die Entsorgung,
aber in der Herstellung lösen sie mehr
umweltschädliche Wirkungen aus als
Plastik- und vor allem Recyclingtüten.
Sogar Umweltschützer vom Verband
Nabu warnen vor einem Verbot. Es
wäre schön, wenn wieder mehr über
Stoffkreisläufe und echte Umweltfol-
gen gesprochen würde als über aktio-
nistische Ideen. Das Müllproblem ist
lösbar.
Frankreichs Rentner
bekommenviel Geld.
Eine Reform des Systems
ist nötig, aber schwer.
loe.BERLIN,12. August. Es sind nur sie-
ben Buchstaben, aber sie haben sich zu ei-
nem regelrechten Reizwort entwickelt:
Plastik. Nachdem sie am Wochenende
schon ein Verbot von Plastiktüten gefor-
dert hatte, legte Bundesumweltministerin
Svenja Schulze (SPD) am Montag noch
mal nach: Die Hersteller von Fastfood-Ver-
packungen, Einwegbechern und dünnen
Tüten sollen für die Entsorgung des von ih-
nen verursachten Plastikmülls zahlen. Die
vielen Wegwerfartikel führten in den Städ-
ten zu einer Müllflut, kritisierte Schulze.
Noch sind es die Kommunen, die für die
Beseitigung des Mülls zahlen. Spätestens
2022 soll damit Schluss sein, bis dahin soll
die geplante Verordnung greifen.
Während Schulzes neuester Vorstoß
nur wenig Aufmerksamkeit erregte, ging
die Diskussion über das Für und Wider
von Plastiktüten munter weiter. Kritik
kam von Bundeslandwirtschaftsministe-
rin Julia Klöckner (CDU). Die ist auf ihre
Kabinettskollegin ohnehin nicht gut zu
sprechen, die Meinungen der beiden bei
Themen wie Glyphosat oder dem Um-
gang mit dem Wolf liegen weit auseinan-
der. Verbote seien keine Lösung, sagte
Klöckner. Unter Federführung ihres Res-
sorts würden schon Alternativen zur Plas-
tiktüte aus nachwachsenden Rohstoffen
entwickelt. Auch der Handelsverband
HDE reagierte verschnupft. Man habe die
Ziele der Politik doch schon mehr als er-
füllt. Selbst der Naturschutzverband Nabu
hält wenig von Schulzes Idee. „Ein Verbot
von Einwegplastiktüten allein kann zu ge-
fährlichen Verlagerungen am Markt füh-
ren – eine Einwegpapiertüte ist in ihrer
Ökobilanz nicht besser“, sagte Geschäfts-
führer Leif Miller. Sein Vorschlag: eine ge-
setzliche Abgabe auf alle Einwegtaschen,
unabhängig vom Material.
Weil für die Herstellung einer Papiertü-
te so viel Wasser und Energie nötig sind,
müsste sie nach Angaben der Umwelt-
schützer mindestens dreimal so oft ge-
nutzt werden wie eine erdölbasierte Plas-
tiktüte. Eine Studie des dänischen Umwelt-
ministeriums aus dem vergangenen Jahr
kommt sogar auf einen Faktor von 43,
wenn man alle Umweltaspekte miteinbe-
zieht. Noch schlechter fällt die Ökobilanz
für Beutel aus Baumwolle aus. Rund 100
Mal müssten diese mindestens benutzt
werden, um besser zu sein als eine Plastik-
tüte, heißt es beim Nabu. Das britische
Umweltministerium kommt sogar auf ei-
nen Wert von 131.
Wie viele Papiertüten in Deutschland
ausgegeben werden, weiß niemand. Seit
im Jahr 2016 die Selbstverpflichtung des
Handels zu weniger Plastiktüten in Kraft
trat, wird nur deren Zahl erhoben. Die
geht steil nach unten. Die Gesamtzahl der
Plastiktüten ist von 7 Milliarden im Jahr
2000 auf rund 2 Milliarden in 2018 gesun-
ken. Im vorigen Jahr hat jeder Deutsche
im Mittel noch 24 Plastiktüten verwendet,
fünf weniger als im Jahr zuvor. 2016 wa-
ren es noch 45 Tüten. Die Supermarktket-
te Rewe verzichtet kommende Woche in
ihren Filialen im Norden und Osten des
Landes zudem auf die dünnen Tüten für
Obst und Gemüse, die es bislang noch kos-
tenlos gibt. Aldi wiederum verlangt dafür
von September an einen Cent. Die Ver-
braucher sollen ermuntert werden, eigene
Netze zu nutzen oder die Ware lose zu kau-
fen. Während Deutschland in vielen ande-
ren Fragen des Umweltschutzes Vorgaben
aus Brüssel regelmäßig reißt, sind wir bei
den Plastiktüten mustergültig. Eine EU-
Richtlinie aus 2015 gibt für die stabilen
Plastiktüten für 2019 das Ziel von maxi-
mal 90 Stück je Kopf und Jahr aus, 2025
sollen es dann höchstens 40 sein.
Was den Plastikmüll insgesamt angeht,
also inklusive Verpackungen, ist Deutsch-
land in Europa mit 220 Kilogramm je
Kopf und Jahr aber absoluter Spitzenrei-
ter. Die Entwöhnung gestaltet sich schwie-
rig. Die Bambusbecher zum Beispiel, die
Coffee-to-go-Becher aus Plastik ersetzen
sollen, gerieten gerade erst in die Kritik,
da sie die Gesundheit schädigen können.
Tübingen, das Anfang des Jahres eine
Steuer auf Einwegbecher angekündigt
hat, diskutiert weiter, ob es das wirklich
machen soll. In Österreich, wo der Natio-
nalrat gerade ein Verbot von Plastiktüten
von 2020 an auf den Weg gebracht hat, mo-
nieren Umweltschützer, dass Tüten nur ei-
nen kleinen Teil des Plastikaufkommens
ausmachen. Vielleicht sollte man es so ma-
chen wie jene kanadische Supermarktket-
te, die ihre Kunden jetzt an der Ehre
packt. Nachdem es wenig brachte, die Plas-
tiktüten kostenpflichtig zu machen,
druckt sie nun peinliche Sprüche darauf,
etwa zu Pornoshops und Warzenmitteln –
in der Hoffnung, dass das die Verbraucher
abschreckt.(Plastikverarbeiter stellen sich
auf schlechtere Zeiten ein, Seite 18.)
che.SINGAPUR,12. August.Einer der
wichtigsten Flughäfen der Welt hat am
Montag vorübergehend seinen Betrieb ein-
gestellt: aus Furcht vor weiteren Protesten
strich Hongkong am Nachmittag alle Flü-
ge. Am Samstag hatten sich Demonstran-
ten in ein Terminal gesetzt und Reisende
auch mit deutschsprachigen Transparen-
ten friedlich auf die Probleme in der chine-
sischen Sonderverwaltungsregion auf-
merksam gemacht. Nach einer Nacht, die
von teils heftigen Reaktionen der Polizei
auf immer wieder aufflammende Proteste
bestimmt war, strömten am Montagnach-
mittag Tausende in die Terminals.
Damit erreichen die Proteste gegen die
aus Peking bestimmte politische Führung
den wunden Punkt der Sonderverwal-
tungsregion: Mit fast 75 Millionen Fluggäs-
ten war Hongkong International 2018 der
drittgrößte Flughafen Asiens nach Pe-
kings Capital Airport (101 Millionen) und
Tokio Haneda (87 Millionen). Der Touris-
mus schmilzt weg: Die Belegung der Ho-
tels werde um 40 Prozent im Juli gesunken
sein, schätzten die Hongkonger Gewerk-
schaften. Der Markt für Gruppenreisen
soll um die Hälfte nachgegeben haben.
Der Freizeitpark Disney-Land in Hong-
kong erklärte, er spüre die Entwicklung:
„Es gibt definitiv eine Unterbrechung. Sie
belastet unsere Besucherzahlen“, sagte
Vorstandssprecher Bob Iger. Verschiedene
Länder, darunter Pekings Gegenspieler in
der Region Amerika, Japan und Australi-
en, haben Reisehinweise ausgegeben. Zu-
gleich zeigen Finanzjongleure Interesse,
Kapital in Singapur in Sicherheit zu brin-
gen. Analysten ziehen schon Vergleiche
zu 1967, als Hongkong während Unruhen
geschätzte 800 Millionen Hongkong Dol-
lar – damals mehr als eine halbe Milliarde
Mark – Anlegergeld an Singapur verloren
hatte. Die amerikanische Handelskam-
mer in Hongkong warnte, Investoren be-
trachteten die Stadt als weniger sicher.
Wie stark Peking unter Druck steht und
wie ungeschickt es auf die Unruhe in
Hongkong reagiert, zeigt sich in einer An-
weisung an die börsennotierte Fluggesell-
schaft Cathay Pacific, die in Hongkong
ihre Basis hat: Sie drohte Unterstützern
der Proteste mit Entlassung. Vorstands-
chef Rupert Hogg teilte der Belegschaft
mit, jene, die sich beteiligten, müssten mit
„disziplinarischen Maßnahmen“ rechnen,
einschließlich der „Beendigung des Ar-
beitsverhältnisses“. Cathay fürchtet einen
Boykott in Festlandchina, der die Gesell-
schaft an den Rand des Zusammenbruchs
führen könnte. Cathay bestätigte, dass ei-
ner ihrer Piloten seit Ende Juli wegen sei-
ner Beteiligung an den Protesten nicht
mehr fliegen dürfe. Zwei Boden-Mitarbei-
ter seien entlassen worden. Hogg fuhr
fort: „Handlungen und Äußerungen unse-
rer Beschäftigten außerhalb der Arbeits-
zeit können einen großen Einfluss auf un-
ser Unternehmen haben“. Am Freitag hat-
te Chinas Luftfahrtbehörde angewiesen,
Teilnehmer der Proteste weder auf Flügen
nach Festland-China noch durch den chi-
nesischen Luftraum einzusetzen.
Peking demonstrierte damit seine
Angst, dass die Proteste auf das Festland
übergreifen könnten. Besondere Sorge
herrscht wegen des nahenden chinesi-
schen Nationalfeiertages am 1. Oktober.
„Während sich die Proteste auf die ganze
Stadt ausweiten, wirft die Bewegung auch
ein Schlaglicht auf Hongkongs dauerhafte
Missstände wie die Feindseligkeit gegen
chinesische Händler, die Immobilienkrise
und ein extremes Wohlstandsgefälle zwi-
schen Arm und Reich“, ordnet Christina
Lin für die Berliner Denkfabrik ISPSW die
Lage ein. Die umstrittene, von Peking ein-
gesetzte Verwaltungsratschefin Carrie
Lam warnte, Hongkong durchlebe eine
schlimmere Wirtschaftskrise als während
der Lungenkrankheit Sars 2003 oder der
Finanzkrise 2008. Damals schmolz der
wichtige Immobilienmarkt um 20 Prozent
- aktuell erweist er sich als stabil. Mit sol-
chen Vergleichen versucht Lam, Ge-
schäftsleute, von denen viele mit Demons-
tranten sympathisieren, auf ihre Seite zu
holen. „Die Lage ist ernster“, sagte Lam.
„Mit anderen Worte: Die wirtschaftliche
Erholung wird sehr lange Zeit dauern.“
hw.BERLIN,12. August. Etwa 28 Jahre
nach Einführung des Solidaritätszu-
schlags ringen sich Behauptungen und
Mutmaßungen um die Abgabe. Bundesfi-
nanzminister Olaf Scholz (SPD) be-
schwört die Auswirkungen des Solis auf
die Konjunktur. Er sagte am Montag, mit
der Abschaffung des Solidaritätszu-
schlags für weite Teile der Bevölkerung
solle auch die sich abschwächende Kon-
junktur gestützt werden. Stimmt das?
Es geht jedenfalls um viel Geld: Der
Staat verzichtet nach den nun vorgestell-
ten Plänen auf etwas mehr als 10 Milliar-
den Euro – allerdings erst von 2021 an,
nicht in den aktuellen Konjunkturschwie-
rigkeiten. Scholz Hinweis auf die Kon-
junktur ist aber schon deshalb ein zwei-
schneidiges Schwert, weil die SPD sich ei-
ner vollständigen Abschaffung des Solis
verschließt, dabei ist das Senken von Steu-
ern und Abgaben eine klassische Maßnah-
me der Konjunkturförderung. CDU und
FDP wollen auch die andere Hälfte, das
sind noch einmal etwa 10 Milliarden
Euro. Auch der Bundesverband mittel-
ständische Wirtschaft fordert die vollstän-
dige Streichung des Solis als „Sofortmaß-
nahme“ gegen rezessive Tendenzen in der
Wirtschaft. Der Ökonom Marcel Fratz-
scher sagte am Sonntag hingegen salomo-
nisch: „Konjunkturell wird die Soliab-
schaffung fast nichts zur Stabilisierung
der Wirtschaft und zur Sicherung von Ar-
beitsplätzen beitragen.“
Ein weiterer Mythos: Der Zuschlag wur-
de 1991 zur Bewältigung der deutschen
Einheit eingeführt. Tatsächlich war das
nur einer von mehreren Zwecken: „Verän-
derungen in der Weltlage“, nämlich, im
Einzelnen „Entwicklungen im Mittleren
Osten“ – gemeint war der Irakkrieg – „in
Südost- und Osteuropa“. Im Jahr 1993
ging es im Wesentlichen um den Aufhohl-
prozess im Osten, aber auch die Konsoli-
dierung der öffentlichen Haushalte.
Zweckgebunden waren die Milliarden
aber nicht.
Schließlich wird viel um die angebli-
che Befristung des „Soli“ gestritten. Die-
se Befristung gab es – aber nur in der ers-
ten Version des Solidaritätszuschlags
von 1991. Hinzu kam damals das Wort
des Bundeskanzlers Helmut Kohl
(CDU), kurz vor der Bundestagswahl im
Dezember 1990: „Wenn ich dem Bürger
jetzt vor dieser Wahl sage: Wir machen
keine Steuererhöhungen im Zusammen-
hang mit der deutschen Einheit, dann ma-
chen wir keine.“ Es folgte zwei Monate
nach der Wahl ein Steuererhöhungspaket
samt bis zum 30. Juni 1992 befristetem
„Soli“ in Höhe von 7,5 Prozent. Nach Aus-
laufen der Frist erhöhte der Gesetzgeber
die Mehrwertsteuer, unbefristet, und
dann führte man den Solidaritätszu-
schlag gegen erheblichen Widerstand
von Wirtschaftsverbänden wieder ein –
im Jahr 1995.
Beim zweiten „Soli“ gab es keine Frist
mehr, „im Namen der Ehrlichkeit“, wie
die F.A.Z. schrieb. Sogar der CDU-nahe
Wirtschaftsrat, der am Montag von
„Schwerem Wortbruch gegenüber Leis-
tungsträgern“ schreibt, war damals gegen
eine Befristung. Kohl bezeichnete in ei-
nem Gespräch mit der „Süddeutschen“ so-
gar als „Fehler“, beim ersten Mal den Zu-
schlag auf Wunsch der FDP auf ein Jahr
befristet zu haben, den Fehler werde er
nicht wiederholen. Der damalige Bundes-
finanzminister Theo Waigel (CSU) sah
sich zu so einer Aussage wegen der ange-
spannten Finanzlage „nicht in der Lage“.
Den einzigen Hinweis im Gesetzentwurf
muss man auf Seite 51 herauslesen: Dort
ist von einem „mittelfristig zu überprüfen-
den“ Zuschlag die Rede.
Ein belastbares Versprechen der Frist
wie im Jahr 1991 gab es also gerade
nicht – nur politische Beteuerungen.
Wenn sich das Bundesverfassungsgericht
mit dem Soli beschäftigt, wie zuletzt der
FDP-Vorsitzende Christian Lindner
wünschte, spielt das keine Rolle. Zudem
stellten die Richter mit Bezug auf den
„Soli“ vor knapp zehn Jahren trocken
fest, dass „keine ernsthaften Versuche an-
gestellt wurden, eine Befristung der Er-
gänzungsabgabe einzuführen“.
Der frühere Präsident des Bundesver-
fassungsgerichts, Hans-Jürgen Papier, ar-
gumentierte in einem Gutachten für die
FDP-Fraktion kürzlich anders: Mit dem
Versprechen finanzieller Unterstützung
der alten an die neuen Bundesländer –
dem Solidarpakt II – ende in diesem Jahr
auch die Rechtfertigung für den Solidari-
tätszuschlag. Womöglich sprach Scholz
am Montag deshalb von „unverändert be-
stehenden Aufgaben zur Finanzierung
der deutschen Einheit“.
Frankreichs schöner Ruhestand
VonChristian Schubert, Paris
Müll richtig vermeiden
VonPhilipp Krohn
Völlig losgelöst:Eine Plastiktüte schwimmt durch ägyptisches Gewässer. Foto dpa
Demonstranten legen Hongkongs Flughafen lahm
Anleger transferieren Kapital nach Singapur / Touristen bleiben weg / Peking findet keine Antwort
Mythen um die „Soli“-Milliarden
Hat der Solidaritätszuschlag ein Verfallsdatum? Dient er der Einheit? Hilft er der Konjunktur?
Der Kampf gegen Plastik wird härter
Die Umweltministerin
will Plastiktüten
verbieten. Außerdem
soll die Wirtschaft für
den Plastikmüll zahlen.
Dabei ist das Material
besser als sein Ruf.