Der Tagesspiegel - 18.08.2019

(Axel Boer) #1
*Der Flugbetrieb sollte ursprünglich
am 3. Juni 2012 starten.
** Der Flughafen soll im Oktober 2020
in Betrieb gehen. Wir rechnen mal großzügig
mit dem 31. Oktober.

B


erlin ist ein Dorado für Autonome.
Das stellen nicht nur Maidemons-
trationen und besetzte Häuser ein-
drucksvoll unter Beweis, sondern auch
die Verantwortlichen der BVG. Sie las-
sen jetzt auch in Tegel autonome Mini-
Busse fahren. Diese fahrerlosen Wägel-
chen rollen natürlich nicht einmal um
den schwarzen Block, sondern von der
Endstation der U6 zur Greenwichprome-
nade. Das Ganze ist, wie gemeldet, ein
Test für die Mobilität der Zukunft.
Die Strecke ist nicht allzu lang, nur ein
paar Steinwürfe sozusagen, allerdings
gibt es allerhand Störer. Die sitzen meist
in Autos und machen den sonnengelben
KutschenderBVG immer wieder dasFah-
ren schwer. Denn wie Testnutzer berich-
ten, dauert es manchen Autofahrern zu
lange,bis soein Mini-Bus endlich mallos-
fährt. Sie überholen und stellen sich in
den Weg, was auf autonomer Seite zu ei-
ner gewissen Blockade führt. Eine Hilfs-
person an Bord der selbstfahrenden Wä-
gelchen muss dann lenkend eingreifen.
Die Software des Systems ist wohl be-
wusst defensiv programmiert worden,
heißt es. Zum eher offensiven Verhalten
vieler Berliner Verkehrsteilnehmer ist
das natürlich nur bedingt kompatibel,
weshalb die Verantwortlichen mal über
ein rasches Update nachdenken soll-
ten. Es muss ja nicht gleich das Pro-
gramm vom Terminator sein.


DER AUTOR
Rei Gesing, Jahrgang 1973, lebt in
Münster. Er arbeitet als Autor und Unter-
nehmensberater. Zunächst studierte er
Agrarwirtschaft, um den landwirtschaftli-
chen Familienbetrieb zu übernehmen.
Nach einem Sabbatical orientierte er
sich neu, bildete sich weiter und grün-
dete ein Institut für psychologische Un-
ternehmensberatung. Außerdem hat er
Lyrikbände, Prosa und Ratgeber ge-
schrieben, unter anderem zur Burnout-
Prävention. Der vierfache Vater enga-
giert sich auch ehrenamtlich, zum Bei-
spiel als Betreuer für die Aidshilfe.

DAS BUCH
Für sein Buch „Die Weisheit der
100-Jährigen – 7 Fragen an die ältesten
Menschen Deutschlands“ (Solibro Ver-
lag, 160 Seiten, 30 Euro) ist Gesing
durch ganz Deutschland gereist und hat
36 Frauen und Männer im Alter von 99
bis 112 inter-
viewt. Bebildert
ist das Buch
mit Zeichnun-
gen des Grafi-
kers André Krö-
ker, der alle In-
terviewten por-
trätiert hat. Tsp

Der Ältestenrat


Rund 1000 Menschen


in dieser Stadt


sind mehr


als 100 Jahre alt.


Hier geben


fünf von ihnen Tipps


für ein gutes Leben


H


undert Jahre, das klingt nach
Ewigkeit. Wer heute 100
Jahre alt ist, wurde zu Be-
ginn der Weimarer Republik
geboren, kurz nach Ende des
Ersten Weltkriegs, die Nazizeit erlebte er
als Teenager, den Zweiten Weltkrieg als
junger Erwachsene. Oder vielmehr: sie.
Denndiese magische Zahlerreichen deut-
lich mehr Frauen als Männer. 1025Berli-
nerinnen und Berliner waren im vergan-
genen Jahr 100 Jahre alt – oder sogar
noch ein bisschen älter. Weniger als ein
ViertelsindMänner,229warenesvergan-
genes Jahr. Wilhelm Dodenhoff könnte
sich im nächsten Jahr dazugesellen. Noch
zählt er zu den 5605 Berlinern, die 2018
zwischen 95 und 100 Jahre alt waren –
und 27692 sind zwischen 90 und 100.
Sie alle haben ihre ganz persönlichen Ge-
schichten zu erzählen. Einige hat Rei Ge-
singinseinemInterview-Buch„DieWeis-
heit der 100-Jährigen“ gesammelt, aus
demwir Auszüge veröffentlichen.

ANNA BUCHER
AnnaBucherwurde1910inEisenfurt ge-
boren und war zunächst als Dienstmäd-
chen tätig. Später heiratete sie und be-
kam eine Tochter. Sie lebt in einer Senio-
renresidenz in Berlin.

Was ist Ihrer Auffassung nach das Wich-
tigste im Leben?
Aktiv sein, in Bewegung sein, viel arbei-
ten, etwas schaffen, etwas verändern!
Man ist doch nicht lebendig, um rumzu-
sitzen und Däumchen zu drehen. Das Le-
ben ist nur schön, wenn darin auch etwas
passiert. Und das müssen auch gar nicht
immer so große Sachen sein; die Kleinig-
keiten können auch etwas bewirken und
sehr schön sein.
Was bedeutet Glück für Sie?
Wenn man die alltäglichen Bedürfnisse
stillen kann, ist das schon sehr viel! Das
wisst ihr Jungen gar nicht mehr zu schät-
zen.WievieleMenschenmögenwohl da-
von träumen, dass es ihnen nur einen Tag
im Leben so gut ginge wie uns hier!?

HILDEGARD KINSCHERT
Hildegard Kinschert wurde 1915 in Ber-
lin geboren. Dort hat sie ihr gesamtes Le-
benverbracht.Siewar verheiratet undar-
beitete als Sachbearbeiterin in verschie-
denenBüros. Ihrebeste Freundin Ingebe-
sucht sie fast täglich.

Was ist Ihrer Auffassung nach das Wich-
tigste im Leben?
Zu den wichtigsten Dingen zählt natür-
lich, eine stabile Gesundheit und ein ro-
bustes Immunsystem zu haben. Ein biss-
chen Geld ist auch nicht schlecht, damit
man nicht darben muss. Aber noch viel
wichtiger ist,dass man, wann immer man
möchte, in der Natur sein kann. Das ist
wichtig sowohl für den Körper als auch
für die Seele.

Was raten und wünschen Sie den heute jun-
gen Menschen?
Ich rate, alles zu meiden, was abhängig
macht. Zigaretten, Alkohol und auch die-
sesGift, dieDrogen.Am bestenallesweg-
lassen. Und stattdessen gesundheitsbe-
wusstundnaturverbunden leben.Nur lei-
der hören die Jungen da sowieso nicht
drauf und machen doch, was sie wollen.
Aber das ist wohl auch normal und gut
so. Wir waren doch auch mal jung.
Was ist Ihrer Ansicht nach der Sinn des
Lebens?
Dass man alles, was man erlebt, auch be-
wusst erlebt und immer ganz bei dem ist,
was man gerade tut. Wenn man immer
klar und wach und aufmerksam ist,
macht das Leben viel mehr Spaß. Jetzt im
Alter erinnert man sich an all die vielen
bewussten und intensiven Erfahrungen
und trägt einen Schatz in sich, den Schatz
der Erinnerungen.

ELFRIEDE „ELLI“ ZAKRYNSKI
Elfriede Zakrynski, geboren 1917 in Ber-
lin, musste schon mit 13 Jahren die
Schule verlassen, um Geld zu verdienen.
Sie arbeitete als Konditoreiverkäuferin,
heiratete und bekam einen Sohn, ihr Ehe-
mann fiel im Zweiten Weltkrieg. Sie erin-
nert sich gerne an viele schöne Reisen
mit der Familie und später mit ihrem Le-
bensgefährten.

Wie haben Sie Stress, Ärger, Ängste, Kon-
flikte und Krisen bewältigt?
Ich habe immer versucht, meinen gesun-
den Menschenverstand zu benutzen und
klug und besonnen zu handeln. Dann
trifftman auch die richtigen Entscheidun-

gen und hat hinterher keinen Ärger und
keine großen Konflikte. Und manchmal
sagt man auch einmal ein falsches Wort
oder einen falschen Satz, weil man wü-
tend ist oder verletzt oder einfach, weil
man recht haben will. Das kommt ja vor,
wir sind ja alle nur Menschen. Wichtig
ist, dass man hinterher den Kopf unter
den Arm nehmen kann und um Entschul-
digung bitten kann.

Was raten und wünschen Sie heute jungen
Menschen?
Esst weniger Fleisch! Oder gar keins,
wenn ihr ohne leben könnt. Oder ver-
sucht wenigstens den Fleischverzehr
ganz deutlich zu reduzieren. Die Massen-
tierhaltung muss aufhören. Das Leiden
von den Schweinen und Hühnern, das
muss aufhören! Diese armen Geschöpfe,
das macht mich so traurig.

Was ist Ihrer Ansicht nach der Sinn des
Lebens?
Klug und vernünftig handeln, um mehr
Ruhe und Nächstenliebe in die Welt zu
bringen. Wir müssen mehr Liebe in diese
Welt, unter die Leute, in die Gesellschaft
bringen. Der Sinn des Lebens ist die
Liebe. Was denn sonst?

WILHELM DODENHOFF
Wilhelm Dodenhoff wurde 1920in Sot-
trumgeboren. Mit19Jahren wurdeer ein-
gezogen, zwei seiner Brüder fielen im
Zweiten Weltkrieg, er selbst wurde ver-
wundet. Später war er 28 Jahre lang Vor-
sitzender Richter am Bundesverwaltungs-
gericht. Nach dem Tod seiner ersten Frau

heiratete er im Alter von 66 Jahren er-
neut, seine zweite Frau verstarb 2001.
Warum, glauben Sie, sind Sie so alt gewor-
den?
Ich habe alle mir gestellten Aufgaben im-
mer mit großer Freude erfüllt. Ich bin im-
mer neugierig geblieben. Sehr neugierig -
ich wollte immer, und will auch heute
noch wissen, was um mich herum und in
der Welt passiert. Gearbeitet habe ich
noch bis zum 75. Lebensjahr. Danach war
ichdannnoch biszumeinem 80. Geburts-
tag als Gutachter tätig. Meine berufliche
Tätigkeitwarsehr erfüllend. Ichhabe ein-
fach gerne gelebt; hatte Freude an der Ar-
beit wie am Leben im Allgemeinen.

Was ist Ihrer Auffassung nach das Wich-
tigste im Leben?
Die Kinder auf den Weg bringen und för-
dern, aber auch andere Menschen. Sie,
die Kinder wie auch andere Menschen,

für die man Verantwortung trägt, dürfen
wir aber nie zu etwas zwingen. Denn es
ist wichtig, dass sie überzeugt sind von
dem, was sie tun.

GERDA PIASTA
Gerda Piasta wurde 1914 in Berlin gebo-
ren. Als Kleinkind verlor sie ihren Vater,
der im Ersten Weltkrieg fiel. Sie erlernte
den Beruf der Schneiderin und betrieb
später einen über die Grenzen Berlins hi-
naus bekannten Modesalon als Inhabe-
rin. Sie arbeitete bis zu ihrem 70. Lebens-
jahr in ihrem Schneideratelier und be-
gann im Ruhestand zu malen.
Was ist Ihrer Auffassung nach das Wich-
tigste im Leben?
Glücklich zu sein! Man muss selber dafür
sorgen, dass man glücklich ist. Ich wollte
unbedingt Kinder haben, weil ich wusste,
dass mich das glücklich machen würde.
Obwohl alle mir abgeraten haben mit
„Bist du verrückt? Du willst jetzt mitten
im Krieg Kinder?“, bin ich in einer der
schlimmsten Bombennächte Mutter ge-
worden. Das war am 12. September
1944.
Was raten und wünschen Sie den heute jun-
gen Menschen?
Sich einen Beruf suchen und finden, der
einem Spaß macht; aber auch einmal au-
ßerhalb des Berufes für ein bisschen Ab-
wechslung sorgen. Ich habe immer viel
Sport getrieben. Gymnastik und auch
Schwimmen. Und sucht euch Freunde!
Pflegt eure Freundschaften. Ihr müsst
euch auch einmal zurücknehmen können
und nicht immer recht haben wollen.

Von Tag zu Tag


2633
Tage seit
Nichteröffnung*

Die Polizei hat am Freitagabend in Neu-
kölln eine Eskalation der Gewalt auf offe-
ner Straße zwischen zwei Clans verhin-
dert. Nach Tagesspiegel-Informationen
gerieten Angehörige der einschlägig be-
kannten deutsch-arabischen Großfami-
lienRemmo undAl-Zein aneinander. Aus-
löser war gegen 21Uhr ein Streit in ei-
nem Café an der Fuldastraße Ecke
Karl-Marx-Straße unweit des U-Bahn-
hofs Rathaus Neukölln. Der Streit wurde
auf dem Gehweg weiter ausgetragen. Es
flogen Flaschen, mehrere Autos wurden
beschädigt. Ein 46-Jähriger erlitt ober-
flächliche Schnittverletzungen am Arm,
ein 40-Jähriger eine Stichverletzung am
Rücken – er musste in ein Krankenhaus
gebracht werden.
Nach einer Festnahme durch die Poli-
zei beruhigtesichdie Lagezunächst,eska-
lierte jedochgegen22.45 Uhrwieder. An-
gehörige der beiden Clans versammelten
sicham Tatort undbeleidigtensich gegen-
seitig. Clanmitglieder holten Verstärkun-
gen, ineinem Kleintransporter fanden Be-
amte diverse Schlagwerkzeuge.
Die Polizei musste die beiden Gruppen
trennen, mit Maschinenpistolen bewaff-
nete Beamte sicherten den Ort ab. Ver-
schärfend hinzu kamen etwa 100 Schau-
lustige.Die Karl-Marx-Straße musstezeit-
weilig für den Autoverkehr gesperrt wer-
den. Die Polizei überprüfte die Persona-
lienmehrererPersonenund erteilte Platz-
verweise. Gegen Mitternacht habe sich
die Lage wieder einigermaßen beruhigt,
hieß es von der Polizei. axf


BERups and downs


Ans Mitte(l)meer: Eine Runde Berlin mit Sopranistin Simone Kermes – Stadtleben, Seite 11


BERLIN


440
Tage bis zur
Eröffnung**

Jahrhundert-Lehren


von 36 Alten


Erfahrungsaustausch. Autor Rei Gesing
2018 mit Gerda Piasta. Gerda Piasta ist im
Juni verstorben. Foto: promo

ANNA BUCHER *

WILHELM DODENHOFF *

Björn Seelingempfiehlt
ein paar Autonomen ein Update

INTERVIEW-BUCH D


Clans gehen


in Neukölln


aufeinander los


Polizei trennt Gruppen.


Karl-Marx-Straße dicht


HILDEGARD KINSCHERT *

ELFRIEDE „ELFI“ ZAKRYNSKI *

Zu softe Ware


SONNTAG, 18. AUGUST 2019 / NR. 23 918 WWW.TAGESSPIEGEL.DE/BERLIN SEITE 9

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