Berliner Kurier - 18.08.2019

(WallPaper) #1

18 JOURNAL BERLINERKURIER,Sonntag, 18. August 2019 19


tie stellt den linken Flügel des
Faschismus dar; sie bindet die
Arbeiter an das bürgerliche
System und hält sie vom Klas-
senkampf ab; sie ist vorrangig
zu bekämpfen. „Man kann den
Kapitalismus nicht schlagen“,
sagt Thälmann 1931, „ohne die
Sozialdemokratie zu vernich-
ten.“
Wo immer sich die Gelegen-
heit bietet, die (Sozial-)Demo-
kratie zu bekämpfen –Thäl-
mann nutzt sie. Dabei scheut er
sich nicht, mit den erstarken-
den Nationalsozialisten zusam-
menzuarbeiten. Im August 1931
versuchen KPD und NSDAP
gemeinsam, die sozialdemokra-
tische Landesregierung Preu-
ßens durch einen Volksent-
scheid zu stürzen.
Die Zerschlagung des bürger-
lichen Staates und die Errich-
tung einer Diktatur nach sowje-
tischem Vorbild –das war
Thälmanns Ziel. Schon im
März 1921 verkündete er sein
antidemokratisches Credo:
„Diesen Staat bekämpfen wir so
lange, bis er nicht mehr als
Staat existiert. Wir machen da-
raus absolut keinen Hehl. Wir
haben keine Veranlassung, in
dieser oder jener Beziehung ge-
gen diese oder jene Person
schonend vorzugehen.“
Es gehört zur Tragödie Ernst
Thälmanns,dassdemStaat,den
er unerbittlich bekämpfte und


der nach der Ernennung Hit-
lers zum Reichskanzler durch
Hindenburg am 30. Januar 1933
tatsächlich nicht mehr existier-
te, ein Staat folgte, der auch ge-
gen ihn schonungslos vorging.
Den Reichstagsbrand in der
Nacht zum 28. Februar, den
Hitler den Kommunis-
ten in die Schuhe
schiebt, nutzen die neu-
en Machthaber, um Tau-
sende politische Gegner,
allen voran kommunisti-
sche Reichstags- und
Landtagsabgeordnete –
rechtswidrig –festzu-
nehmen.
Acht Polizeibeamte er-
greifen Thälmann am
Nachmittag des 3. März in der
Wohnung der Eheleute Kluc-
zynski in der Lützower Straße 9
(heute Alt-Lietzow 11) in Char-
lottenburg. Mindestens fünf
Personen haben ihr Wissen
über die Verbindung Thäl-
mann-Kluczynski an die Polizei
weitergegeben.
Die Umstände der Festnahme
werden Gegenstand parteiin-
terner Untersuchungen: Wa-
rum hat der flüchtige Thäl-
mann wochenlang ein- und die-
selbe Wohnung genutzt und
warum haben Angehörige des
Parteiselbstschutzes die Woh-
nung nicht gesichert?
Es kommt in den folgenden
Jahren wiederholt zu gegensei-

tigen Verdächtigungen mehr
oder weniger beteiligter Perso-
nen, nicht zuletzt durch Desin-
formationsmaßnahmen und
weitere Fahndungserfolge der
Gestapo.
In der Gestapozentrale in der
Niederkirchnerstraße wird

Thälmann mehrfach einer
„Sonderbehandlung“ unterzo-
gen. Bei einem Verhör schlägt
man ihm vier Zähne aus. Nach-
dem öffentlich geworden ist,
dass der prominente Gefangene
misshandelt wird, lässt Hitler
die Folter abbrechen.
Die Nationalsozialisten wol-
len Thälmann vor Gericht stel-
len. Wegen Hochverrats: Der
KPD-Vorsitzende habe einen
Staatsstreich geplant. Das
kommt ihm und auch seinen
Genossen im Exil zupass. Vor
der Weltöffentlichkeit kann er
die Sache des Kommunismus
verteidigen.
Der Anklage aber fehlt es an
Beweisen für Hochverrat. „To-

desstrafe oder lebenslanges
Zuchthaus“, seien „rechtlich
nicht möglich“, stellt der Ver-
treter der Reichsanwaltschaft
fest. Eine geringere Strafe aber
wäre „ein Argument gegen die
Größe der kommunistischen
Gefahr“, befindet das Reichsin-
nenministerium. Statt vor Ge-
richt kommt Thälmann im
Herbst 1935 in Dauer-„Schutz-
haft“. Die KPD hat da bereits ei-
nen neuen Vorsitzenden, ein
Parteitag nahe Moskau einen
Monat zuvor hatte Wilhelm
Pieck gewählt.
Die „Schutzhaft“ erfolgt in
Berlin, Hannover (ab 1937) und
Bautzen (ab 1943). Als „Kom-
fort-Häftling“ darf Thälmann
Besuch von seiner Frau emp-
fangen, Zeitungen lesen und
Briefe schreiben. Er verfasst 24
Briefe an Stalin. Jeden bringt
seine Frau zur Sowjetischen
Botschaft in Berlin. Die nimmt
erst den 14. Brief entgegen, mit
der Begründung, die Hand-
schrift prüfen zu lassen; es kön-
ne ja sein, dass der Verfasser
nicht der ist, der er vorgibt zu
sein. Schließlich gelangen alle
Briefe auf Stalins Schreibtisch.
Als er im März 1940 immer
noch keine Antwort erhalten
hat, schreibt Thälmann, wie
immer ergebenst: „Von dem ak-
tiven Eingreifen meiner russi-
schen Freunde verspreche ich
mir den einzig und allein aus-

schlaggebendenErfolg zu mei-
ner baldigen Freilassung.“ Und:
„Für mich ist heute schon klar,
daß die Sowjet-Union diese
meine neue Heimat sein wird
(...) Also denkt an Euren tapfe-
ren Kämpfer und unbeugsamen
Revolutionär, der ungebrochen
und standhaft an der heiligen
Idee des Kommunismus fest-
hält und der seine revolutionä-
re Pflicht auch hier im Kerker
erfüllt (...).“
Nicht ein Brief wird beant-
wortet.
Anfangder1990er-Jahrewer-
den ThälmannsBriefe inStalins
persönlichem Archiv gefunden.
Einer davon trägt seine hand-
schriftliche Notiz: „Ablage!“
Für Stalin war jeder, der in
des Gegners Hände fiel, ein
Feind. Das galt sogar für seinen
Sohn Jakow, der im Juli 1941 in
deutsche Kriegsgefangenschaft
geriet–und im April 1943 im
KZ Sachsenhausen umkam. Ab-
gesehen davon, dass Stalin
leugnete, sein Sohn sei gefan-
gen genommen worden, befand
er grundsätzlich: Hitler habe
keine russischen Gefangenen,
er habe „nur russische Verräter,
und die werden wir erledigen,
wenn der Krieg vorbei ist“.
Auch Ernst Thälmann war
demnach ein –wenngleich
deutscher–Verräter.
Als unbeugsamer Kommunist
zeigte sich Thälmann in seinen

Briefen an Stalin, auch deshalb,
um seine Hoffnung auf Befrei-
ung mit dessen Hilfe am Leben
zu erhalten, zumindest bis zum
Überfall Hitlers auf die Sowjet-
union im Juni 1941. Es gibt aber
auch Überlieferungen, denen
zufolge er sich verraten fühlte:
Seine Genossen sähen ihn „lie-
ber drinnen als draußen“,
schreibt er 1937, es sei ja „sonst
mit der Propaganda aus“. In der
Durchhalteparole der Partei
„Wir leben in einer Zeit, in der
Deine Stimme aus der Haft ge-
brauchtwird“findeterwenig
Tröstliches: „Warum seid ihr
solche Scheißkerle und lasst
mich hier sitzen?“
Ein Thälmann-Befreiungsko-
mitee der Komintern nutzt sei-
ne Gefangenschaft, um die
braune Unrechtsjustiz vor der
Weltöffentlichkeit anzupran-
gern. Für seine Freilassung un-
ternimmt es nichts, wie Walter
Ulbricht, der die Exil-KPD de
facto führt, zufrieden feststellt.
Thälmanns Angehörige erfah-
ren nach dem Krieg, dass Ul-
bricht alle ihre Bitten, sich für
die Befreiung einzusetzen,
ignorierte.
Lange bewahrt seine interna-
tionale Popularität Thälmann
davor, hingerichtet zu werden.
Aber, so schreibt er im Januar
1944: Im Falle einer Niederlage
Nazideutschlands werde „das
Hitlerregime (...) nicht davor

zurückschrecken“, ihn „für im-
mer zu erledigen“.
Die Niederlage zeichnet sich
längst ab. Dazu verüben deut-
sche Militärs am 20. Juli 1944
ein Attentat auf Hitler. Es
schlägt fehl. Dreieinhalb Wo-
chen später, am 14. Au-
gust, tritt Heinrich
Himmler, Reichsinnen-
minister, Reichsführer
SS und Chef der Deut-
schen Polizei, bei Hitler
zum Rapport an. Er
schreibt auf seinen No-
tizzettel unter Punkt 12:
„Thälmann. Ist zu exe-
kutieren.“
Zeitpunkt und Um-
stände der Ermordung
Thälmanns sind noch
heute nicht eindeutig ge-
klärt. Es heißt, zwei Ge-
stapo-Beamte hätten ihn
am 17. August 1944 aus
dem Zuchthaus Bautzen
ins KZ Buchenwald gebracht;
er sei dort in der Nacht zum 18.,
kurz nach Mitternacht, er-
schossen, seine Leiche sofort
verbrannt worden.
Eine andere Version besagt,
er sei erst vier oder fünf Tage
nach der Bombardierung des
Lagers am 24. August zusam-
men mit neun anderen Kom-
munisten getötet worden.
Eine dritte hält es für möglich,
dass er schon in Bautzen umge-
bracht wurde.

Der„Völkische Beobachter“,
Parteiorgander NSDAP, ver-
meldet am 16. September wahr-
heitswidrig,Thälmann sei bei
einem alliierten Bombenangriff
auf Buchenwald am 24. August
ums Leben gekommen, zusam-

men mitdemehemaligen Vor-
sitzenden der SPD-Reichstags-
fraktion Rudolf Breitscheid.
Nach Kriegsende kehren Wil-
helm Pieck und Walter Ul-
bricht, Stalins neue Günstlinge,
aus ihrem Exil zurück nach
Deutschland. Als selbst ernann-
te Vollstrecker von Thälmanns

Vermächtnis legitimieren sie
ihren Führungsanspruch und
den der KPD-Nachfolgepartei
SED. Ihren ermordeten Partei-
genossen Teddy, für dessen Be-
freiung sie keinen Finger rühr-
ten, erhebt das Thälmannlied
zum „unsterblichen
Sohn“, der „niemals
gefallen“ sei, zur
„Stimme und Faust
der Nation“.
Die Tragödie des
Ernst Thälmann hat
noch eine bittere
Nachgeschichte. Es
ist die Geschichte
der Suche nach sei-
nen Mördern, eine
Geschichte, die bei-
de deutschen Staa-
ten schreiben und
die fast ein halbes
Jahrhundert lang
ist. Sie nimmt ihren
Anfang in der Straf-
verfolgung von NS-Verbre-
chern, die unterschiedlich ge-
handhabt wurde: Die Bundes-
republik verschleppte Verfah-
ren (oder nahm sie gar nicht
erst auf), die DDR übte daran
scharfe Kritik.
Einer der Hauptverdächtigen
im Mordfall Thälmann war
Erich Gust, SS-Obersturmfüh-
rer, 1942 bis 1944 zweiter
Schutzhaftlagerführer im KZ
Buchenwald, ab 1944 Rapport-
führer. Die United Nations War

Crimes Commission führte
Gust ab 1946 auf der Liste ge-
suchter Kriegsverbrecher, das
Amtsgericht Weimar erließ
1948 Haftbefehl gegen ihn, die
Bundesrepublik nahm ihn 1959
auf die Fahndungsliste.
Als Franz Griese war Erich
Gust untergetaucht. Mit seiner
Ehefrau betrieb er ab 1966 das
Lokal „Heimathof“ in Melle
(Niedersachsen). Die Staatssi-
cherheit der DDR kam Gust
spätestens 1968 auf die Spur –
und behielt ihr Wissen für sich.
Ost-Berlin warf Bonn statt-
dessen vor, im Fall Gust nicht
energisch genug ermitteln zu
lassen. Hintergrund: Die Stasi
wollte Gust für „operative Zwe-
cke“ nutzen. Bekannte Bonner
Politiker und Mitarbeiter des
Justizministeriums verkehrten
in seinem Lokal; dieser „Skan-
dal“ in Sachen Strafverfolgung
von NS-Verbrechern sollte zu
gegebener Zeit der Weltöffent-
lichkeit präsentiert werden–es
ist dazu aus unbekannten Grün-
den nie gekommen.
Erst im November 1992 wur-
de die Stasi-Aktion bekannt. Da
war Gust bereits ein dreiviertel
Jahr tot. Unbehelligt von der
Justiz soll er eines friedlichen
Todes gestorben sein.
Ein friedlicher Tod–Ernst
Thälmann war er nicht ver-
gönnt.
Michael Brettin

FürStalinist


jeder,derin


dieHändedes


Gegnersfällt,


einFeind.


Ernst Thälmann,
hier bei einer
Kundgebung in
Leipzig 1932,
warein glühender
Verehrer Stalins.
Er hoffte nach
seinerFestnahme,
mit dessen Hilfe
freizukommen.

Stalin, hier bei
einerFeier
zu seinem 70.
Geburtstag 1949,
rührtekeinen
Finger für
Thälmanns
Freilassung.Das
galt auch für den
Mann neben ihm:
Walter Ulbricht.

Porträts Ernst Thälmanns zierten
mehrereBriefmarken in der DDR.
Diese wurdeanlässlich seines 70.
Geburtstages 1956 herausgegeben.
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