Die Welt Kompakt - 19.08.2019

(Steven Felgate) #1
WIRTSCHAFT MONTAG,19.AUGUST2019 SEITE 10

D


er Mann auf dem
Parkplatz regt sich
auf. „Unverschämt-
heit! Jedes Mal dasselbe!“, me-
ckert er. Als Unternehmer sei
er auf Kundschaft angewiesen
und ärgere sich, weil seine
Parkplätze zugestellt seien.
„Aber dank ,Park & Collect‘ ist
jetzt Schluss damit!“, sagt er,
zieht sein Handy aus der Ta-
sche und fotografiert kalt lä-
chelnd einen offenbar regel-
widrig abgestellten weißen
BMW. „Jetzt mit der App mel-
den und 40 Euro kassieren!“

VON STEFFEN FRÜNDT

Das schräge Werbevideo,
das neuerdings durch die so-
zialen Medien geistert, wirkt
wie Satire. Doch es ist wohl
ernst gemeint. Das Unterneh-
men AppGrade aus Köln, das
hinter „Park & Collect“ steht
und ansonsten auf Rechtsan-
waltssoftware spezialisiert ist,
vermarktet so eine App, die es
jedem privaten Parkplatzbe-
sitzer ermöglichen soll, in ei-
gener Sache den Polizisten zu
spielen und Falschparker auf-
zuschreiben. Eine an sich ho-
heitliche Aufgabe, die aber of-
fenbar nach Ansicht des An-
bieters auf privaten Flächen
auch von Privatleuten wahr-
genommen werden darf.
Die Höhe des Bußgelds dür-
fen die selbst ernannten Poli-
tessen praktischerweise selbst
bestimmen. Der Anbieter
überweist die Summe dann in
voller Höhe an den „Melder“
zurück, sobald der Falschpar-
ker den „Schaden“ plus Kos-
ten für Rechtsverfolgung und
Halterermittlung beglichen
hat. Insgesamt können für ihn
schnell 100 Euro zusammen-
kommen. Irgendwo da dürfte
auch das Geschäftsmodell des
Anbieters der für den Nutzer
kostenlosen Software liegen.

Falschparker


für Geld


verpfeifen


Neue App für
Freizeit-Polizisten

J


e mehr sich die konjunk-
turellen Aussichten in
Deutschland eintrüben,
desto lauter werden die
Stimmen, die der Politik raten,
wieder Schulden zu machen. Der
Spielraum sei dank der konse-
quenten Haushaltskonsolidie-
rung der vergangenen Jahre vor-
handen, argumentieren die Be-
fürworter einer neuer Kreditauf-
nahme im In- und Ausland. Selbst
der Bundesverband der Deut-
schen Industrie (BDI) mahnte
jüngst: „Finanzpolitisch muss
Deutschland jetzt umschalten.“

VON DOROTHEA SIEMS

Doch so solide, wie es auf den
ersten Blick scheint, sind die
Staatsfinanzen gar nicht. Und die
Annahme, die Politik könnte es
mit dem Sparen übertreiben, hält
einer Überprüfung nicht stand.
Zwar glänzt Deutschland beim
Abbau der offiziell ausgewiese-
nen Schulden, die derzeit nur
noch knapp über der nach dem
EU-Stabilitätspakt zulässigen
Höhe von 60 Prozent des Brut-
toinlandprodukts (BIP) liegen.
Doch in den Sozialkassen ver-
stecken sich Verbindlichkeiten,
die gewaltig sind. Zumal Deutsch-
land die zurückliegenden guten
Jahre nicht dafür genutzt hat, um
die langfristige Tragfähigkeit der
öffentlichen Finanzen nachhaltig
zu verbessern. Im Gegenteil: Mit
neuen Sozialversprechen wie der
Mütterrente oder verbesserten
Pflegeleistungen sind sogar wei-
tere Lasten für die künftigen Ge-
nerationen hinzugekommen.
Trotz der schwarzen Null im Bun-
deshaushalt gilt deshalb weiter-
hin, dass weder die öffentlichen
Finanzennoch die Sozialsysteme
demografiefest gestaltet sind.
Wie groß das langfristige Fi-
nanzproblem ist, wird derzeit
von Experten im Auftrag des
Bundesfinanzministeriums aus-
gelotet. Einmal in der Legislatur-
periode muss die Regierung ei-
nen Bericht zur Tragfähigkeit der
öffentlichen Finanzen vorlegen.
Der letzte wurde im Frühjahr
2016 vom damaligen Finanzmi-
nister Wolfgang Schäuble (CDU)
präsentiert – und enthielt eine
schockierende Botschaft: Bis zum

Jahr 2060 könnte die Staatsver-
schuldung in einem pessimisti-
schen Szenario bis auf 220 Pro-
zent in die Höhe klettern und
Deutschland dann noch weit
schlechter dastehen, als dies
Griechenland oder Italien heute
tun. Selbst unter günstigsten An-
nahmen kam der Finanzwis-
senschaftler Martin Werding von
der Ruhr-Universität Bochum in
seinen damaligen Modellrech-
nungen für das Ministerium noch
auf einen Anstieg der Schulden-
standsquote auf 76 Prozent. Auch
das ist mehr, als die EU-Regelun-
gen erlauben.
Diese Berechnungen sind keine
Prognose, sondern zeigen viel-
mehr den Handlungsbedarf auf –
und der ist gewaltig. „Ohne früh-
zeitiges Gegensteuern wächst die
Gefahr, dass der demografische
Prozess zu steigenden öffentli-
chen Finanzierungsdefiziten so-
wie einer nicht tragfähigen Schul-
denentwicklung führt“, lautete
denn auch das Fazit des Tragfä-
higkeitsberichts.
Seit 2016 hat sich einiges ver-
ändert. Die starke Zuwanderung
ließ die Bevölkerung wachsen.
Die Beschäftigung erreichte Re-
kordniveau. Und die ultralockere
Geldpolitik der Europäischen
Zentralbank drückte das Zinsni-
veau in den negativen Bereich. All
diese Entwicklung haben sowohl
kurzfristig als auch auf lange
Sicht Auswirkungen auf den
Staatshaushalt.
„Mit Blick auf die Entwicklung
der Tragfähigkeit der öffentli-
chen Finanzen gibt es insgesamt
ein gemischtes Bild“, sagt Fi-
nanzexperte Werding. Als große
Erfolgsgeschichte habe sich die
im Grundgesetz verankerte
Schuldenbremse erwiesen, die
2009 auf dem Höhepunkt der Fi-
nanzkrise von Bundestag und
Bundesrat mit Zwei-Drittel-
Mehrheit beschlossen wurde.
Nicht nur der Bund, sondern
auch der Staatshaushalt insge-
samt (also Bund, Länder, Kom-
munen und Sozialversicherun-
gen) verzeichneten in den ver-
gangenen Jahren Überschüsse.

gen) verzeichneten in den ver-
gangenen Jahren Überschüsse.

gen) verzeichneten in den ver-

Dies habe aber nicht nur allein an
Einsparungen gelegen, sagt der
Ökonom. „Die jahrelangen Über-
schüsse waren vielmehr ein

‚Windfall‘ des Beschäftigungs-
booms und des Niedrigzinses.“
Ein glücklicher Nebeneffekt
der allgemeinen Wirtschaftslage:
Rekordsteuereinnahmen bei
gleichzeitig sinkenden Zinslasten
machten es der Bundesregierung

möglich, trotz steigender Ausga-
ben seinen Schuldenberg zu ver-
ringern: von 1,069 Billionen Euro
im Jahr 2014 auf den aktuellen
Stand von 1,021 Billionen Euro.
Trotz dieses Fortschritts bei
der Haushaltskonsolidierung

Preise in Euroje 100 Liter bei Kauf
von 3000 Litern einschließlich
1 9Prozent Mehrwertsteuer
Stadt Diese Woche VVVorwocheorwoche
Berlin 6 8,60-71,30 6 6,20-69,
Hamburg 6 5,55-72,65 6 3,80-69,
Hannover 6 6,75-74,95 6 4,95-73,
Düsseldorf 6 7,45-73,55 6 6,50-71,
Frankfurt/M. 6 9,75-79,10 6 7,45-76,
Karlsruhe 7 0,50-77,75 6 8,70-72,
Stuttgart 7 3,90-77,85 7 0,60-73,
München 7 4,95-76,06 7 0,05-70,
Rostock 6 6,05-73,05 6 4,40-71,
Leipzig^6 6,50-73,70^6 5,20-71,
Bei höherer Abnahmemenge
sind Preisnachlässe möglich.
Quelle: Energie Informationsdienst

Heizöl-Preise aktuell


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Versteckte Schulden

Quelle: Stiftung Marktwirtschaft

Explizite und implizite Staatsschuld ����, in Prozent des BIP

Explizite Staatsschuld
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Insgesamt
���,� % bzw. �,� Bio. Euro

Projektion*








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Staatsschulden

*����–�� (gemäß Stabilitätsprogramm ��/��). Quelle: Bundesfinanzministerium

in Prozent des BIP

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Maastricht-SchuldenstandsgrenzeMaastricht-Schuldenstandsgrenze ��¼

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Erdrückende Beitragslast

Quelle: Bertelsmann Stiftung

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Durchschnittliche Beitragssätze der Sozialversicherungen
während der aktiven Lebensphase in Prozent ��,�

Geburtsjahrgänge

Die Mär


vom soliden


Haushalt


Forderungen nach neuen Schulden werden


laut. Doch die Haushaltslage täuscht:


Im Wahrheit hat Deutschland ein


Finanzierungsproblem in Billionenhöhe

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