Die Welt Kompakt - 19.08.2019

(Steven Felgate) #1

DIE WELIE WELIE WELTKOMPAKTTKOMPAKT MONTAG,19.AUGUST2019 FORUM 15


I


n Großbritannien plant der Pre-
mierminister einen Staatsstreich.
WWWeil sich das Parlament gegeneil sich das Parlament gegen
einen ungeregelten Brexit aus-
gesprochen und sich das letzte
WWWort bei jedem Deal vorbehalten hat,ort bei jedem Deal vorbehalten hat,
will Boris Johnson am Souverän vorbei
einen „No Deal Brexit“ zum 31. Oktober
erzwingen – denn in Großbritannien ist
das Parlament der Souverän, nicht wie
in Deutschland das Staatsvolk.
Die Details seines Plans sind noch
unklar; klar ist jedoch Johnsons Ideo-
logie. Er beruft sich auf einen – angeb-
lich im Referendum vor drei Jahren
geäußerten – „Volkswillen“, dem er
gegen die Volksvertretung zum Sieg
verhelfen will. Kein Wunder, dass der
„Economist“ (das Leib- und Magenblatt
der britischen Wirtschaftselite) befand,
unter „BoJo“ und seiner Clique habe
die Konservative Partei ihren Hausphi-
losophen ausgewechselt: Statt Edmund
Burke, den Verteidiger der Institutio-
nen, würden die Tories nun den Revo-
lutionär Jean-Jacques Rousseau ver-
ehren. Rousseau war der Meinung,
niemand dürfe sich der „volonté géné-
rale“ entgegenstellen. Seine Schüler
waren die Jakobiner.
AAAus politischen Gegnern werden inus politischen Gegnern werden in
der illiberalen BoJo-Demokratie „Feinde
des Volkes“. Es ist kaum absehbar, wo-
hin diese britische Form des Trumpis-
mus führen könnte: Vielleicht zum
Zerfall des Königreichs, zur Abspaltung
Nordirlands und Schottlands, vielleicht
aaaber zu einer Rebellion des Parlamentsber zu einer Rebellion des Parlaments
wie schon 1642 und 1688. Nicht zufällig
steht vor dem Unterhaus ein Standbild
Oliver Cromwells, der im Bürgerkrieg
die Armee des Parlaments zum Sieg
üüüber den König führte.ber den König führte.
In die Rolle eines heutigen Crom-
wells fantasiert sich schon Labour-
Führer Jeremy Corbyn hinein. Er bietet
sich der Mehrheit des Parlaments, die
gegen den No Deal ist, als Premier-
minister einer überparteilichen Not-
regierung an, wenn sie mit einem Miss-
trauensvotum Johnson stürzt. Corbyn
will eine Verlängerung der Austrittsfrist
mit Brüssel aushandeln, ein zweites
Referendum über den EU-Austritt orga-
nisieren und Neuwahlen ansetzen.
Nicht wenige in Europa hoffen, dass
damit der Spuk des Brexit gebannt
werden könnte.
Freilich ist eine Revolution des Par-
laments kaum besser als ein Staats-
streich des Premiers. Es ist keineswegs
sicher, dass eine Mehrheit des Par-
laments überhaupt das Recht hätte, den


Premier abzusetzen und eine neue Re-
gierung zu bilden. Manche Gedanken-
spieler bringen schon die Königin ins
Spiel, die der Rebellion des Anti-Monar-
chisten Corbyn Legitimität verleihen
soll. Das zeigt nur, wie sehr der Par-
lamentarismus im Land seiner Erfin-
dung auf den Hund gekommen ist.
In Wahrheit hat jedoch Corbyn keine
Chance. Und das ist auch gut so. Der
Mann ist ein Linker alter Schule, der
mit dem Kapitalismus und der Globali-
sierung ebenso fremdelt wie mit der
Europäischen Union und der Nato.
Seine Sympathien gelten seit jeher anti-
imperialistischen „Befreiungsbewegun-
gen“ einschließlich einiger gegen Israel
kämpfenden Terrorgruppen. Zu seinem
kruden Weltbild passt ein kaum ver-
hüllter Antisemitismus, der sich unter
seiner Ägide in der Labour-Party aus-
gebreitet hat. Parteiinterne Kritiker
werden durch das Corbyn-Rollkom-
mando „Momentum“ mundtot gemacht.
Solange die „Corbynistas“ Labour im
WWWürgegriff haben, gilt: Labour ist wederürgegriff haben, gilt: Labour ist weder
satisfaktions- noch regierungsfähig. No
Deal ist besser als Corbyn. Da jedoch
Corbyn nicht die geringste Chance hat,
rebellisch gesinnte Konservative hinter
sich zu einigen, dient seine Kandidatur
lediglich dazu, seine eigene Partei davon
aaabzuhalten, einen gemäßigten Konser-bzuhalten, einen gemäßigten Konser-
vativen als Übergangspremier zu wäh-
len. Gäbe es Corbyn nicht, müsste John-
son ihn erfinden.
Es ist übrigens keineswegs sicher,
dass ein erneutes Referendum den
Brexit-Gegnern eine Mehrheit beschaf-

Staatsstreich


oder Revolution


Boris Johnson will den No Deal am Parlament


vorbei durchdrücken. Dem stellt sich


Labour-Chef Corbyn entgegen und


bietet sich als alternativer Premier an.


Er hat jedoch keine Chance – zum Glück


ALAN POSENER

LEITARTIKEL


Es droht der Zerfall


des Königreichs,


die Abspaltung


Nordirlands und


Schottlands


fen würde. Und selbst wenn es so wäre,
würden die Brexit-Befürworter mit der
Mär hausieren gehen, die globalistische
Elite in Brüssel und London habe den
im ersten Referendum geäußerten
Volkswillen mit einem „Angstprojekt“
hintertrieben. Die Verbitterung wäre
riesig, die Konservative Partei würde
sich zerlegen, Labour vielleicht auch,
die Rechtspopulisten um Nigel Farage
könnten am Ende die großen Gewinner
sein. Besser wäre es, Großbritannien
verließe die EU ohne Deal. Man mag
einem Boris Johnson den Triumph
zwar nicht gönnen, den gelungenen
Staatsstreich gegen das Parlament
schon gar nicht; aber die Alternativen
sind schlimmer.
Unmittelbar nach dem Austritt dürf-
te Johnson Neuwahlen ansetzen. Sollte
er sie gewinnen, und auch das muss
man angesichts der Alternativen hof-
fen, kann seine Partei daran gehen, die
Beziehungen zur EU zu regeln. Nichts
spricht gegen ein Freihandelsabkom-
men, enge Kooperation im Bereich der
Wissenschaft und der Kriminalitäts-
und Terrorbekämpfung und groß-
zügige Reiseregelungen. Die zu erwar-
tenden wirtschaftlichen Schocks nach
dem Brexit dürften dieser Wieder-
annäherung den Weg ebnen. Mit etwas
gutem Willen lässt sich auch die Ir-
land-Frage regeln.
AAAuf keinen Fall sollte die EU die Bri-uf keinen Fall sollte die EU die Bri-
ten bestrafen wollen. Insbesondere
sollte sie nicht die Unabhängigkeits-
bestrebungen Schottlands oder Nord-
irlands fördern. Verschiedentlich haben
europäische Separatisten – man denke
an die frühere Lega Nord in Italien oder
an die katalanischen Lokalnationalisten


  • mit dem Gedanken gespielt, nach dem
    unseligen Vorbild der Tschechen und
    Slowaken ihren Nationalverbund auf-
    zulösen. Die herkömmlichen Nationen,
    so argumentieren sie, seien im suprana-
    tionalen Zeitalter überflüssig. Die EU
    hat solche Bestrebungen zu Recht nicht
    unterstützt. Das positive Gegenbeispiel
    ist Südtirol, dessen Unabhängigkeits-
    bestrebungen überflüssig wurden, als
    sowohl Italien als auch Österreich dem
    Euro und der Schengenzone beitraten.
    Es gehört eher zur Politik Russlands,
    unbotmäßige Nationen in seiner be-
    anspruchten Einflusssphäre zu zerset-
    zen. Man denke an Georgien und die
    Ukraine. Die EU aber sollte die Natio-
    nen innerhalb der EU wie in ihrer Nach-
    barschaft stärken. Denn entgegen dem
    rechtspopulistischen Narrativ ist die EU
    nicht antinational, sondern eben supra-
    national. Ihr Fundament sind demokra-
    tische Nationen, nicht quasi-unabhängi-
    ge Regionen. Sicher haben die Schotten
    das Recht auf Unabhängigkeit und Bei-
    tritt zur EU, sollten sie sich dafür ent-
    scheiden, und die Nordiren das Recht,
    sich der Republik Irland und damit der
    EU anzuschließen. Aber ein geschwäch-
    tes, gedemütigtes und verbittertes
    Klein-England, in dem die Parteien des
    Ressentiments regieren, wäre für Eu-
    ropa ein Verlust, der durch den Zu-
    gewinn Schottlands und Irlands nicht
    auszugleichen wäre.
    Lassen wir die Briten also gehen.
    Hoffen wir, dass sie zusammenblei-
    ben. Und setzen wir auf die Macht
    der Vernunft, die sie schon einmal
    aus der Splendid Isolation in die
    Arme Europas trieb.
    [email protected]


ǑǑ


KOMMENTAR

MICHAEL STÜRMER

AKK im


Krisenmodus


P


olitik war lange nicht mehr so
ernst und so umstritten. Die
Konflikte, die die arabisch-
islamische Welt zerreißen, die Völker-
wanderungen ausgelöst haben und
eine Willkommenskultur, die nach
der ersten Begeisterung der Deut-
schen einer realistischen Betrach-
tungsweise gewichen ist – diese Kon-
ffflikte sind noch lange nicht zu Ende.likte sind noch lange nicht zu Ende.
Längst stellen sie höchste Anforde-
rungen an das leitende Personal.
Das Drama des Sommers 2015 hat
alle Koordinaten der deutschen Poli-
tik dauerhaft und wahrscheinlich
unumkehrbar verändert. Die gewohn-
te Berechenbarkeit ist ebenso dahin
wie die europäische Führungsfähig-
keit. Es ist nicht nur die Statik der
deutschen Innenpolitik, die nicht
mehr verlässlich ist. Auch der äußere,
globale Rahmen geht aus den Fugen.
In solchen Zeiten sind Nüchternheit
der Analyse und Entschiedenheit des
Handelns durch nichts zu ersetzen.
WWWenn man sie denn hätte. enn man sie denn hätte.
WWWenn jetzt die CDU-Vorsitzendeenn jetzt die CDU-Vorsitzende
andeutet, die Partei könnte dem
fffrüheren Präsidenten des Bundes-rüheren Präsidenten des Bundes-
amtes für Verfassungsschutz, Hans-
Georg Maaßen, die Tür weisen, dann
ist das ein ernstes Symptom nicht
nur für Unduldsamkeit, sondern auch
fffür Konzeptionslosigkeit, was dieür Konzeptionslosigkeit, was die
Zukunft der Union anbelangt, ihre
Koalitionsfähigkeit und ihre poli-
tisch-moralische Gestaltungskraft.
Ist die CDU-Führung dabei, sich –
fffrei nach Bertolt Brecht – eine neuerei nach Bertolt Brecht – eine neue
Partei zu suchen, klein, aber fein? Es
ist noch zu früh, der Union die glei-
che Diagnose auf Schwindsucht zu
geben, welche mehr und mehr die
Sozialdemokratie zum Objekt der
Sorge macht.
Maaßen, man erinnert sich, war bis
zu seinem Rauswurf wegen deutli-
cher Ausspracheund pflichtgemäßer
WWWarnungen geachteter Präsident desarnungen geachteter Präsident des
VVVerfassungsschutzes, Mitglied dererfassungsschutzes, Mitglied der
CDU und früher Warner vor den
VVVölkerwanderungen, die aus denölkerwanderungen, die aus den
Kriegen und Bürgerkriegen des Na-
hen Ostens kommen würden. Jetzt
engagiert er sich im Wahlkampf zu
den Landtagswahlen in Sachsen und
benachbarten Gegenden. Falscher
kann AKK den Termin für inner-
parteilichen Lärm und Kontroverse
kaum wählen. Was immer die Wähler
zu der einen oder anderen Partei
zieht – öffentlicher Streit ist es je-
denfalls nicht.
Im Übrigen wird die Union, wenn
es so weitergeht mit den Prozenten,
nämlich unübersehbar nach unten,
eher früher als später Taktik und
Strategie im Umgang mit Gaulands
„gärigem Haufen“ entwickeln müs-
sen. Um wieder koalitions- und füh-
rungsfähig zu werden, wird der Uni-
on nichts anderes übrig bleiben, als
um die verlorenen Wähler zu wer-
ben. Viel Zeit bleibt nicht.
[email protected]
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