Die Welt Kompakt - 19.08.2019

(Steven Felgate) #1

14 WIRTSCHAFT DIE WELIE WELIE WELTKOMPAKTTKOMPAKT MONTAG,19.AUGUST


D


ie Bilder der Prote-
ste in Hongkong ge-
hen täglich um die
Welt, jeden Abend
liefern sich Demonstranten auf
den Straßen der Küstenmetro-
pole ein Katz-und-Maus-Spiel
mit der Polizei. Die Berichte
aus Hongkong wirken jedoch
nicht wie Aufnahmen eines
Protestes, sondern erinnern
eher an Hollywood-Schlachten
aus dem „Krieg der Sterne“:
Grellbunte Laserstrahlen wi-
schen über den Demonstranten
durch die Luft, konzentrieren
sich auf bestimmte Punkte an
Gebäuden oder Lichtmasten,
die getroffen grün und blau er-
leuchtet werden.


VON BENEDIKT FUEST

Die Proteste in Hongkong
sind die ersten der Welt, bei de-
nen Demonstranten systema-
tisch und flächendeckend Laser
gegen die Sensoren von Über-
wachungskameras einsetzen.
Die Nachrichtenaufnahmen er-
innern daran, warum die Kom-
bination von Überwachungs-
technologie und künstlicher
Intelligenz unter einem autori-
tären Regime eine ungute
Kombination ist.
Weltweit boomt der Ausbau
von Überwachungskameras im
öffentlichen Raum, insbesonde-
re in China steigt die Zahl der
Kameras aktuell stark an. Unter
den 20 Städten weltweit mit
den meisten Überwachungska-
meras sind neben neun chinesi-
schen Millionenmetropolen
auch London, Singapur, Bag-
dad, einige US-Städte und –
noch vor Hongkong – Berlin.
Das ist das Ergebnis einer
Untersuchung des Tech-Jour-
nalismusportals Comparitech,
dass eine Liste der meistüber-
wachten Städte der Welt er-
stellt hat. Die Liste ist nicht
nach der absoluten Anzahl der
Kameras, sondern nach der An-
zahl von Kameras pro 1000 Ein-
wohner gewichtet, weswegen
Berlin mit gut 39.000 Kameras
vor Hongkong mit gesamt über
50.000 Kameras liegt.
Die Kameradichte ist in Chi-
na besonders hoch, da dort die
Regierung seit 2012 den Ausbau
öffentlicher Überwachung for-
ciert hat. So haben die lokalen
Behörden in 660 von 676 gro-
ßen Städten Kameranetzwerke
etabliert. Shanghai kommt mit
knapp drei Millionen bekann-
ten Kameras auf die höchste
Zahl, gefolgt von Shenzhen und
Chongqing.
In Europa ist London die
Stadt mit den meisten Kame-
ras: Über 627.000 künstliche
Augen überwachen die gut
neun Millionen Einwohner des
Großraums London – das
macht 68 Kameras pro 1000
Einwohner. In den USA ist Chi-
cago mit 35.000 Kameras be-
sonders gut überwacht. Das
Auftauchen von Berlin unter
den ersten 20 Städten weltweit
überrascht zunächst. Doch
dann zeigt ein Blick in die Me-
thodik von Comparitech, dass


als Quellen vor allem Listen
von Datenschutzprojekten aus-
gewertet wurden. Aus Daten-
schutzgründen jedoch werden
Kamerastandorte in Deutsch-
land besonders gründlich doku-
mentiert. Knapp die Hälfte der
für Berlin gelisteten Kameras
dürfte allein aus dem Bestand
der Berliner Verkehrsbetriebe
stammen, die jede Kamera in
ihren Fahrzeugen und Bahnhö-
fen dokumentiert haben.
Eine weitere Quelle von
Comparitech ist das Kamera-
kartierungsprojekt „Surveillan-
ce under Surveillance“, das
weltweit Kamerastandorte auf
einer Karte liefert. Dass die Li-
sten von Comparitech oder die
Surveillance-Karte jedoch un-
vollständig sein dürften, zeigt
ein einfacher Blick in die Daten.
Private Kameras werden oft
nur dann erfasst, wenn Daten-
schützer oder Aktivisten sie ge-
sondert eintragen. Deswegen
ist etwa die westfälische Klein-
stadt Paderborn auf dem Papier
mit über 1200 Kameras für gut
140.000 Einwohner eine der
bestüberwachten Städte der
Welt – hier war ein Nutzer
schlicht besonders fleißig. Zu-
dem ist im Jahr 2019 Überwa-
chungskamera nicht mehr
gleich Überwachungskamera:
Die müden Altgeräte, die hier-
zulande mit analogen Schwarz-
Weiß-Sensoren dunkle Ecken in
Parkhäusern überblicken, ha-
ben nichts gemein mit den
Hightech-Systemen, die in Chi-
na, in manchen Städten der
USA, aber auch auf Berliner
Bahnhöfen aufgebaut werden:
Dort koppeln die Behörden
schwenk- und zoombare HD-
Kameras systematisch mit Ge-
sichtserkennungssystemen auf
Basis von künstlicher Intelli-
genz. Die Aufnahmen werden

zentral gesammelt, gespeichert
und ausgewertet, dabei helfen
Algorithmen, die auch hierzu-
lande bereits getestet werden.
Die Bundespolizei probierte
2018 am Bahnhof Berlin-Süd-
kreuz die Technik aus und mel-
dete Ende des Jahres optimi-
stisch positive Erfahrungen. In
China sind die Behörden längst
über das Stadium des Versuchs
hinaus, dort soll per Gesichts-
erkennung künftig Fehlverhal-
ten im öffentlichen Raum Per-
sonen zugeordnet werden. Wer
erkannt wird, dessen Sozialkre-
ditreputation leidet – Rotlicht-
spaziergänger werden öffent-
lich und mit Namen zur Schau
gestellt, Kleinkriminelle syste-
matisch verfolgt, Demonstran-
ten können ihren Job, den Zu-
gang zu Dienstleistungen oder
zu staatlichen Wohlfahrtssyste-
men verlieren. Die Gesichtser-
kennung ermöglicht, automa-
tisch Listen von Versamm-
lungsteilnehmern zu erstellen,

ihre Auftritte und Teilnahmen
an Veranstaltungen über die
Zeit hinweg zu erfassen.
Insbesondere dieser letzte
Aspekt ist es, der die Demon-
stranten in Hongkong zu krea-
tiven Gegenmaßnahmen treibt.
Sie wollen verhindern, dass ihre
Namen mit den Protesten asso-
ziiert werden, und blenden die
Kamerasensoren mit grünen
und blauen Taschenlasern, de-
ren Leistung weit über die ge-
wöhnlicher Laserpointer hin-
ausgeht. Sie tragen uniforme
schwarze Kleidung, um den
Überwachern den Job zu er-
schweren. Sie setzen Regen-
schirme als Sichtblenden ein
oder verfremden ihre Gesichter
mit aufgemalten zweiten Au-
genbrauen. Das Projekt „CV
Dazzle“ listet kreative Make-
ups und Frisuren, die eine Ge-
sichtserkennung fast unmög-
lich machen sollen.
Doch nicht nur in China sind
hochauflösende Kameras auf
dem Vormarsch: In den USA
setzen immer mehr private
Hauseigentümer HD-Kameras
mit Cloud-Anbindung ein, um
ihre Hauseingänge und Grund-
stücke 24 Stunden am Tag von
künstlicher Intelligenz überwa-
chen zu lassen. Die Kameras
von Anbietern wie Googles
Smart-Home-Tochter Nest
oder Amazons Ring streamen
ihre Bilder direkt auf die Cloud-
Server der Konzerne, wo die
Aufnahmen von Gesichtserken-
nungsalgorithmen ausgewertet
werden. Taucht ein fremdes
Gesicht auf, schlagen die Syste-
me Alarm.
Amazon geht mit seinen
Ring-Kameras einen entschei-
denden Schritt weiter: Der
Konzern erlaubt lokalen Poli-
zeibehörden den direkten Zu-
griff auf die Server mit Aufnah-

men aus den privaten Kameras.
Die Behörden können sich im
Falle von Ermittlungen über
Amazons Systeme direkt an die
Nutzer im betroffenen Stra-
ßenzug wenden und um die
Freigabe bitten. Über 200 loka-
le Polizeibehörden nehmen be-
reits an dem Programm teil,
Polizisten verteilen kostenlose
Kameras bei Nachbarschafts-
treffen, manche Städte subven-
tionieren den Einkauf. Amazon
fördert zudem den Verkauf der
Kameras aktiv unter seinen be-
sten Versandkaufkunden, den
Prime-Abonnenten. Der Kon-
zern hofft, damit die Zahl von
auf der Türschwelle gestohle-
nen Paketen zu verringern.
Damit dürfte die Zahl priva-
ter Kameras künftig deutlich
schneller steigen als die öffent-
licher Stellen. Die passenden
Algorithmen zur Auswertung
der Kameras liefert Amazon
ebenfalls: Der Dienst Rekogni-
tion der Cloud-Tochterfirma
AWS verspricht die kostengün-
stige Gesichtsauswertung gro-
ßer Mengen von Videodaten,
pro 1000 verarbeiteten Ge-
sichtsbildern verlangt der Kon-
zern gerade einmal 40 Cent,
Polizeibehörden in den USA be-
richten zudem von Sonderan-
geboten für Ermittler.
Die logische Konsequenz aus
dem Trend zur privaten Kame-
ra haben wiederum die chinesi-
schen Behörden bereits gezo-
gen: Dort sollen die Cloud-Da-
ten sämtlicher privater Kame-
ras ab 2020 direkt durch die Be-
hörden ausgewertet werden,
schreibt die „Washington Post“.
Durch diese Vermischung pri-
vater und öffentlicher Überwa-
chung dürfte für Datenschützer
und Bürgerrechtler der Kampf
gegen die Kameras endgültig
verloren sein.

PA/DPA

/VINCENT THIAN

Mit Laserpointern


täuschen


Demonstranten


in Hongkong die


allgegenwärtigen


Kameras. Das


Überwachungsnetz


ist pro Kopf


nicht dichter als in


westlichen Städten.


Doch es wird


überall enger –


dank Amazon


und Google


Gegen


Massenüberwachung


Demonstranten in Hongkong setzen systematisch Laser ein
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