Die Welt Kompakt - 19.08.2019

(Steven Felgate) #1

DIE WELIE WELIE WELTKOMPAKTTKOMPAKT MONTAG,19.AUGUST2019 POLITIK 9


gar große Teile der Freien Demo-
kraten“ in „einer großen, urbanen
Allerweltspartei“ vereint sind, er-
klärte Rodden in einem Telefon-
gespräch.
Deswegen streiten die Demo-
kraten auch so häufig. Es handelt
sich nicht um eine glückliche Fa-
milie. Die Republikaner wiederum
sind unter Donald Trump zu einer
einwanderungsfeindlichen Partei
geworden, die sich um jene The-
men kümmert, die vielen Men-
schen auf dem Land wichtig sind:
ein Verbot der Abtreibung, keine

Einschränkung des Rechts auf
WWWaffenbesitz.affenbesitz.
Roddens wesentliche Erkennt-
nis ist nun diese: Die Demokraten
befinden sich – weil sie an ganz
wenigen Orten in Amerika kon-
zentriert sind – bei Wahlen struk-
turell immer im Nachteil. Meist
beklagen Demokraten sich in die-
sem Zusammenhang über „Gerry-
mandering“, also Wahlkreisschie-
bung.
Und es ist wahr: Die Republika-
ner haben 2010 ihre Chance ge-
nutzt, die Wahlkreise in Amerika

raffiniert so zuzuschneiden, dass
sie begünstigt werden. Aber das
ist, wie Rodden zeigt, gar nicht das
Hauptproblem. Auch wenn diese
Ungerechtigkeit behoben würde –
aaauch wenn alle Wahlkreise fair unduch wenn alle Wahlkreise fair und
unpersönlich von einem Algorith-
mus kreiert würden – , wären die
Demokraten als Stadtpartei unter-
repräsentiert.
Damit die Demokraten die Hälf-
te der Sitze im Kongress ergattern,
wenn sie 50 Prozent der Stimmen
erhalten haben, müssten sie ihrer-
seits heftigstes „Gerrymandering“

betreiben. Sie müssten die dicht
bevölkerten Innenstädte in ver-
schiedene Wahlkreise zerschnei-
den und mit Vorstädten zusam-
menlegen. Außerdem müssten ih-
re Wahlkreise den Eisenbahnlinien
aaaus dem 19. Jahrhundert folgenus dem 19. Jahrhundert folgen
und historische Arbeiterstädte
miteinander verbinden.
ZZZwei weitere Schiefheiten kom-wei weitere Schiefheiten kom-
men hinzu: das „electoral college“
und der amerikanische Senat. Der
amerikanische Präsident wird
nicht direkt gewählt, sondern von
WWWahlmännern. Das Wahlmänner-ahlmännern. Das Wahlmänner-
system aber begünstigt ganz be-
wwwusst die dünn besiedelten Gebie-usst die dünn besiedelten Gebie-
te in der Mitte Amerikas.
Und im Senat wird jeder Bun-
desstaat von exakt zwei Senatoren
vertreten. Der Bundesstaat Wyo-
ming, in dem weniger Leute leben
als in der Bronx, entsendet also
ebenso viele Senatoren nach Wa-
shington wie Texas.
Dieses Missverhältnis wird im-
mer groteskere Formen anneh-
men. In 20 Jahren wird die Hälfte
der amerikanischen Bevölkerung
in acht Bundesstaaten – und dort
vor allem in urbanen Ballungsge-
bieten – zu Hause sein. Im Senat
aaaber werden Leute den Ton ange-ber werden Leute den Ton ange-
ben, die eine Minderheit der Ame-
rikaner vertreten. Und zwar eine
ländliche Minderheit.
Die Stadt-Land-Aufteilung hat
fatale Folgen: Sie unterminiert
den Glauben an die amerikani-
sche Demokratie. Die Leute in
den Großstädten sehen sich ei-
nem Präsidenten und einem Se-
nat gegenüber, den sie nicht ge-
wählt haben. Wenn es ihnen doch
einmal gelingt, eine „blaue Welle“
auszulösen – wie bei den Kon-
gresswahlen anno 2018 –, dann
fällt diese deutlich kleiner aus, als
es den abgegebenen Wählerstim-
men entspräche.
AAAuf der Ebene der Bundesstaa-uf der Ebene der Bundesstaa-
ten gilt seitenverkehrt dasselbe für
die (republikanische) Landbevöl-
kerung. Die Menschen in Nordka-
lifornien, die nicht an der Küste le-
ben, schreibt Rodden, „sind der-
maßen frustriert von der Regie-
rung des Staates, dass sie sich gern
von den urbanisierten Küstenge-
bieten im Süden abspalten wür-

den“. Und viele Landbewohner im
Bundesstaat Illinois „scheuern
sich an Gesetzen wund, von denen
sie glauben, sie seien von Chicago
diktiert worden“. Amerika zer-
splittert.
Gibt es eine Lösung? Die Verei-
nigten Staaten könnten sich vom
Mehrheitswahlrecht verabschie-
den und ein Verhältniswahlrecht
einführen, wie es in Deutschland
und anderen europäischen Staaten
gilt. Bei einem Verhältniswahl-
recht entspricht die Verteilung der
Sitze im Parlament ziemlich genau
den abgegebenen Stimmen. Und
weil es kein binäres System ist, in
dem der Sieger alles gewinnt und
der Verlierer nichts, haben auch
kleinere Parteien eine Chance.
Die Vereinigten Staaten könn-
ten damit den Fluch des Zweipar-
teiensystemsüberwinden. Es wä-
ren Koalitionen möglich, durch die
Stadt- und Landbewohner ge-
meinsame Interessen entdecken
könnten. Eine linkspopulistische
Partei etwa wäre sowohl für die
ökonomischen Verlierer in den ur-
banen Ballungsgebieten als auch«
an der Peripherie attraktiv.
Der wirtschaftsliberale Flügel
der Republikanischen Partei hätte
aaauch im Silicon Valley echte Chan-uch im Silicon Valley echte Chan-
cen. Konservative Christen gibt es
nicht nur auf dem Land, sondern
aaauch unter den städtischen Im-uch unter den städtischen Im-
migranten aus Lateinamerika.
AAAber natürlich wird nichts vonber natürlich wird nichts von
alldem geschehen, und die Verei-
nigten Staaten werden weiterma-
chen müssen wie bisher. Trotzdem
gibt Rodden sich im Gespräch vor-
sichtig optimistisch: Der Stadt-
Land-Gegensatz, meint er, könnte
schon sein schlimmstes Stadium
erreicht haben.
„„„Vielleicht findet eine der bei-Vielleicht findet eine der bei-
den Parteien heraus, dass sie sich
verändern muss“, sagt er. „Es
scheint so, als habe die Republika-
nische Partei in Zukunft ein demo-
grafisches Problem, vor allem bei
jüngeren Wählern – und weil die
WWWählerschaft in vielen Bundes-ählerschaft in vielen Bundes-
staaten ethnisch bunter wird. Es
könnte also sein, dass die Republi-
kanische Partei begreift, dass sie
aaauch Wähler in urbanen Ballungs-uch Wähler in urbanen Ballungs-
gebieten ansprechen muss.“

GETTY IMAGES

/ RALPH FRESO

Sogar Traktoren würden Trump wählen: Ein Plakat in der
KKKleinstadt Cave Creek, Arizonaleinstadt Cave Creek, Arizona

wie beim Abzug der Briten 1997
für ein halbes Jahrhundert ver-
einbart. Das bedeutet auch demo-
kratische Grundrechte wie Ver-
sammlungs-, Presse- und Mei-
nungsfreiheit. Die Hoffnung, dass
sich die Volksrepublik wie Hong-
kong entwickeln würde, hat sich
allerdings nicht erfüllt. Vielmehr
ist es umgekehrt gekommen. In
Hongkong sind sich viele nicht
mehr sicher, ob es wirklich noch
28 Jahre dauern wird, bis sie kom-
plett zur Volksrepublik gehören.
Einige fordern deshalb jetzt sogar
die Unabhängigkeit: einen eige-
nen Stadtstaat, so wie Singapur.
In den Protestmärschen sind
nun auch schwarze Gestalten un-
terwegs, ganz vermummt und

auch bereit, Krawall zu machen.
Die Grundausrüstung dafür gibt
es am Straßenrand für etwa 20
Euro zu kaufen: Gasmaske,
Schutzbrille und Helm. Einer der
radikalen jungen Männer, der
sich Howard nennt, sagt: „Wir ha-
ben mit der Gewalt nicht ange-
fangen. Das war die Regierung.
Wir wehren uns nur. Vielleicht ist
das unser letzter Kampf.“
Im Unterschied zu vielen frühe-
ren Tagen blieben Krawalle bis
Sonntagabend (Ortszeit) jedoch
aaaus. Die städtische Polizei setzteus. Die städtische Polizei setzte
erstmals seit längerer Zeit auch
kein Tränengas ein – auch nicht,
als mehrere Hundert vermummte
Demonstranten sie mit Laserpoin-
tern provozierten. Für die Behaup-

tung, dass auf einer Pro-China-
KKKundgebung 108.000 Leute gewe-undgebung 108.000 Leute gewe-
sen seien, erntete die Polizei aller-
dings großen Spott. Es waren wohl
ein paar Tausend, mehr nicht.
Der Rentner Kem Kw sieht den
Kundgebungen nur vom Bürger-
steig aus zu. „Meine Kinder und
meine Enkelkinder marschieren
mit“, sagt der 65-jährige. „Aber
für mich ist das nichts. Wir gehö-
ren zu China.“ Der ehemalige In-
genieur sorgt sich, dass in nicht
allzu ferner Zeit doch die Volks-
befreiungsarmee zum Einsatz
kommen könnte. „Wenn die Leu-
te immer lauter nach Unabhän-
gigkeit rufen, werden wir am En-
de überhaupt nichts mehr von
unseren Freiheiten haben.“

Die Furcht vor einer blutigen
Niederschlagung der Proteste
wie 1989 am Platz des Himmli-
schen Friedens in Peking ist
nicht übertrieben groß. Aber die
Leute reden darüber schon –
wohl wissend, dass Peking sich
so etwas kurz vor den Feiern
zum 70-jährigen Bestehen der
Volksrepublik eigentlich nicht
leisten kann. Interessant wird
nun, wie sich in der Finanz- und
Wirtschaftsmetropole die Hono-
ratioren verhalten. Auch das ist
noch nicht klar. Der reichste
Mann der Stadt, Li Ka-shing (91),
schaltete dieser Tage zwei Anzei-
gen. In einer davon war das chi-
nesische Zeichen für Gewalt mit
einem Kreuz durchgestrichen.

Die andere bestand aus einer
einzigen Zeile eines 1300 Jahre
alten Gedichts: „Die Melone von
Huangtai kann nicht noch eine
Ernte ertragen.“ Jetzt rätseln al-
le, was der Immobilienmilliardär
damit meint. Manche sind der
Ansicht, dass Li zum Ausdruck
bringen wollte, dass die Leute in
Hongkong nicht noch mehr
drangsaliert werden dürften. An-
dere sehen darin eine Mahnung,
dass jedes weitere Aufbegehren
Peking zu sehr herausfordern
könnte. Hongkongs wichtigste
Zeitung „South China Morning
Post“ sprach von einem „Meis-
terstück der Doppeldeutigkeit“.
Das hat in China Tradition und
in Hongkong auch. dpa

Einwohnern neue Rätsel auf

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