MEDIAPLAYER
von alex rühle
M
an muss schon Mut haben, wenn
man sich für ein Drehbuchstudi-
um in München bewirbt ohne zu
dem Zeitpunkt wirklich Deutsch zu kön-
nen. Gleichzeitig drängt sich in solch ei-
nem Fall ja noch mehr die Frage auf: War-
um ausgerechnet München? Warum nicht
Berlin, Paris oder London?
„Weil es hier losging nach dem Krieg.“
Ganna Madiar sitzt vor einem Cafe im
Münchner Lehel und sagt durchs Geläut
der St. Annakirche, dass sie aus der Ferne
beeindruckt war vom neuen deutschen
Film. Sie hat in Kiew schon ein Studium ab-
solviert, in Filmdramaturgie. Das reichte
ihr am Ende nicht, war zu theoretisch, zu
wenig Handwerk. Also los, auf in die Praxis
des Schreibens: Wie erzählt man eine Ge-
schichte mit bewegten Bildern? Sie wollte
unbedingt genau hierher, an die Hochschu-
le für Fernsehen und Film, die HFF, an den
Ort, wo aus den Nachkriegsruinen ein neu-
es, formal mutiges Erzählen erwuchs. „Ich
dachte, wenn die schon mal so einen Durch-
bruch geschafft haben, dann ist das das
Land, wo es auch heute möglich sein muss,
ganz neu anzufangen.“
Man hört an ihrem Akzent, dass sie aus
Osteuropa kommt, schwere Konsonanten,
an jedem ihrer Worte scheint ein bisschen
feuchte Erde zu kleben, dazu aber ein
schlagfertiger Witz und eine Art erfah-
rungsgesättigte, ruhige Grundskepsis.
Madiar kam 2014 als Gaststudentin,
„schließlich mussten die Dozentinnen und
Dozenten ja erst mal schauen, ob ich über-
haupt in der Lage bin, auf deutsch zu arbei-
ten.“ War sie wohl, sie hat soeben ihr Studi-
um beendet, nach neun Semestern. Mit ei-
nem Drehbuch über eine junge Frau, die ei-
ne Maschine baut, mit der man die zehn
glücklichsten Minuten seines Lebens wie-
dererleben kann. Das Porträt einer leiden-
schaftlichen Wissenschaftlerin. „Es heißt
ja, man schreibe immer über sich selber“,
sagt Madiar. „Ich hab das immer ge-
leugnet, aber schlussendlich hab ich eine
Figur geschaffen, die meinem Charakter
sehr nahe ist, weil sie für eine Sache brennt
und versucht, die anderen mithilfe ihrer
Wissenschaft glücklich zu machen.“
Ganna Madiar sagt im Verlauf des Ge-
sprächs mehrmals, dass sie Glück hatte.
Zum einen, weil sie hier in München gelan-
det ist. Zum anderen aber auch, „weil wir
gerade in einem goldenen Zeitalter für
Drehbuchautoren leben“.
Goldenes Zeitalter? Letztes Jahr haben
200 deutsche Drehbuchautorinnen und
-autoren den „Kontrakt 18“ unterzeichnet,
weil sie sich in ihrem Beruf rechtelos, ver-
achtet, unterbezahlt, übergangen fühlen.
Sie forderten mehr Mitsprache, eine besse-
re Einhaltung der Urheberrechte.
Wenn man die Diskussion um diese Pro-
testinitiative verfolgte, konnte man den
Eindruck gewinnen, Drehbuchautorinnen
und -autoren stünden rechtlich ungefähr
auf einer Stufe mit Minenarbeitern in ir-
gendeinem Entwicklungsland, zu dem seit
Jahren keine NGO Zugang hatte. Und jetzt
ruft diese 28-jährige Studentin aus Kiew
das goldene Zeitalter für Drehbuchauto-
ren aus?
Ja klar, sagt Madiar. Durch die Strea-
mingdienste sei so unendlich viel möglich
geworden, „eine viel größere Formen-
vielfalt, man wird zu mutigen Projekten
geradezu animiert, die Aufbruchsstim-
mung ist mit Händen zu greifen. Früher
hieß es: Serie oder Soap, und die einzige Ab-
spielplattform waren die Öffentlich-recht-
lichen. Heute kann man rumprobieren wie
wild.“
Da sie von ihren Schreibseminaren bei
Robert Krause und Florian Pucher
schwärmt, und weil die beiden Autoren
und Dozenten auch seit sechs Jahren diese
Seminare anbieten und jahrzehntelange
Praxiserfahrung haben, kann man sie ja
mal fragen, ob sie Madiars Einschätzung
für eine steile Einzelmeinung oder eine zu-
treffende Diagnose halten.
Pucher antwortet in einer Mail, er habe
früher auf die Stoffauswahl der Studenten
„mit einem weinenden und einem lachen-
den Auge geblickt: 90 Prozent der Studen-
ten haben ambitionierte Kinostoffe entwi-
ckelt – und konnten sich als Autoren auch
nur dort sehen, während bei den arbeiten-
den Drehbuchautoren die reale Arbeitssi-
tuation das genaue Gegenteil abbildete:
Mindestens 90 Prozent der Aufträge ka-
men aus dem TV. Darüberhinaus waren vie-
le Stoffe selbst für den deutschen Kino-
markt eigentlich undenkbar.“ Seit drei bis
vier Jahren gerate aber alles ins Fließen:
„Der Einbruch der Streamer, die Reaktion
der etablierten Sender, die plötzliche Pro-
duktionswut der Pay-TV Sender – all das
hat den Markt zwar noch nicht grundsätz-
lich umgekrempelt. Aber es hat dennoch
ganz neue Möglichkeiten der Stoffentwick-
lung aufgemacht. Auf einmal werden origi-
nelle Stoffe mit einer eigenen Stimme ge-
sucht, um Kontrastpunkte gegen das klas-
sische Fernsehprogramm zu setzen. Und
selbst die etablierten Sender reagieren mit
Experimenten.“
Madiar hatte ihr Abschlussdrehbuch zu-
nächst konventionell angelegt, eine Ge-
schichte, in einem Altersheim, angelehnt
an Erfahrungen einer Freundin in diesem
Job. Dann kam sie in das Seminar von Pu-
cher und Robert Krause: 23 Tage um ein be-
stehendes Drehbuch umschreiben. „Das
ist extrem schmerzhaft und großartig“,
sagt Madiar. „Die beiden sind handwerk-
lich wahnsinnig gut, weil sie wissen, wie
man ein Publikum unterhält, ohne es für
blöd zu verkaufen.“ Jetzt ist ihr Drehbuch
ein witzig-wilder Mix aus Science-Fiction,
pathetischem Drama, grotesker Komödie.
Pucher schreibt, es sei deutlich zu spü-
ren, wie sich die neue Situation auf die
Stimmung an der HFF auswirke, weil plötz-
lich die „berechtigte Hoffnung“ der Studen-
ten da sei, „das zu schreiben, an das sie
wirklich glauben. Ihrer Stimme zu folgen
und diese dabei zu entwickeln – statt von
Anfang an damit gegen Mauern zu laufen.
Außerdem gibt es nun wieder Märkte, die
an ein jüngeres Publikum adressiert sind
und nach jungen Erzählstimmen suchen.“
Madiar sagt, das mit dem Suchen sei ge-
nau das Hauptproblem momentan: „Stän-
dig heißt es, Netflix suche händeringend
neue junge Autoren. Naja gut, hier bin ich.“
Sie breitet ihre Arme in Richtung Sankt-An-
na-Platz aus, auf dem eine alte Frau ihr
quietschendes Einkaufswägelchen hinter
sich herzieht.
Der zweite Name, der fällt, wenn man
Madiar nach prägenden Lehrern fragt: Do-
ris Dörrie, die das Creative Writing an der
HFF leitet. „Dörrie hat mir beigebracht, je-
den Morgen aufzustehen und sofort nach
dem Aufstehen zu schreiben, meine soge-
nannten Morgenseiten. Das mache ich bis
heute. Sollte ich mal zu verhungern dro-
hen, könnte man das wunderbar als sehr
schlechten Roman verkaufen.“
Dörrie, die ja auch schon eine Weile Dreh-
buchstudentinnen und -studenten unter-
richtet, schreibt, auf die Frage, ob sich et-
was geändert habe in den letzten Jahren:
„Sie sind nüchterner, berufsbezogener, for-
matbewusster als früher. Sie wissen, dass
für Autor*innen speziell von Serien eine gu-
te Zeit angebrochen ist, und wir sind des-
halb eine besonders erfolgreiche Abtei-
lung innerhalb der HFF. An vielen Serien
sind unsere Student*innen beteiligt. Im Ki-
nobereich sieht es da deutlich schwieriger
aus, Originalstoffe haben da immer weni-
ger Chancen. Gleichzeitig beobachte ich ei-
ne größere Zukunftsangst, dem Markt
nicht zu entsprechen, keine Langzeitjobs
zu finden, nicht zu landen. Eine schwierige
Balance, denn für die großen Streaming-
dienste zu schreiben, ist einerseits ein
Traum, andererseits auch schnell eine Art
Versklavung. Das Spielerische beizubehal-
ten, ein bisschen Punk und Anarchie, wird
immer schwieriger.“ Ganna Madiar wirkt
wie ein ruhiger Punk. Dazu passen die
schwarzen Klamotten.
Als sie nach Deutschland kam, wollte sie
unbedingt fürs Kino schreiben. Jetzt
schaut sie leidenschaftlich gern Serien. Die-
se Vielfalt, dieser Mut! „,Breaking Bad‘ –
vor zehn Jahren undenkbar, dass man so ei-
nem Typen einfach beim Leben zuschaut.
Oder ,Sherlock Holmes‘ mit Cumberbatch.
Visuell extrem ansprechend. Aber auch die-
ser schräge, soziopathische Charakter. Ei-
ne derart heilige Figur auf diese Art neu zu
erzählen...“
Das Beste momentan ist in ihren Augen
aber „Tschernobyl“, eine HBO-Serie, die in
Deutschland auf Sky ausgestrahlt wird.
Die sei handwerklich einfach perfekt ge-
macht, die Dialoge, das Szenenbild, die
Handlungsstruktur – alles zusammen las-
se die Serie so glaubwürdig wirken, „dass
am Ende ein Stück Wahrheit entstanden
ist. Ich komme aus der Ukraine, ein Tscher-
nobyl-Kind, bin 1991 geboren. Alle Nach-
wirkungen, die man zu spüren bekommen
könnte, hab ich erlebt. Gesund ist unsere
Generation nicht, Schilddrüsengeschich-
ten, nicht so tragisch wie bei unmittelbar
nach dem Gau Geborenen, aber doch ,leich-
te‘ Nachwirkungen.“ Sie setzt dieses
„leicht“ in Anführungszeichen, als spreche
ein abwiegelnder Arzt und winkt dann ab.
Lieber wieder über das Handwerk spre-
chen, eines ihrer Lieblingsthemen, kein
Werk ohne Handwerk, sagt sie zweimal.
Wie ist etwas geplottet, wie erzeugt man
Spannung? Und warum sind Lars von
Triers Filme so gut, dass er es schafft, mit
seinen Arthousefilmen und sperrigen Su-
jets ein so breites Publikum zu unterhal-
ten? Man könnte nun die Antwort auspro-
bieren, dass da einer das Glück der Doppel-
begabung hat, ein Regisseur, der sein eige-
nes Drehbuch verfilmt, weshalb das Ergeb-
nis genauso wird, wie es sich beide vorstel-
len, Trier und Trier.
Womit wir wieder beim „Kontrakt 18“
landen, den Forderungen ihrer erfahrenen
Kolleginnen und Kollegen. Madiar zieht
ihr Gesicht in skeptische Falten, sagt, sie
habe zu der Initiative keine Meinung, weil
sie ja erst ganz am Anfang stehe. Aber dann
hat sie, wie zu allem anderen, auch hierzu
sehr wohl eine Meinung: „Klar ist die Situa-
tion, in der sich Autoren befinden, nicht ge-
rade wunderbar: unfaire Verträge, und wir
Autorinnen sind am Anfang einer Riesen-
kette, beziehungsweise der Niemand an de-
ren Ende. Alles nicht cool. Aber ich als Ukra-
inerin weiß: Eine Revolution, die man über-
stürzt anzettelt, das wird nichts. Solche
Prozesse müssen sich langsam entwickeln
- und ich hab den Eindruck, dass da mit
utopischen Ansprüchen hantiert wird. Und
dass sich bisher nichts geändert hat.“
Aber lässt sie das verzagen? Sie schaut ei-
nen völlig verwundert an. „Warum? Ich bin
am Anfang, es geht doch gerade erst los.
Und ich hab so viel gelernt.“ Und was war
das Wichtigste, das sie gelernt hat? „Dass
ich viel, viel freier bin als ich denke. Wenn
man mich, beinahe sprachlos, annimmt,
dann bin ich erstens nicht so doof und zwei-
tens ist alles möglich.“ Spricht’s und geht
schreiben.
Avengers und kein Ende! Zumindest im Ki-
no scheintnach „Avengers: Endgame“ und
dem gefühlt 103. „Spider-Man“-Film et-
was Ruhe um den Superheldenzirkus ein-
zukehren, den die Marvel Studios vor inzwi-
schen mehr als zehn Jahren auf die Welt los-
gelassen haben. Das so einfache wie revolu-
tionäre Konzept der locker miteinander
verbundenen Superhelden-Filmreihen
hat die „Avengers“ zu einem der erfolg-
reichsten Film-Franchises überhaupt ge-
macht. Dieses Netzwerkprinzip hat Marvel
dann ebenso erfolgreich auf andere Medi-
en und Geschäftsfelder ausgeweitet, so
gibt es die passenden Computerspiele und
Lego-Bausätze zu jedem Film und inzwi-
schen ein gutes Dutzend Fernsehserien,
die natürlich alle wieder zur großen Haupt-
reihe der Kinofilm zurückführen. Ein wei-
teres halbes Dutzend befindet sich bereits
in den Startlöchern, ebenso wie die nächs-
ten fünf Kinofilme.
Etwas unerwartet erscheinen in diesem
Medienimperium die „Avengers“-Hörspie-
le, die jetzt auch bei Spotify verfügbar sind.
Comicverfilmungen als Hörspiele weiter-
zuverarbeiten, klingt etwas nach Themen-
verfehlung. Schließlich, machen wir uns
da nichts vor, geht es bei den meisten Su-
perheldengeschichten um die schrägen,
knallbunten Figuren und den Krawall, den
sie veranstalten. Was bleibt da von der Ge-
schichte überhaupt noch, wenn man die
ikonischen Figuren nicht sieht, keine spek-
takulären Effekte und auch keine der virtu-
os choreografierten Action-Szenen? Über-
raschend viel.
Die Hörspiele sind eine Mischung aus
dem Filmton der deutschen Synchronfas-
sung und einem markigen Erzähler, der
den Handlungsverlauf erzählt, eben das,
was sich nicht aus den O-Tönen ergibt, und
der zu den Figuren oft noch einiges an Hin-
tergrundwissen über ihre Geschichten
und ihre Verhältnisse zueinander parat
hat, was in den rasanten Filmen manchmal
etwas untergeht. Selbst für richtig harte
Fans lohnt es sich mal reinzuhören, auch
wenn man die Filme schon in- und auswen-
dig kennt. Über manche Heldenbeziehung
oder Hintergrundgeschichte gibt es hier
noch neue Details zu erfahren. Auch die
Motivationen und Eigenheiten mancher
Charaktere werden in der Hörfassung deut-
licher als in den Filmen. Und für jüngere
Kinder sind die Hörspiele natürlich besser
geeignet als die zwar grundsätzlich kinder-
freundlichen, manchmal aber doch arg kra-
walligen Filme.
Für die Marvel-Studios sind die Hörspie-
le so ein kleiner, aber wichtiger Stein in der
Architektur ihres Medienimperiums. Jün-
gere Zuhörer werden damit an die Marke
herangeführt, und seitdem die Marvel-Fil-
me, wie auch Star Wars, zum Disney-Kon-
zern gehören, scheint es, also sollten die
Franchises langfristig näher zusammenrü-
cken. Nicht inhaltlich, aber was den Ver-
trieb angeht. So soll noch in diesem Jahr
der Streamingdienst von Disney starten,
bei dem es dann Inhalte von Disney, „Star
Wars“ und Marvel nur je einen Klick von-
einander entfernt abzurufen gibt. Ob es da
dann auch Hörspielfassungen der Filme ge-
ben wird, ist aber noch nicht bekannt.
Möglich wäre es, möglich ist aber auch,
dass Marvel und Disney mit solchen Hör-
versionen ihrer Filme vor allem Marketing
betreiben. Denn mit Hörspielen auf Platt-
formen wie Spotify zeigen Marvel und Dis-
ney Präsenz auf diesen wichtigen, neuen,
digitalen Streamingdiensten, wo es sonst
bisher nur die Soundtracks der Filme abzu-
rufen gab. Denn die Zielgruppe, die für
Marvel natürlich letztlich interessanter ist
als Kinder, sind junge Erwachsene mit ei-
nem Einkommen.
Und diese Zielgruppe erreicht man am
besten über Streamingdienste wie Spotify
oder Netflix und über soziale Medien wie
Instagram. Um als Marke erfolgreich zu
sein, reicht es heute nicht, seine Produkte
auf den herkömmlichen Wegen zu vertrei-
ben. Wer nicht bei den digitalen Plattfor-
men möglichst viel Präsenz zeigt, der exis-
tiert praktisch nicht. Das scheint selbst für
eine so extrem erfolgreiche Marke wie die
„Avengers“ zu gelten. nicolas freund
Marvels Avengers, bei Spotify
Die „Autostadt GmbH“ besteht aus satten
Grünflächen undeiner Handvoll modernis-
tischer Gebäude am Wolfsburger Mittel-
landkanal. Der Freizeitpark ist der PR-Ab-
leger der VW-Zentrale und richtet seit
2003 das Tanzfestival „Movimentos“ aus:
stets hochkarätig besetzt, stets ausver-
kauft, gefragt weit über die Region hinaus.
2017 wechselte die Geschäftsführung,
2018 verlor das Festival seine Spielstätte,
das historische Kraftwerk von VW. Der
Konzern braucht das Gebäude wieder. In
dieser Lage hätten die Manager der „Auto-
stadt“ beschließen können, die „Movimen-
tos“ dichtzumachen und ihr Gelände mit
Schlagerknallern und Wellness-Events zu
bespielen. Sie waren jedoch klug genug,
den Markenwert des Kunst-Formats zu ta-
xieren und festzustellen: Tanzkunst sym-
bolisiert Mobilität und taugt bestens als
Imagepolitur für einen Autohersteller.
Im Schatten der vier Schornsteine auf
dem vom Dach des Kraftwerks wurde eine
Multizweckhalle hochgezogen, die neben
den „Movimentos“ künftig Konferenzen
und Händler-Meetings beherbergen soll.
Das „Hafen1“ getaufte Gebäude ist 08/
ausgefallen, aber das Auditorium beschert
ein absolutes Déjà-vu: Abgesehen von be-
quemerem Gestühl ist das Interieur der In-
dustriekathedrale vollständig hergezogen,
inklusive rotem Vorhang und schwarzem
Bühnenportal. Das mindert die Nostalgie,
erhöht aber den Erwartungsdruck: Wird
konzeptionell irgendwas Neues geboten?
Fünf Wochen und fünf Gastspiele später
lautet der Befund: Nein, und deswegen be-
steht Renovierungsbedarf. Bernd Kauff-
mann, Jürgen Wilcke und ein hoch effizien-
tes Organisationsteam bestimmen seit
17 Jahren die künstlerische Linie – länger,
als Angela Merkel die Regierungsgeschäf-
te führt. Die Kanzlerin hat eine Nachfolge-
kandidatin, das Wolfsburger Kuratoren-
Duo nicht. Noch macht das Festival dem
Publikum Freude. Doch allmählich muss
wohl ein Übergang eingeleitet werden. Da-
bei ist Kauffmanns Knowhow zu erhalten
und zugleich sind neue Köpfe und Ideen an
den Start zu bringen, um auch künftig Maß-
stäbe zu setzen, wie es vergangenen „Movi-
mentos“-Ausgaben dank Gastspielen von
Hofesh Shechter, Sidi Larbi Cherkaoui,
Wayne McGregor und Crystal Pite gelang.
Künstler dieser Kragenweite wurden
2019 nicht gesichtet, was aufs Konto einer
baubedingt verzögerten Planung gehen
mag. Gerade die meistgehypten Auffüh-
rungen wirkten jedoch blässlich. Das galt
schon für die Auftaktchoreografie von Alt-
meister Édouard Lock. Sein im Auftrag des
Festivals montiertes „Trick Cell Play“ trieb
14 Tänzer über einen Parcours aus abwech-
selnd ein- und ausgeblendeten Lichtkrei-
sen. Die Youngsters der São Paulo Dance
Company legten zackige Verrenkungen
hin, während ein Kammerquintett das zu-
gehörige Klangmenü aus allerlei Opernex-
trakten zusammenköchelte. Was auch im-
mer der Programmzettel an „Spuren der
Erinnerung“ und „grenzenlosen Chancen
und Gefährdungen“ der Gegenwart ver-
hieß – auf der Bühne war nichts davon aus-
zumachen. Auf Lock folgte der größte
Durchhänger des Abends, Nacho Duatos
geschmäcklerisches „Gnawa“, bevor Cassi
Abranches’ „Agora“ endlich mit leichtfü-
ßig lustvollen Tanzelementen verzückte.
An hausgemachter Bedeutungshuberei
verhob sich auch die zweite aus Brasilien
angereiste Truppe, Deborah Colkers Com-
panhia de Dança. Ihr „Dog Without Feat-
hers“ entpuppte sich als Schoßhündchen
mit Öko-Mission. Die filmische Botschaft
im Rücken der Tänzer fiel erheblich stär-
ker aus als ihr trivialer Tribal-Tanz.
Andere Kompanie, gleiches Phänomen:
Bei „Orpheus Highway“ vom L.A. Dance
Project funktioniert das Geschehen auf
der Leinwand im Hintergrund, nicht aber
die Performance davor. Benjamin Mille-
pieds Filmregie taugt eindeutig mehr als
seine Choreografie. Eklatant scheitern
auch die unlängst beim Ballet Vlaanderen
uraufgeführten „Bach Studies (Part 1)“, die
Millepied für sein eigenes Kollektiv zu-
rechtgeschnitten hat. Die eher hemdsärme-
lig agierenden Kalifornier haben ganze Pas-
sagen gestutzt und Bachs musikalische Ar-
chitekturen zum Einsturz gebracht.
Einen besseren, weil bescheideneren
Griff taten Les Ballets Jazz de Montréal, de-
ren „Dance Me/Leonard Cohen“ Musik des
Kanadiers in geschmeidige Tanzminiatu-
ren verwandelte – mal störrisch, mal
schnippisch, mal voller Sehnsucht und
Tristesse. Regelrechte „Brexit“-Melancho-
lie schien dagegen den britischen Choreo-
grafen Russell Maliphant befallen zu ha-
ben. Während er frühere „Movimen-
tos“-Editionen mit wundersam raunen-
den Tanzbildern bestückt hat, reicht es bei
„The Thread“ nur für einen Schritt-Ver-
schnitt aus griechischer Folklore. Dieser
Europa-Abschied schrammt nur knapp
am Tourismusmarketing vorbei.
Die „Movimentos“ haben ihr Publikum
viele Jahre mit Kunst verzaubert und irri-
tiert. Sie sind einzigartig in der norddeut-
schen Kulturlandschaft und ein Aushänge-
schild von VW. Dass es 2019 ästhetisch kri-
selte, ist eine Chance – für die Macher wie
für den Mäzen. Sie müssen das Festival
zum Teil neu erfinden und dafür auch den
einjährigen Planungshorizont entschie-
den erweitern. Die Tanzkunst hat dafür ge-
nug Potenzial. dorion weickmann
Das goldene Zeitalter
GannaMadiar wollte das Handwerk des Schreibens für den Film unbedingt in München lernen. Jetzt fühlt sie sich bereit für
einen Markt, in den die Streaming-Dienste mit ihren Serienformaten viel Bewegung gebracht haben
Wer bei den digitalen Plattformen
keine Präsenz zeigt,
der existiert praktisch nicht
Superhelden
für die Ohren
Der Comic-Verlag Marvel
produziert Hörspiele
Im Schatten des Schornsteins
Neues Domizil, veralteter Glanz: Das Wolfsburger Tanzfestival „Movimentos“ hat Renovierungsbedarf
„Ich als Ukrainerin weiß: Eine
Revolution, die man überstürzt
anzettelt, das wird nichts“
Was tun junge Künstler, Literaten
oder Wissenschaftler, wenn sie noch
nicht etabliert sind? Sie denken über
Kunst, Literatur oder Wissenschaft
nach. In dieser Serie erzählen sie, wie
sie ihre Zukunft sehen – und die
Zukunft ihrer Disziplin. Diesmal:
Daniela Schneider, Kirchenmusikerin
in Viechtach im Bayerischen Wald.
(^10) FEUILLETON Montag, 19. August 2019, Nr. 190 DEFGH
Viel freier als gedacht: Die Drehbuchautorin Ganna Madiar vor der Filmhochschule in München. FOTO: NATALIE NEOMI ISSER
Geschmeidige Tanzminiaturen – Les Bal-
lets Jazz de Montréal. FOTO: MATTHIAS LEITZKE
A
M
S
T
A
RT
Marvels Kinohelden wie Thor gibt es jetzt
auch zumHören. FOTO: DPA