von felix stephan
I
dentität sei ein Schrumpfwort, schrieb
der Historiker Dan Diner kürzlich, ein
Wort also, das erst auftaucht, wenn
das, was es bezeichnet, schon im Schwin-
den begriffen ist. Solange jeder über eine
unbestrittene Identität verfügt, gibt es kei-
nen Anlass, darüber zu sprechen. Sie ist ein-
fach unsichtbar. Ein Thema wird die Identi-
tät erst, wenn man sie verloren hat.
Der Verlust sorgt natürlich für Ärger,
man hätte gern seine Identität wieder.
Dass der Zorn in der Regel Leute trifft, die
für die Gegner der Gesellschaft gehalten
werden, wie sie früher auch nie gewesen
ist, hat Adorno schon 1967 in seinem Vor-
trag „Aspekte des neuen Rechtsradikalis-
mus“ angemerkt, der vor Kurzem bei Suhr-
kamp erstmals im Druck erschienen ist (SZ
vom 20. Juli). Dafür müssen sie nicht ein-
mal im engeren Sinne verantwortlich sein
für die Veränderungen, die vor sich gehen.
Im Zweifel genügt ihre bloße Existenz, und
die Wut entlädt sich auf Frauen, Minderhei-
ten, Progressive.
Es gibt also handfeste Gründe dafür,
dass neuerdings so häufig vom Hass die Re-
de ist. Wir befinden uns in einer Übergangs-
zeit, Gewinner und Verlierer sortieren sich
neu, die Plätze an der Sonne werden neu
vergeben, und den Verlierern bleibt nicht
viel mehr als der Hass als Gemeinschaftser-
lebnis. In den Neunzigerjahren hatte der
Gangster-Rap mit Hass als Kulturtechnik
einen Außenseiterstolz kultiviert, der sei-
ne Protagonisten heute zu Milliardären
macht, und auch sonst funktioniert Hass
heute wieder sehr gut. In Leitartikeln, „Ta-
gesschau“-Kommentaren und Reden de-
mokratischer Politiker häuft sich deshalb
die Aufforderung, nach Möglichkeit doch
bitte das Hassen einzustellen. Dass Hass ei-
ner Demokratie abträglich sei, scheint so
etwas wie der letzte Konsens zu sein, der
sich im ehemaligen Westen überhaupt
noch herstellen lässt. Selbst die Coca-Cola
in Berliner Bahnhöfen behauptet, Hass sei
zum Feiern nicht in der Lage, die Liebe
aber schon, und das ist nun wirklich kein
gutes Zeichen.
Der Hass, der offenkundig gemeint ist,
wenn sich Steinmeier, Macron, Maas, Oba-
ma und Coca-Cola gegen ihn aussprechen,
ist aber nur ein Nebenprodukt. Das eigent-
liche Problem ist der globale Siegeszug
einer sehr fassbaren Ideologie, eines rassis-
tischen Nationalismus, der auf die Schrif-
ten von Renaud Camus, Alain de Benoist
und Alexander Dugin zurückgeht und sich
als demokratischer als die Demokratie
ausgibt, weil er die Mehrheit gegen die Min-
derheiten vertrete. Als habe es je einen
Faschismus gegeben, der sich nicht auf die
Mehrheit berufen hat.
Der Hass ist nur eine der Erscheinungs-
formen dieser Bewegung und nicht einmal
die folgenschwerste. Vorangetrieben wird
diese autoritäre Revolte nicht vom Hass,
sondern von staatlichen und privaten Fi-
nanziers, von Netzwerken und Medien, die
ihre Ideologie unter die Leute bringen, ihre
wichtigste Energiequelle ist die globale Ka-
pitalkonzentration, die ihre Positionen
plausibel aussehen lässt.
In den Reden und Leitartikeln aber geht
es auffällig häufig um das schlechte Betra-
gen der Anhänger dieser Bewegung. Wenn
zum Verzicht auf Hass aufgerufen wird,
geht es deshalb immer auch um Entpoliti-
sierung. Es wird nicht mehr über Ideolo-
gien und Strukturen gesprochen, sondern
über Betragen und Zurechnungsfähigkeit.
Es wird eine emotionale Hierarchie einge-
führt zwischen den fragilen Artisten der
Selbstkontrolle auf der einen und den über-
geschnappten Irren auf der anderen Seite.
Es scheint eine gegenläufige Bewegung
zu geben: Je liberaler die Märkte sind,
desto strenger regulieren die einzelnen
Marktteilnehmer ihr Innenleben. Man
kann dieses Verhältnis seit einiger Zeit in
der jüngeren Gegenwartsliteratur beobach-
ten, zuletzt bei der irischen Autorin Sally
Rooney. Mittlerweile scheint der Impera-
tiv zur Affektkontrolle so streng ausgelegt
zu werden, dass im Grunde alles, was im
Modus des Zorns vorgetragen wird, sich
schon allein dadurch von selbst erledigt.
Dabei ist der Hass auf die Verhältnisse,
auf die Mächtigen und die Erniedrigung ge-
rade Teil der demokratischen DNA, in
Frankreich ohnehin, in Deutschland aber
auch. Die deutsche Demokratie ruht auf
den Schultern dieses Hasses, der Hass auf
die Verhältnisse ist gewissermaßen ihr
Gründungsmoment. Nehmen wir Georg
Herwegh, einen der bekanntesten Dichter
des Vormärz. In seinem „Lied vom Hasse“
von 1841 heißt es in der zweiten Strophe:
„Die Liebe kann uns helfen nicht,/die Lie-
be nicht erretten;/Halt’ du, o Haß, dein
jüngst Gericht,/Brich du, o Haß, die Ket-
ten!/Und wo es noch Tyrannen gibt,/Die
laßt uns keck erfassen;/Wir haben lang ge-
nug geliebt,/Und wollen endlich hassen.“
Oder Georg Büchner, der nicht nur dem
wichtigsten Literaturpreis der Bundesre-
publik seinen Namen geliehen, sondern
sich auch um die wichtige Unterscheidung
zwischen Verachtung und Hass verdient ge-
macht hat. Der Hass, schrieb er im Früh-
jahr 1834 an seine Eltern, sei „so gut er-
laubt als die Liebe, und ich hege ihn im
vollsten Maße gegen die, welche verach-
ten“. Verachtung wiederum entdeckte
Büchner in jedem „Aristocratismus“, nicht
zuletzt bei jenen, „die im Besitze einer lä-
cherlichen Aeußerlichkeit, die man Bil-
dung, oder eines todten Krams, den man
Gelehrsamkeit heißt, die große Masse ih-
rer Brüder ihrem verachtenden Egoismus
opfern“. Auch die Gefühle, die Friedrich
Nietzsche der Kirche entgegenbrachte,
sind mit dem Begriff Hass relativ präzise
beschrieben. Bei Klett-Cotta unterweist ei-
ne eigene Buchreihe ihre Leser darin, Thea-
ter, Kunst und Talkshows zu hassen, für
den Fall, dass sie bei Thomas Bernhard
noch nicht genug gelernt haben.
Hass kann eine produktive, gestalteri-
sche Kraft sein, er kann Werke, Bewegun-
gen, Revolutionen hervorbringen und die
Gier und Selbstherrlichkeit der Mächtigen
zähmen. Die Tabuisierung des Hasses
hingegen unterstellt, dass man über alles
reden kann und es für Hass im Grunde kei-
nerlei Anlass gibt. Dabei gibt es natürlich
auch heute eine Elite, die sich den Hass
fleißig erarbeitet: durch die Austeritäts-
politik des IWF, die Finanzialisierung der
Demokratien, wie Joseph Vogl sie beschrie-
ben hat, die Abschottungspolitik der EU an
ihrer Südgrenze, die Steuervermeidungs-
strategien der Großkonzerne, die Bereit-
schaft der Regierungen, mit dem Sicher-
heitsargument jegliches Grundrecht einzu-
schränken.
Auch für die Bürgerlichen, die Grünen
und die Linken hätten die politischen Groß-
entscheidungen der vergangenen zwei,
drei Jahrzehnte einigen Anlass zum Hass
geboten. Die Frage ist hier eher, warum es
eigentlich so gespenstisch ruhig bleibt.
Zuletzt hat sich der Investmentbanker und
Erzähler in Alexander Schimmelbuschs
Roman „Hochdeutschland“ über die Duld-
samkeit der bürgerlichen Gesellschaft ge-
wundert, als er gerade wieder einige Millio-
nen Euro an Steuergeldern hinterherge-
worfen bekam: „Warum ölte niemand eine
Guillotine?“ Wie soll man die Demokratie
verteidigen gegen ihre Feinde von oben,
wenn der Hass zur Mobilisierung nicht
mehr zur Verfügung steht?
Vielleicht ist der Verlust des Hasses als
politische Ressource der Preis, den die De-
mokratie für ihre integrative Ambition
zahlt. Für den Kampf der Geknechteten
gegen Tyrannen hat sich der Hass immer
wieder als außerordentlich nützlich erwie-
sen. Beim Kampf für die Gleichbehand-
lung aller Bürger unabhängig von Ge-
schlecht, Ethnie oder Religion aber ist er
eher hinderlich.
Mit diesem Dilemma, das kaum aufzulö-
sen ist, muss sich die autoritäre Rechte
nicht herumschlagen, schließlich ist sie an
Gleichheit oder auch nur Gleichbehand-
lung nicht im Geringsten interessiert. Der
politische Hass, den die Linken, die Bürger-
lichen und die Liberalen unangetastet ver-
fallen lassen, steht derzeit der Rechten zur
freien Verfügung. Wie erfolgreich sie ihn
kanalisiert, lässt sich nicht übersehen.
Auf was für Ideen man kommen kann,
wennman sich selbst anstarrt. Die Sache
mit „Easy Rider“, erzählte Peter Fonda in
seiner Autobiografie „Don’t Tell Dad: A Me-
moir“, sei ihm eingefallen, als er 1966 vor ei-
nem Poster seines eigenen Films „The
Wild Angels“ stand. Das Ding war ein typi-
scher Biker-Film der Sechzigerjahre, wie
sie das Studio American International Pic-
tures damals im Dutzend produzierte, um
die beliebten Autokinos im ganzen Land
mit frischer Trash-Ware für knutschende
Teenager und halbstarke Motorradfahrer
zu versorgen. Regie führte der legendäre
B-Picture-Regisseur Roger Corman, Fon-
da spielte die Hauptrolle neben Nancy Sina-
tra, deren lange blonde Haare wirklich un-
verschämt verrucht im Fahrtwind wehten,
wenn er Gas gab.
Auf dem Poster waren die beiden natür-
lich ganz groß im Vordergrund zu sehen,
während ihnen im Hintergrund eine ganze
Biker-Armee folgte. Der Werbespruch lau-
tete: „Ihr Motto ist Gewalt, ihr Gott ist der
Hass und sie nennen sich: The Wild An-
gels!“ Und wie Fonda da vor einem Kino
stand und sich selbst in der Auslage be-
trachtete, hatte er eine Eingebung: „Mir
war plötzlich klar, was für eine Art Motor-
rad-Sex-Drogen-Film ich als Nächstes ma-
chen sollte. Nicht noch so ein Ding mit 100
Hell’s Angels, nein, es sollte so sein wie in
,The Searchers‘ von John Ford. Ich würde
die Rolle von John Wayne übernehmen
und Dennis Hopper die von Jeffey Hunter.
Nach einer langen Reise gen Osten durch
Amerika würden wir schließlich in 1000
Stücke zerrissen...“
Peter Fonda, geboren 1940 in New York,
wusste natürlich genau, wovon er da
sprach. Er war schließlich der Sohn von
Henry Fonda, einem der größten Stars des
Nachkriegskinos. Henry hatte „Die 12 Ge-
schworenen“ gedreht und „Spiel mir das
Lied vom Tod“, und selbstverständlich hat-
te er auch für den Großmeister persönlich,
John Ford, vor der Kamera gestanden, in
„Früchte des Zorns“. Eine Übervaterfigur,
deretwegen sein Sohn immer darum bat,
bitte mit Peter angesprochen zu werden.
„Sobald jemand Mr. Fonda sagte, dachte
ich sofort, mein Alter steht im Zimmer!“
Der junge Peter hatte seinen ersten gro-
ßen Auftritt als Schauspieler 1961 am
Broadway in einer Inszenierung von
„Blood, Sweat and Stanley Poole“, die stren-
gen New Yorker Kritiker waren begeistert
von dem jungen Mann mit der überborden-
den Energie. Zu seinem Leidwesen gelang
es ihm aber nicht sofort, den Applaus und
die Lobeshymnen auch im Kino auf sich zu
ziehen. Er probierte sich ein bisschen bei
den verrückten Autorenfilmern in Europa
aus, stand zum Beispiel in Frankreich für
Roger Vadim vor der Kamera, den damali-
gen Ehemann seiner Schwester Jane Fon-
da, im Episodenfilm „Außergewöhnliche
Geschichten“. Und er drehte daheim in
Amerika seine trashigen Biker-Road-
movies, für die es nicht mehr als 10 000 Dol-
lar Gage gab und für die er sich trotzdem
regelmäßig die Knochen brach, wenn er
von der Harley fiel, weil er seine Stunts
natürlich selber machte. Was aber den arro-
ganten New Yorker Kritikern wurscht war,
weil Biker-Filme weit unter ihrem Radar
stattfanden.
Also beschloss Fonda, dass er vielleicht
am ehesten eine Chance haben würde, ein
echter Filmstar zu werden, wenn er aus
dem alten amerikanischen Kino seines
Vaters, den B-Picture-Orgien seiner Gene-
ration und dem Autorenfilmer-Spirit der
Europäer jeweils das Beste mitnahm und
es zu einem neuen Filmcocktail zusam-
menrührte.
Mit seinen Kumpels Dennis Hopper und
Terry Southern schrieb er das Drehbuch zu
„Easy Rider“ und läutete damit eine Art
Stunde null des amerikanischen Kinos ein.
Die Geschichte von Wyatt (Fonda) und
Billy (Hopper) die nach einem Drogendeal
mit ihren Harley-Davidsons durch Ameri-
ka brettern und kein gutes Ende finden,
wurde wirklich eine erstaunliche Mi-
schung aus Neo-Western mit dem alten
amerikanischen Frontiergeist und der neu-
en Welt der Hippies und der Gegenbewe-
gung. Als der Film 1969 auf dem Festival in
Cannes lief, wurde er prompt als bestes De-
büt ausgezeichnet. Die Franzosen waren
natürlich ganz aus dem Häuschen bei
diesem Mix aus alter Hollywoodschule
und Autorenfilmer-Anarchismus, den die
Jungs der Nouvelle Vague ja selber gerade
betrieben.
Aber auch in den USA war „Easy Rider“
der erste Film aus der Generation der Ge-
genbewegung, der ein richtiger Hit wurde.
Die Kritiker waren begeistert, die drei
Nachwuchsfilmer wurden für ihr Dreh-
buch für einen Oscar nominiert und mit
über 40 Millionen Dollar Einspielergebnis
an den US-Kinokassen hatte sich die Sache
auch finanziell mehr als gelohnt. Letztlich
war „Easy Rider“ die Geburtsstunde des
New Hollywood, einer Zeit, in der junge Fil-
memacher mit kleinen Independent-Pro-
duktionen das behäbige Studiosystem in
Hollywood herausforderten und das Kino
aus den verstaubten Studiokulissen hin-
aus auf die Straße holten. Peter Fonda und
Dennis Hopper bereiteten den Weg für ei-
ne goldene Generation der Filmemacher,
für Steven Spielberg und George Lucas,
Paul Schrader und Martin Scorsese.
Sprich, die Wirkung des Films war so
groß, dass kam, was kommen musste. Die
Väter des Erfolgs zerstritten sich prompt
über die Frage, wer das eigentliche Genie
hinter „Easy Rider“ war: der Produzent,
Drehbuchautor und Hauptdarsteller Peter
Fonda? Oder der Regisseur, Drehbuchau-
tor und Hauptdarsteller Dennis Hopper?
Viele Kritiker prophezeiten damals dem
charismatischeren Peter Fonda die größe-
re Karriere, mindestens in der Kategorie ei-
nes Clint Eastwood, vielleicht sogar des
unerreichten James Dean. Aber erstaunli-
cherweise hat Fonda an den Erfolg von „Ea-
sy Rider“ nie wieder in dieser Form an-
knüpfen können. Nachdem er damals die
Regie Dennis Hopper überlassen hatte,
wollte er unbedingt selbst inszenieren. In
den Siebzigern drehte er als Regisseur
zwei Western („Der weite Ritt“, „Wanda Ne-
vada“) und einen Science-Fiction-Film
(„Expedition in die Zukunft“), die alle drei
vielleicht nicht unbedingt Riesenflops,
aber eben auch keine Hits wurden. In den
Achtzigern probierte er es wieder mehr als
Schauspieler, schrieb mit „Todesbiss der
Satansviper“ und „Falschmünzer der Lie-
be“ aber keine Filmgeschichte.
Erst in den Neunzigern, als bereits seine
Tochter Bridget Fonda sich anschickte, ein
Star des Independent-Kinos zu werden,
mit „Jackie Brown“ und „A Simple Plan“, er-
lebte auch der Vater noch einmal eine Re-
naissance. Denn eine neue Generation von
Regisseuren, die mit Peter Fonda aufge-
wachsen war, erinnerte sich genau daran,
was er fürs Kino getan hatte. Steven Soder-
bergh zum Beispiel besetzte ihn in „The Li-
mey“, und für das Familiendrama „Ulee’s
Gold“ wurde er 1998 für einen Oscar als
bester Hauptdarsteller nominiert.
Auch ein paar der alten Haudegen hat-
ten ihn nicht vergessen, John Carpenter
holte ihn zum Beispiel für „Flucht aus L.A.“
Dieses Alterswerk hat er sehr genossen, zu-
mal er sich längst damit ausgesöhnt hatte,
schlicht und einfach der Funke gewesen zu
sein, der das amerikanische Kino (und ein
bisschen auch die amerikanische Gesell-
schaft) zum Brennen gebracht hatte.
Am Freitag ist der Easy Rider Peter Fon-
da im Alter von 79 Jahren in seinem Haus
in Los Angeles an den Folgen einer Lungen-
krebserkrankung gestorben.
david steinitz
Schon bald wird es keine Pause in der Text-
produktion mehr geben. Wer sich schon
jetzt überfordert fühlt, von all dem Rufen
und Klagen, das dann über die bekannten
Kanäle ausgespielt wird, dem könnten
bald noch mehr die Ohren klingen. Dabei
ist das zunächst eine gute Sache: Bereits
heute generieren Programme neue Song-
texte, Gedichte und Kurzgeschichten. Ne-
ben den Schöngeistern, die sich von künst-
licher Intelligenz eine ungeahnte Explosi-
on der Kreativität versprechen, gibt es
aber noch eine andere Gruppe, die mit den
künstliche erzeugten Texten viel vorhat.
„Search Engine Optimization“, kurz SEO
genannt, bietet heutzutage jede noch so
kleine Werbeagentur für ihre Kunden an.
Es wird damit versucht, die eigenen Inhal-
te möglichst weit oben in den Trefferlisten
der großen Suchmaschinen zu platzieren.
Doch jeder weiß, dass in den Augen der Nut-
zer nach den ersten drei Ergebnissen ei-
gentlich nichts mehr existiert. Und jeder
weiß, dass auch andere SEO betreiben. Al-
so entstehen SEO-bedingte Begriffsreihun-
gen auf den Seiten, die mit sinnhaften Tex-
ten oft nicht mehr viel zu tun haben.
Mittlerweile befürchten einige Exper-
ten, dass ein „Tsunami“ aus KI-Texten
künftig Suchmaschinen wie Google völlig
mit SEO-Reizen überschwemmen wird.
Tatsächlich gibt es schon eine Reihe von
Anbietern, die ihren Kunden versprechen,
mittels künstlicher Intelligenz ganz oben
aufzutauchen. Auch wenn die Algorithmen
noch viel Unsinn produzieren, werden sie
doch stetig besser. Im Frühjahr stellte das
Forschungsinstitut Open AI ein KI-Modell
namens GPT-2 vor, das angeblich so le-
bensechte Texte schreiben könne, dass die
Entwickler von einer Veröffentlichung ab-
sahen. Grund: Es sei zu gefährlich für die
Allgemeinheit. Zu glaubhaft. Zu extrem.
Es ist nicht das erste Mal, dass findige
Geschäftsleute versuchen, mit der Manipu-
lation von Suchergebnissen Geld zu verdie-
nen. Immer wieder finden Menschen
Mittel und Wege, die Empfehlungs- und
Sortieralgorithmen der großen Tech-Fir-
men hinters Licht zu führen.
Vor knapp zehn Jahren etwa schwemm-
ten sogenannte Content-Farmen durch
zielsichere Suchmaschinenoptimierung
minderwertige Erklärartikel zu allen er-
denklichen Banalitäten des Alltags ganz
nach oben in die Google-Ergebnislisten –
und generierten so ein Vermögen. Mit Tex-
ten, in denen es tatsächlich darum ging,
wie man sich die Schnürsenkel bindet oder
ein Pfund Nudeln kocht, machten Unter-
nehmen wie Demand Media oder Wikihow
bereits kurz nach ihrer Gründung Hunder-
te Millionen Dollar. Die Themenauswahl
erfolgte streng nach aktuellen Suchanfra-
gen: Was an einem Tag zu einer bestimm-
ten Uhrzeit von Interesse war, das wurde
auch bedient.
Gearbeitet wurde auf diesen Content-
Farmen allerdings noch recht primitiv von
Hand. Oft haben die damals frei angestell-
ten Autoren bloß recht halbherzig bei Wiki-
pedia abgeschrieben. Schon bald aber wird
automatisierter Textschrott passend zum
aktuellen Suchklima über sämtliche Kanä-
le ausgespielt. Spam auf Steroiden.
In der Horrorvorstellung der Experten
wäre eine Suchmaschine, so wie man sie
heute kennt, dann natürlich kaum noch be-
nutzbar. Es würde nur noch so wimmeln
von permanent neuen KI-Artikeln, die
menschliche Leser hinters Licht führen.
Neben der Entwicklung von Software, die
so tut, als wäre sie ein echter Mensch, gibt
es natürlich parallel auch noch das Gegen-
programm. Dieses verspricht, genau sol-
che Fälschungen aufzuspüren. Wer das
Wettrüsten dann einst gewinnt, steht aller-
dings keineswegs fest.
Einen tröstenden Gedanken gibt es
schließlich aber doch noch. Die frühen War-
ner und Mahner waren vor allem der An-
sicht, dass künstliche generierte Texte vor
allem dazu dienen würden, die ohnehin
schon aufgeheizte Debatte im Netz weiter
zu destabilisieren. Inzwischen kann man
da beinahe schon froh sein, dass es auch
noch Menschen gibt, die gar nicht mal die
Demokratie zerstören wollen, sondern nur
ganz banal auf Profit aus sind.
michael moorstedt
DEFGH Nr. 190, Montag, 19. August 2019 HF2 9
Nicht alles, was im Modus des
Zorns vorgetragen wird, erledigt
sich schon dadurch von selbst
Kann man die Demokratie gegen
ihre Feinde von oben verteidigen,
wenn man den Hass ächtet?
Der Hass auf die Verhältnisse, auf die Mächtigen und die Erniedrigung ist
auch in Deutschland Teil der demokratischen DNA.FOTO: SZ PHOTO; BEARBEITUNG JESSY ASMUS
Drehbuchautor, Produzent, Regisseur und Schauspieler: Peter Fonda 1969. FOTO: AP
Gen Osten durch Amerika
Sein „Easy Rider“ war der Funke, der das amerikanische Kino zum Brennen gebracht hat: Zum Tod von Peter Fonda
Feuilleton
Sommerserie „Am Start“: Ganna
Madiar und das Handwerk
des Schreibens für den Film 10
Literatur
ImJuli starb Brigitte Kronauer.
Ihr letztes Buch gilt den
Langsamen und Einsamen 11
Wissen
Spannungam Nordpol –
Meteorologen registrieren einen
Blitz-Rekord in der Arktis 14
http://www.sz.de/kultur
Spam
auf Steroiden
Wenn künstlich erzeugte
Texte die Suchmaschinen fluten
NETZKOLUMNE
Wir haben
lange genug geliebt
In den Warnungen vor der politischen Rechten
ist der Hass ein prinzipiell
antidemokratischer Affekt. Aber
seine Tabuisierung schadet der Demokratie
Die Väter des Erfolgs zerstritten
sichprompt über die Frage,
wer das eigentliche Genie war
Selig die Zeiten, als
auf Content-Farmen noch
Menschen schufteten!
FEUILLETON
HEUTE