Süddeutsche Zeitung - 19.08.2019

(Ron) #1
von insa wilke

E


ine Schriftstellerin, die von „Men-
schenliebe“ spricht, von „Trost“ und
„fühlendem Denken“, von einer Re-
volution, die sie darin sieht, „daß kein
Mensch, ob Überflieger oder nicht, flach
ist, simpel ist!“, eine Autorin (auch noch ei-
ne Frau!), die offensichtlich mit großer
Freude das Ausrufezeichen verwendet und
es an Liebe zum ausdrucksvollen Leben
auch sonst nicht fehlen lässt, eine solche
Schriftstellerin könnte leicht als Blumen-
mädchen belächelt werden. Manchem
könnten ihre Bücher ein Gräuel sein, aus
moralischen Gründen und im Namen der
beinharten Literatur. Das passierte Brigit-
te Kronauer aber nicht, als sie 2005 solche
Sachen in ihrer Dankesrede zum Büchner-
Preis sagte. Ihr letztes Buch wird auch in
der Kritik als literarisches Vermächtnis ge-
lobt. Worin liegt es, dieses Vermächtnis?
„Das Schöne, Schäbige, Schwankende“
sind Romangeschichten, wie Kronauer das
Genre im Untertitel nennt. Vielleicht hat
sie es sich wie Christoph Ransmayr ge-
dacht, der zum „Atlas eines ängstlichen
Mannes“ erklärte, die Lebenszeit reiche
nicht aus, um alle Romanideen umzuset-
zen. Also müsse man Formen finden, sie
auf anderem Weg in die Welt zu schicken.
Als schlanke Geschichten, die das Potenzi-
al zum Roman haben und durch bestimm-
te Prinzipien zu etwas Größerem zusam-
mengehalten werden.
Bei Brigitte Kronauer verbindet ihr er-
zählendes Alter Ego die einzelnen Episo-
den. Es ist die Schriftstellerin Charlotte,
die mal in Ich-Form, mal in der dritten Per-
son erzählt. Charlotte erwähnt im Prolog
auch das Erzählprinzip: alle Figuren erfah-
ren „drei Entwicklungsstufen, mit sehr un-
terschiedlichem Erfolg, je nach Abteilung“.
Das Schöne steht für den Aufstieg, das
Schäbige für den Absturz, das Schwanken-
de für die Möglichkeiten dazwischen. Klas-
sisch.
Charlotte bemerkt aber selbst, dass al-
les durcheinander flattert und ins Rut-
schen gerät. Von wegen Ordnung. Trotz-
dem kann man sich als Leserin herrlich an
diesem Prinzip abarbeiten und detekti-


visch tätig werden. Dann verpasst man
aber das Eigentliche: „die blitzschnellen,
geheimen Vorgänge zwischen den Indivi-
duen und die widersprüchlichen in sich
selbst (...), die schließlich die Handlung er-
zeugen – egal ob eine Ehe oder ein ganzes
Volk drauf geht“. Wer dafür einen Sinn ha-
be, so Kronauer alias Charlotte, werde an-
geschaut wie jemand, „der im aktuellen
Jahrtausend Masche für Masche Topflap-
pen strickt.“

Um ihre narrative Potenz unter Beweis
zu stellen, schreibe sie jetzt „Glamouröse
Handlungen“. Die gelingen ihr aber nicht.
Stattdessen streift sie in „barscher, strohi-
ger, oft chaotischer Landschaft“ rund um
ein Haus mit „blauen Schlagläden“ umher,
in das sie sich zurückgezogen hat und är-
gert sich über die Frechheit der Vögel: Sie
„formierten sich auf diesen Gängen zu ei-
ner imaginären Tapete. Richtig, sie tape-
zierten zunehmend die Wiesen, musterten
unverschämt die Wolken und starrten
mich herausfordernd an.“
Als herausfordernd empfindet Charlot-
te das Menschliche, das sie in den Vögeln
wiedererkennt. Ob Wasseramsel, Sonnen-
sittich oder Spatzenmännchen, sie alle äh-
neln jemandem, inspirieren Brigitte Kro-
nauers Alter Ego und erinnern sie an Begeg-
nungen, an Erlebtes, nicht an Erfundenes.
Das ist wichtig, denn die letzte der drei grö-
ßeren Erzählungen, die den kürzeren „Vo-
gelgeschichten“ nachgeordnet sind, ist auf
Wunsch von Charlottes Mann Paul eine –
angeblich – erfundene Geschichte und aus
der Perspektive eines „alten, weißen Man-
nes“ erzählt.
Man schüttelt sich da erst, weil es einen
so merklichen Abfall in der Erzählweise
gibt. Das ist aber nur konsequent, es er-
zählt ja jetzt plötzlich ein alter, engstirni-
ger und wenig empathischer Mann, der
den Isenheimer Altar verehrt und geblen-
det vom „Duft und Gold reinsten Einver-
ständnisses um die irdische Mutter und ihr
göttliches Kind herum“ sich in den „leisen
Gesang“ seiner Pflegerin verliebt, „wenn
sie, gemäß ihrer „geruhsamen weiblichen
Existenz“ nach dem Abendbrot den „Tisch
abräumt mit feinem Klirren“.
Wenn dieser Mann erzählt, werden die
Sätze und Ansichten schlicht und man
muss sich mühen, die Ambivalenz zu fin-
den, welche die meisten der hinreißenden
Vogelgeschichten auszeichnet. Die sind
fantastisch altmodisch, großartig lebens-
klug und erzählt, als würde Kronauer mit

dem Florett durch die Zeilen tänzeln. Ei-
gentlich handelt es sich bei diesen Ge-
schichten um Novellen, an deren Ende et-
was Unerhörtes bleibt, das immer sowohl
in der Beobachtung als auch in der be-
wusst artifiziellen Sprache liegt, die (siehe
Büchner-Preis-Rede) nicht immer zu ihren
Figuren zu passen scheint.
Die Kunst und ihr Betrieb bekommen es
dabei besonders ab. In der Geschichte „Der
Höfling“ widmet Kronauer alias Charlotte

dem Dompfaff ihre spitze Feder. In ihm er-
kennt sie den Schriftsteller Triegel: „Er be-
herrschte die Gepflogenheiten der Kultur-
branche wie geschmiert. Es war ein Furor
des Verneigens, eine Raserei, bis er das
plötzlich abbrach, stillstand mit starrer
Miene und in Zitaten sprach. Er hatte es
gar nicht nötig, einen eigenen Satz auszu-
denken.“
Wenn es um den Spott über die Hybris
und Heuchelei der Kunstszene geht, sind

Pointen (Krawel, krawel) leicht zu holen.
Brigitte Kronauer ist sich dafür nicht zu
schade. Virtuos kaschiert sie das kokett
Derbe mit einer manchmal wohl bewusst
manierierten Originalität. Ihre Satiren wir-
ken geradezu galant. Trotzdem gibt es
noch stärkere Stücke als die Kunst-Be-
triebsgeschichten. Das sind diejenigen, die
sich den Langsamen widmen. Zum Bei-
spiel dem Gärtner, der zum Erzählen An-
lauf nehmen muss und dessen Sätze wie
Schritte in „schweren Arbeitsstiefeln“ wir-
ken. Das ist so eine Kronauer-Formulie-
rung, die man voll Behagen und glücklich
liest, wie auch die unerhörte Begebenheit,
die sich mit diesem Gärtner abspielt.

Es geht dabei nur um eine Geste, und
eben darin liegt die Kunst von Brigitte Kro-
nauer: in dem Gespür für die Bedeutung
solcher Gesten und in der Fähigkeit, sie
skizzenhaft für die Leser-Imagination zu
entwerfen. Dem Gärtner ist die Erzählerin
immer mal wieder begegnet. Als sie ihn
nach längerer Abwesenheit im Botani-
schen Garten wiedersieht, zieht er seinen
Handschuh aus, um ihr die Hand zu geben,
sie aber versteht zu spät die Bedeutung der
für ihn raren Geste und der Moment ist vor-
bei. Es gab ihn aber und er hat gezeigt, wel-
cher Wunder der Alltag offenbaren kann.
Das ist nicht sentimental gemeint, son-
dern ganz „spröde“, wie Kronauer die Men-
schenliebe der Literatur bezeichnet hat.
Der Schriftsteller Ernst-Wilhelm Händ-
ler beschreibt in seinem Essay über Gegen-
wartsliteratur, wie Brigitte Kronauer sich
mit „kühlstem Herz“ dem „Kleinen“ wid-
met, indem sie den „Stilkörper“ aktiviert.
Ihre Eleganz tariert die Moral aus, so dass
sie weder wie ihre Figur Rosetta, eine Gelb-
stirnamazone übrigens, Kunst mit Kitsch
verwechselt noch wie die wirklichen Anti-
Figuren ihrer Geschichten Eleganz als
„Rundumpolitur“ trägt.
Und dann ist da ja noch Kronauers Hu-
mor. In der Geschichte „Suppenkasper“
zum Beispiel, die von einer Frau und ihrer
fixen Idee handelt, sich physisch zu redu-
zieren. Da heißt es dann, wenn sie nachts
im Bett liegt: „In schamloser Neugier betas-
tete sie leicht raschelnd ihre Überreste.
(‚Was schürft hier so?’, fragte gelegentlich
der Mann schlaftrunken und träumte
schon wieder von ihrer Antwort, die sie
sich deshalb sparte.)“ Gerade diese Ge-
schichte bekommt ein Happy End. Dem
bleibt bei Kronauer allerdings fast immer
eine Bitternote, ein kleiner oder größerer
Schreck eingeschrieben.
Nein, Mitleid zeigt Brigitte Kronauer
mit ihren Figuren nicht. Sie schaut ihnen
eher wie eine Göttin zu, deren Blick ihre
Kreaturen aus dem „Gewimmel“ heraus-
hebt. Dieser Blick wird immer dann beson-
ders intensiv, wenn er die Unscheinbaren,
Gewöhnlichen trifft. Lieb seien ihr,
schreibt Charlotte, „schiefergraue, be-
schwingte Büroangestellte, die an schönen
Sommerabenden mit ihren Fahrrädern,
auf denen ihnen Flügel wuchsen, und mit
ihren Aktentaschen nach Dienstschluss
aufatmend zu den Lauben in ihre kleinen
Paradiese fuhren!“ – Mit Ausrufezeichen.

Ihr Alter Ego im Roman scheitert am Projekt „Glamouröse Handlungen“. Zum
Glück.Brigitte Kronauer Ende 2015 in ihrer Hamburger Wohnung. FOTO: DPA

Als 1989 die Berliner Mauer fiel, war er
ein Mann von Anfang sechzig. Und ein
Spezialist für Autoritätskrisen, für den
Widerhall von Zusammenbrüchen und
den Zerfall politischer Ordnungen in
der Sprache, schon ehe sie gestürzt
sind. Denn eines seiner großen Lebens-
themen war das Theater Shakespeares.
1928 in Magdeburg als Sohn eines
Elektrikers geboren, hatte Robert Wei-
mann schon vor der Gründung der
DDR in Halle Anglistik und Slawistik zu
studieren begonnen. Seine Dissertati-
on über „Drama und Wirklichkeit in
der Shakespearezeit“ (1958) und das
Buch über den „New Criticism“ (1962),
mit dem er sich habilitierte, sparten
nicht mit Kritik an der bürgerlichen
Wissenschaft. Aber früh muss ihn ein
Unbehagen an den schlichten Basis-
Überbau-Modellen marxistischer Lite-
raturwissenschaft erfasst haben.
Dafür, dass er es ausleben konnte,
dürfte 1968 sein Wechsel von einem
Lehrstuhl an der Humboldt Universität
an die Akademie der Wissenschaften
beigetragen haben. Dort, im Sicher-
heitsabstand zum studentischen Publi-
kum, gab es intellektuelle Reisefrei-
heit. Weimann, seit seiner Studie
„Shakespeare und die Tradition des
Volkstheaters“ (1967) auch im Westen
bekannt, nutzte sie weidlich. Er wurde
zu einer der Schaltstellen der Rezepti-
on des französischen Strukturalismus
und Poststrukturalismus in der DDR.
Seit den Siebzigerjahren war er Dia-
logpartner des Berliner Ensembles, der
Volksbühne, des Deutschen Theaters.
Er wusste, dass die Bühne allein von
den Büchern her nicht zu verstehen ist,
und war zugleich skeptisch gegen ihr
Aufgehen im Bildertheater. Als er 1990
mit Heiner Müller, der gerade den
„Hamlet“ probte, ein großes Gespräch
führte, konnte er auf seine subtile Lek-
türe des Dramas in „Shakespeare und
die Macht der Mimesis“ (1988) zurück-
greifen. Wie erst am Wochenende be-
kannt wurde, ist Robert Weimann am


  1. April im Alter von neunzig Jahren in
    Bernau gestorben. lothar müller


Die letzte Geschichte
erzählt ein alter,
engstirniger weißer Mann

Der Lösungssatz des großen Sommerrät-
sels von Burkhard Müller, das in der Wo-
chenend-Ausgabe der SZ vom 3./4. August
zu finden war, lautet „Wie sie alle lustig
sind flink und froh sich regen“. Das ist der
Anfang der zweiten Strophe des Liedes „Al-
le Vögel sind schon da“ (Text: Hoffmann
von Fallersleben), die so weitergeht: „Am-
sel, Drossel, Fink und Star“. Genau diese Vö-
gel waren aber nicht zu erraten in diesem
Literaturrätsel, sondern die Folgenden.
Die gefetteten Wörter führten jeweils zur
Lösung.
DieElsterkommt im „Parzival“von
Wolframvon Eschenbach vor. Der elstern-
haft gescheckte Mischling ist Parzivals
Halbbruder Feirefiz; für das musikalische
Nachleben des Epos hat Richard Wagners
Oper gesorgt.
Der Anfang des Gedichts „DieKinder-
diebin“vonGertrudKolmar geht so: „Der
Häherschreit, will die nestjunge Brut.“
Die wildeGraugansspielt eine wichtige
Rolle in „NilsHolgersson“ von SelmaLa-
gerlöf.
„Die Möwen sehen alle aus,/als ob sie
Emmahießen“ behaupteteChristian Mor-
genstern in seinem „Möwenlied“ und
schloss: „O Mensch, du wirst nie neben-
bei/derMöweFlug erreichen. / Wofern du
Emma heißest, sei/zufrieden, ihr zu glei-
chen.“
DieEulewählte sichIngeborg Bach-
mannals Vogelgefährtin. Die Göttin mit
der Eule ist Athene respektive Minerva,
der Philosoph G.W.F. Hegel. Der Bach-
mann-Preis wird in Klagenfurt vergeben.
EinRabeist der Titelheld von Wilhelm
Buschs „HansHuckebein“. Dessen ande-
res Werk ist natürlich „Max und Moritz“.
Zum langbeinigenStorchmacht der
Zauberer im Märchen „Kalif Storch“ von
Wilhelm Hauffden Kalifen und den Groß-
wesir.
DieSchwalbeist der Sehnsuchtsvogel
in dem Roman „Kirschholzund alte Gefüh-
le“ von MaricaBodrožić. Das Dorf, in das
Mutter und Sohn nicht zurückkönnen,
liegt im ehemaligen Jugoslawien.
Phönixheißt der Sagenvogel in einer
Short Story vonSylvia TownsendWarner.
In einenWiedehopfverwandelt sich Kö-
nig Tereseus in den „Metamorphosen“
desOvid, die beiden Schwestern, Prokne
und Philomele in Schwalbe und Nachtigall.
Knäkenteheißt der bis in den Tod ge-
treue Vogel in der Novelle „Liebe“ von Guy
deMaupassant.
Alfred Brehmhat in „Brehms Tierle-
ben“ auch denKuckuckbeschrieben.
„Es war dieNachtigallund nicht dieLer-
che, die eben jetzt dei banges Ohr durch-
drang“ lauten die berühmten Verse aus
„Romeo undJulia“vonWilliamShake-
speare. Der „Balkon der Julia“ befindet
sich in Verona.
Aus allen Einsendungen wurden Gretel
Heyland aus Unterhaching, die Ratege-
meinschaft von Claudia Knoblauch aus
Hamburg und Wolfgang Kloberdanz aus
Detmold als Gewinner ausgelost. sz

von christine dössel

E


ngel sind auch nicht mehr das, was
sie einmal waren. Vom Bild blond ge-
lockter, puttensüßer Wesen mit flau-
schigen Flügeln muss man sich an diesem
Theaterabend verabschieden. Gut, auch
bei Ferenc Molnár sind die himmlischen
Heerscharen keine klassischen Cherubim
und Seraphim. In seinem Volksstück „Lili-
om“, diesem Bastard aus Sozialdrama und
Märchen, uraufgeführt vor 110 Jahren,
kommt der nicht gerade sympathische Ti-
telheld nach seinem Selbstmord in ein Pur-
gatorium, das aussieht wie eine Amtsstu-
be. Die grauen Herren darin sind „Polizis-
ten Gottes“ – kafkaeske Gestalten, die den
Delinquenten zur Glückseligkeit führen
wollen, indem er bereut.


Das wollen die Englischen auch in der
Salzburger Inszenierung von Kornél Mund-
ruczó auf der Perner-Insel in Hallein. Nur
sind sie hier keine Polizeibeamte, sondern
Leute von heute: eine Gruppe von Schau-
spiellaien, das merkt man leider sofort, die
gesellschaftliche Außenseiter darstellen.
Sie blicken aus einer betont feministi-
schen, homosexuellen oder queeren, jeden-
falls aus einer sehr zeitgemäßen Perspekti-
ve auf den Karussellausrufer Liliom: die-
sen Macho-Titelhelden aus einem anderen
Jahrhundert, der seine Frau geschlagen, ei-
nen missglückten Raubüberfall begangen
und sich dann umgebracht hat. Und der
nun hier im Jenseits steht und überhaupt
kein Unrechtsbewusstsein hat.
In seiner Inszenierung für die Salzbur-
ger Festspiele – in Koproduktion mit dem
Hamburger Thalia Theater – zäumt der un-
garische Regisseur Mundruczó das Stück
seines 1952 in New York gestorbenen
Landsmanns Molnár von hinten auf und
setzt die himmlische Gerichtsszene an den


Anfang, bei Molnár ist es das sechste von
sieben Bildern. Eine vergilbte weiße Wand
mit der Aufschrift „Safe Space“ und einer
Ballettstange daran verschließt den Blick
auf die Bühne. Davor die Schauspiellaien,
der „Chor der Nonkonformisten“, auf dem
Boden schlafend. Die weißen Kissen, auf
die sie ihre Köpfe betten, wissen sie beim
Abmarsch sehr lustig als Ersatzengelsflü-
gelchen einzusetzen. In einer späteren Sze-
ne tanzen sie im Tutu ein adrettes LGBT-
Ballett an – und von – der Stange.
Es handelt sich bei diesem etwas nervi-
gen Engelstrupp, für den die ungarische
Dramaturgin und Drehbuchautorin Kata
Wéber harmlos-satirische Texte geschrie-
ben hat, um politisch korrekte, ausgespro-
chen genderbewusste, aber auch bürokra-
tisch sich verhaltende Bescheidwisser und
Toleranzdenker auf der Höhe der Zeit, die
bitte „Mitarbeitende“ genannt werden
möchten. Sie wirken wie beflissene Work-
shop-TeilnehmerInnen oder Coaches, die
sich am Härtefall Liliom erproben müssen.
Der steht mit trotziger „Antragsformula-
rausfüllverweigerung“ vor der Himmels-
wand und soll darauf hundertmal den Satz
schreiben: „Ich bin Teil des repressiven Pa-
triarchats.“ Patriar-was? Liliom versteht
die „Me Too“-Welt nicht. Er kommt ja auch
aus „ganz anderen Zeiten“, wie er als Erklä-

rung für sein schäbiges Verhalten vor-
bringt. Liliom verteidigt sich nicht, er be-
reut nicht, und er will auch keine Erlösung.
„Was geschehen ist, ist geschehen.“
Selbst das Antiaggressionsseminar, das
ihm die Jenseitigen verordnen („Alles Uner-
wünschte ist übergriffig!“), schlägt über-
haupt nicht an. Liliom bekommt trotzdem
ein Eis. Aber nur, weil eins übrig ist im Cor-
netto-Zehnerpack. Er wird es seiner ihm
unbekannten Tochter mitbringen, wenn er
am Ende dann noch einmal zurück auf die
Erde darf.
Bis es soweit ist, blickt Liliom zwei Stun-
den lang von seinem Himmelsseminar im-
mer wieder auf sein Leben zurück. Dann
hebt sich die weiße Wand und gibt den
Blick frei auf die düstere Bühne von Moni-
ka Pormale, die von zwei riesigen Sechs-
achsrobotern beherrscht wird, den eigentli-
chen Stars des Abends. Sie sehen aus wie
überdimensionale Armknochengelenke
und ersetzen mit ihrer künstlichen Intelli-
genz die Bühnenarbeiter: sie hieven sur-
rend die Requisiten herein, bestücken die
Szenerie mit Akaziensträuchern, Sperr-
holzwänden, Kulissenteilen und stellen
für die Liebesszene mit Julie eine Voll-
mondkugel bereit. Roboterromantik. Statt
Kirmesrummel: High-Tech-Ästhetik. Die
Greifarme einer höheren Macht.

Die seltsam unwirkliche, etwas unheim-
liche David-Lynch-Atmosphäre, die dabei
entsteht, ist auch den schweren lila Vorhän-
gen geschuldet, mit denen die Bühnenwän-
de ausgekleidet sind, sowie einem schreck-
lich ungemütlichen Soundtrack (Xenia
Wiener) mit akustischen Einschlägen und
einer teils laut verstärkten Synthesizermu-
sik, die sich pilzig-psychedelisch wie Mehl-
tau über die Szenen legt.

Mundruczó betont im Programmheft,
dass ihn der Vorgang des Erinnerns interes-
siert habe, die selektierende, manipulative
Funktion des Gedächtnisses bei der Rück-
schau Lilioms auf sein Leben. Daher wohl
die symbolistische, albtraumhaft surreale
Anmutung mancher Szenen: Die Blätter,
die es regnet. Der Schnee, der fällt. Die feu-
ergelben Nebel von Avalon. Das Plastikkro-
kodil, die Hühnerkopfmasken, die alber-
nen Luft(ballon)gewehre der Stadtpolizei.
Liliom erinnert sich, rekonstruiert
bruchstückhaft seine Geschichte: Wie er,
der halbseidene „Hutschenschleuderer“,
mit dem Dienstmädchen Julie der Liebe sei-
nes Lebens begegnet und daraufhin von
der eifersüchtigen Karrussellbesitzerin
Muskat entlassen wird. Wie das mittellose
Paar dann bei einer Verwandten Unter-
schlupf findet, der Fotografin Hollunder
(bei Sandra Flubacher eine kernige Eman-
ze). Wie er aus Frust anfängt, Julie zu prü-
geln und sich mit dem Finsterling Ficsur
herumzutreiben (Tilo Werner als räudiger
Straßenköter-Hippie), mit dem er auch
mal ein Spaßbad im Wasserbecken nimmt.
Mundruczó hat Empathie für Molnárs
Figuren, karikiert oder denunziert sie
nicht, zeigt sie als selbstbewusste, moder-
ne Menschen. Das ist schön. Vor allem die
Frauen sind stark. Maja Schöne ist als Julie
kein naives Ding um die zwanzig, sondern
eine gestandene Frau, pferdeschwanz-

keck, frech und cool. Mit ihrer Freundin
Marie (Yohanna Schwertfeger) simuliert
sie beim Seilspringen multiple Orgasmen.
Wenn Julie mit Liliom Sex auf der Park-
bank hat, ist das auch von ihr so gewollt.
Sie liebt radikal und weiß, worauf sie sich
mit diesem Strizzi einlässt: „Es muss auch
solche geben.“ Später verhärtet sie unter
dem Gift toxischer Männlichkeit.
Fabelhaft auch, wie Oda Thormeyer ih-
rer Frau Muskat eine stolze Restwürde und
Wärme bewahrt. Intensiv sind die Szenen,
die der Regisseur in Castorf-Manier live
aus dem Inneren enger Holzräume heraus
filmt: die ganze Beengtheit und Armselig-
keit des Milieus in einem Bild im Kasten.
Dass die traumspielartige Inszenierung
trotzdem nicht aufgeht, liegt an ihrer stilis-
tischen Unausgegorenheit ebenso wie an
ihrer Bilderlastigkeit auf Kosten der Spra-
che. Es liegt aber auch daran, dass Mund-
ruczó nicht klar machen kann, worauf er ei-
gentlich hinaus will. Soll Liliom verstan-
den oder gar exkulpiert werden? Muss es
auch in „Me Too“-Zeiten „solche wie ihn“
geben?
Der pulsierend energetische Jörg Pohl
ist in der Rolle des Liliom weniger der har-
te, dummdreiste Proll-Schlägertyp als ein
verhinderter Unterhaltungskünstler, eine
Mischung aus Ben Becker und Oliver Po-
cher mit dem Zeug zum Entertainer. Wenn
Liliom nach 16 Jahren Fegefeuer noch mal
auf die Erde zurück darf, um etwas „Schö-
nes“ zu vollbringen, schlägt er seine Toch-
ter Luise, wie er schon die Mutter geschla-
gen hat. So steht es bei Molnár. Wobei bei-
de Frauen die Schläge nicht als Schmerz
empfinden. Anders bei Mundruczó. Bei
ihm spielt eine Schauspielerin mit Down-
syndrom die Tochter (Paula Karolina Stol-
ze). Die ist sehr heiter und selbstbewusst
und lässt zusammen mit Julie den armen
Tropf über ein Seil springen. Immer wie-
der. Wobei Luise den Kopf schief legt und
Liliom aufmunternd zuruft : „Na?!“ Dazu
blinken die Roboterarme und signalisieren
das Happy End einer zweiten Chance.
Ganz nachvollziehbar ist das nicht.

Wie sie alle


lustig sind


DieLösung unseres literarischen
Sommerrätsels und die Gewinner

Wenn es ein Happy End
gibt, ist darin fast immer eine
Bitternote enthalten

Liliom (Jörg Pohl) erhält Handreichungen eines Industrieroboters.FOTO: MATTHIAS HORN

Träumen Roboter beim Sex von der Liebe?


„Ich bin Teil des repressiven Patriarchats“: Der ungarische Regisseur Kornel Mundruczó inszeniert bei den Salzburger


Festspielen Ferenc Molnárs Sozialmärchen „Liliom“ als überirdischen High-Tech-Beitrag zur „Me Too“-Debatte


Intensiv sind die Szenen, die der
Regisseur live aus dem Inneren
enger Holzräume heraus filmt

Die Engel sind politisch korrekte


Toleranzdenker, die „Mitarbeitende“


genannt werden möchten


Schiefergraugold,


sorgsam geschürft


Im Juli starb Brigitte Kronauer.


Ihr letztes Buch erzählt von den Langsamen,
Einsamen, Enthusiastischen. Und ist voller Witz.

Der Anglist Robert


Weimann ist tot


Brigitte Kronauer:Das
Schöne, Schäbige,Schwan-
kende. Romangeschichten.
Klett-Cotta, Stuttgart


  1. 596 Seiten, 26 Euro.


DEFGH Nr. 190, Montag, 19. August 2019 (^) LITERATUR 11
FEUILLETON

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