Süddeutsche Zeitung - 20.08.2019

(National Geographic (Little) Kids) #1

Meinung


WarumIndiens Premier


Narendra Modi in Kaschmir


mit dem Feuer spielt 4


Panorama


Tamagotchi und Arschgeweih:


Trends aus den Neunzigern, die


nicht wiederkommen werden 8


Feuilleton


Mann und Frau, Tenor und Sopran:


Der bosnische Sänger Božo Vrećo


lässt sich nicht einordnen 11


Wissen


Jagen oder nicht jagen –


der Schutz von Elefanten wird


neu verhandelt 14


Wirtschaft


Schonlänger herrscht Chaos bei


der Restaurantkette Vapiano.


Was läuft schief? 17


Medien, TV-/Radioprogramm 27,


Forum & Leserbriefe 13


Kino · Theater im Lokalteil


Rätsel 27


Traueranzeigen 18


Madrid– Dasspanische Rettungsschiff
Open Armshat den Transport der 107 Mi-
granten auf die Balearen abgelehnt. Über
Spaniens Angebot könne nur nachgedacht
werden, wenn ein besseres und schnelle-
res Schiff zur Verfügung gestellt werde, teil-
te die Organisation mit. ap  Seite 7

Wien– Bundeskanzlerin Angela Merkel
und Ungarns Ministerpräsident Viktor Or-
bán haben eine Gedenkveranstaltung im
westungarischen Sopron dazu genutzt, um
für einen „Neustart“ zur Lösung des Streits
in der europäischen Migrationspolitik zu
werben. Beide stützen dabei ihren „Opti-
mismus“ auf die neue EU-Kommission un-
ter Ursula von der Leyen. Auch wenn Mer-
kel weiterhin von „unterschiedlichen Mei-
nungen in einzelnen Punkten“ sprach, be-
zeichnete sie die zuletzt arg strapazierten
bilateralen Beziehungen zu Ungarn als
„gut“. Sie rief dazu auf, „Schleppern und
Schleusern das Handwerk zu legen“ und
die europäischen Außengrenzen besser zu
schützen.
Anlass für das Treffen von Merkel und
Orbán bot der 30. Jahrestag des Paneuro-

päischen Picknicks. Am 19. August 1989
hatten mehr als 600 DDR-Bürger diese
grenzüberschreitende Veranstaltung zwi-
schen Ungarn und Österreich zur Flucht in
den Westen genutzt, Ungarns Grenzschüt-
zer hatten nicht eingegriffen. „Aus dem
Picknick wurde die größte Massenflucht
aus der DDR seit dem Bau der Mauer 1961.
Aus dem Picknick wurde ein Weltereignis“,
sagte Merkel bei dem Festakt in Sopron am
Montag und dankte Ungarn für die Unter-
stützung bei der Öffnung der Grenze, die
als Vorbote des Mauerfalls und der deut-
schen Einheit gilt. „Deutschland wird das
Ungarn nicht vergessen“, erklärte sie. „So-
pron sei ein „Beispiel dafür, wie viel wir Eu-
ropäer erreichen können, wenn wir für un-
sere unteilbaren Werte mutig einstehen“.
Das durfte auch als Mahnung verstanden

werden an Orbán, der seit Längerem so-
wohl mit der Berliner Regierung als auch
mit der Brüsseler EU-Kommission in diver-
sen Fragen im Clinch liegt. Neben Ungarns
rigidem Kurs in der Flüchtlingspolitik geht
es dabei auch um den unter der Fidesz- Re-
gierung vorangetriebenen Demokratieab-
bau im Land. Das EU-Parlament hatte des-
halb im vorigen Herbst wegen mutmaßli-
cher Rechtsverstöße ein sogenanntes Arti-
kel-7-Verfahren gegen Ungarn auf den
Weg gebracht, das im äußersten Fall zum
Entzug der Stimmrechte im Ministerrat
führen kann. Zugleich hatte die Europäi-
sche Volkspartei die Mitgliedschaft der Fi-
desz-Partei suspendiert.
Konkrete Lösungen für die Streitfragen
wurden zumindest öffentlich in Sopron
nicht angesprochen. Merkel appellierte

daran, innerhalb der EU „miteinander zu
reden und Kompromisse zu machen“. Or-
bán erklärte, Europas Einheit müsse „von
Konflikt zu Konflikt“ stets neu erschaffen
werden. Trotz aller Differenzen setzte
auch Ungarns Regierungschef auf Harmo-
nie und versicherte Merkel, sie genieße die
„Wertschätzung der ungarischen Nation“.
Zugleich demonstrierte Viktor Orbán
ein pralles Selbstbewusstsein. Nach seiner
Darstellung waren es die Stimmen Un-
garns und der anderen drei Visegrad-Staa-
ten, die bei der Wahl von der Leyens zur
neuen EU-Kommissionspräsidentin den
Ausschlag gaben. „Das Gewicht Mitteleuro-
pas wird laufend wachsen“, kündigte er
nun an. Innerhalb der EU sei dies „eine
neue Ergänzung zur deutsch-französi-
schen Achse“. peter münch  Seite 4

München– BASF-Chef Martin Brudermül-
ler löst mit seiner Forderung nach einer
neuen Agenda 2010 eine Debatte aus. Die
Wirtschaftsweise Isabel Schnabel sprach
sich für eine langfristige Agenda für Klima-
schutz und gegen Fachkräftemangel sowie
Infrastrukturdefizite aus. Clemens Fuest
vom Ifo-Institut sagte, anders als bei der
Agenda 2010 der Regierung von Ex-Kanz-
ler Gerhard Schröder gehe es heute um die
Digitalisierung. aha  Wirtschaft

Berlin– Kinder von deutschen IS-Anhän-
gern sind erstmals an der Grenze zwischen
Syrien und dem Irak an Vertreter der Bun-
desrepublik übergeben worden. Das bestä-
tigte eine Sprecherin des Auswärtigen Am-
tes. Die Kinder seien von Mitarbeitern des
Generalkonsulats Erbil empfangen wor-
den. Sie sollen von Erbil aus nach Deutsch-
land weiterreisen. Es handelt sich um drei
Kinder zwischen zwei und sieben Jahren
und ein krankes Baby.kna  Seite 7

TV-Programm
vom20. bis 26. August 2019

Gesucht! Seit einigen Tagen hing das Bild
eines 43-Jährigen in den Vitrinen der Poli-
zeiboxen, wie die Japaner ihre winzigen
Polizeiwachen nennen. Die Beamten rie-
fen zur Hilfe bei der Suche nach dem grim-
migen Mann mit Fünftagebart auf, des-
sen Klarnamen sie veröffentlichte. Der
Vorwurf: Er ist ein Verkehrsrowdy. Mitten
auf der Autobahn in Ibaraki südwestlich
von Kyoto hatte der Mann, der in einem
Mietwagen unterwegs war, einen ande-
ren Fahrer zum Anhalten gezwungen.
Und den 24-Jährigen dann angegriffen:
„Ich töte dich“, rief er und schlug durch
dessen offenes Fenster auf ihn ein.
Was der Gesuchte, der weiterer Fälle
von sogenanntem Road Rage verdächtigt
wird, nicht ahnen konnte: Sein Opfer hat-
te auf dem Armaturenbrett des Kleinwa-
gens eine Kamera montiert, die alles auf-
zeichnete. Der Angegriffene ging damit
zur Polizei, und am Sonntag wurde der Tä-
ter in Osaka verhaftet, fast 700 Kilometer

vom Tatort entfernt. Die Festnahme war
das beherrschende Thema im Frühstücks-
fernsehen, alle paar Minuten lief das Vi-
deo. Erst die Schlängelfahrt des Täters,
mit der er sein Opfer ausbremste. Dann
die Szene, in der er aus seinem Fahrzeug
springt und auf den jüngeren Mann zu-
stürzt.
Solche Fälle von Road Rage häufen sich
in Japan – von 2017 auf 2018 haben sie
sich verdoppelt. Vor zwei Jahren ereigne-
te sich eine besonders schwere Straftat:
Ein junger Mann stoppte eine Familie auf
der Überholspur der Tomei-Autobahn,
der wichtigsten Ost-West-Autobahn in Ja-
pan, und griff den Vater an, weil er sich
auf einer Raststätte zuvor über die Grup-
pe aufgeregt hatte. Ein nachfolgender

Lastwagen knallte in das Familienauto,
die Eltern kamen ums Leben, die beiden
Töchter wurden verletzt. Auch hier zeich-
nete die Kamera an Bord des Wagens alles
auf.
Der aktuelle Vorfall hat in Japan nun ei-
ne breite Diskussion ausgelöst. Wie ver-
hält man sich im Verkehr? Und wie sollten
Verkehrsrowdys bestraft werden? Rei-
chen die bisherigen Vorgaben? Viele Japa-
ner interpretieren die Verkehrsregeln
salopp. Sie drängeln im Stau, schneiden
anderen den Weg ab, zeigen Richtungsän-
derung nicht durch Blinker oder Handzei-
chen an, fahren zu schnell und bei Rot
noch über die Ampel.
Auch in anderen Verkehrsmitteln neh-
men manche Japaner wenig Rücksicht

auf andere. Es ist keine Seltenheit, dass
Pendler in U-Bahnen und Zügen auf ih-
rem Platz sitzen bleiben, auch wenn eine
alte Frau oder ein Mann mit Krücken zu-
steigt. Anstatt andere darauf aufmerk-
sam zu machen, dass sie aussteigen wol-
len, boxen sich manche lieber zur Türe
durch. Das Auto scheint manchen Japa-
nern ein ähnliches Gefühl der Anonymi-
tät zu verleihen. Auch die erwartete Kon-
formität und die strengen Hierarchien in
der japanischen Gesellschaft könnten
Gründe dafür sein, dass bei manchen die
Wut überkocht.
Die Nationale Kommission für Öffentli-
che Sicherheit jedenfalls betonte nun laut
Japan Times, die Vorschriften bei gefährli-
chem Fahren bereits vor einem Jahr ver-
schärft zu haben. Autofahrern empfiehlt
sie, eine Kamera im Wageninneren zu
installieren. Im jüngsten Fall hat das zu-
mindest geholfen, einen Verdächtigen zu
finden. christoph neidhart

von c. von bullion, n. fried,
c. gammelin und h. roßbach

Berlin – Die Bundesregierung drückt
beimSolidaritätszuschlag aufs Tempo und
will noch im Herbst ein entsprechendes Ge-
setz verabschieden. Bereits am Mittwoch
soll das Kabinett den Gesetzentwurf von
Bundesfinanzminister Olaf Scholz (SPD)
beschließen. Das bestätigten die Fraktions-
chefs von SPD und Union am Montag in
Berlin. Geplant ist, dass der Zuschlag auf
die Einkommensteuer ab 2021 für 95 Pro-
zent der Beschäftigten wegfällt. Weil der
Bundesrat nicht zustimmungspflichtig ist,
muss nur der Bundestag das Gesetz verab-
schieden. Die Mehrheit dort gilt als sicher.
CSU-Chef Markus Söder sagte, die Maß-
nahme sei ein erster, „aber kein abschlie-
ßender Schritt“. In Bayern wird bezweifelt,

dass der Vorschlag von Scholz, wonach
Spitzenverdiener weiterhin den vollen Soli
zahlen sollen, etwaigen Klagen standhal-
ten wird. Man sei in einer verfassungs-
rechtlich nicht einfachen Situation, sagte
Söder. „Wir hätten uns eine sofortige voll-
ständige Abschaffung als viel besseres Si-
gnal gewünscht“. Da die Einkommen in
Bayern rund zehn Prozent über dem Durch-
schnitt in Deutschland lägen, würden im
Freistaat weniger Steuerzahler von der teil-
weisen Abschaffung profitieren.
Beim Thema Mieten und Wohnen hat
der Koalitionsausschuss sich am Wochen-
ende darauf verständigt, die Mietpreis-
bremse bis 2025 zu verlängern. Sie sieht
vor, dass in Gegenden mit angespanntem
Wohnungsmarkt die Miete bei Neuvermie-
tungen nicht mehr als zehn Prozent über
der ortsüblichen Vergleichsmiete liegen

darf. Wo überhöhte Mieten verlangt wer-
den, sollen Mieter rückwirkend Geld zu-
rückfordern können, über einen Zeitraum
von 2,5 Jahren. Die SPD hatte hier eine län-
gere Zeitspanne gefordert.
Der Mietspiegel soll nach den Plänen
der Koalition künftig sechs statt der bishe-
rigen vier Jahre berücksichtigen. Damit
könnte gerade in Städten die örtliche Ver-
gleichsmiete niedriger angesetzt werden.
Die Nebenkosten beim Erwerb von selbst
genutztem Wohnraum sollen gesenkt wer-
den. Wer eine Wohnung oder ein Einfamili-
enhaus kauft, soll maximal die Hälfte der
Maklerkosten tragen müssen. Um Kommu-
nen mehr Zugriff auf Bauland zu geben,
soll auch die Bahn verbilligte Grundstücke
abgeben. Der Deutsche Mieterbund be-
grüßte die Beschlüsse. Neben Neumietern
müssten allerdings auch Mieter von Be-

standswohnungen geschützt werden. Der
Bundesverband Freier Immobilien- und
Wohnungsunternehmen hingegen warnte
vor staatlicher Regulierung in Städten wie
Berlin. Das „planwirtschaftliche Experi-
ment“ gehe auf Kosten von Mietern.
Bei der Grundrente steht eine Einigung
noch aus. Die SPD beharrt weiter auf einer
Grundrente ohne Bedürftigkeitsprüfung,
die Union lehnt das ab. Bundessozialminis-
ter Hubertus Heil (SPD) und Kanzleramts-
chef Helge Braun (CDU) sollen in den nächs-
ten Wochen ein „Grundsatzpapier“ erarbei-
ten. „Die Grundrente ist kein Wahlge-
schenk für die Wahlen in den neuen Bun-
desländern“, sagte Söder. Die kommissari-
sche SPD-Chefin Manuela Schwesig beton-
te dagegen, die Grundrente sei eine zentra-
le politische Antwort auf die sozialen Ver-
werfungen in Ostdeutschland.  Seite 4

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HEUTE


Die SZ gibt es als App
fürTablet und Smart-
phone: sz.de/zeitungsapp

„Open Arms“ will die


Balearen nicht ansteuern


Berlin– Der frühere Ministerpräsident
Brandenburgs und ehemalige SPD-Partei-
chef Matthias Platzeck blickt mit Sorge auf
die Landtagswahl am 1. September. Er ma-
che bei vielen Gesprächen in seiner Heimat
eine „eigentümliche Stimmung“ aus, sag-
te er derSüddeutschen Zeitung.Er habe
den Eindruck, dass bei den Menschen die
Kränkungen, die sich vor allem bei den Um-
brüchen in den 1990er-Jahren angesam-
melt hätten, jetzt zeitverzögert an die Ober-
fläche drängten. Dass sich Bürger trotz
sehr guter Wirtschaftsdaten von den regie-
renden Parteien abwenden, liege auch dar-
an, dass sie von der Demokratie enttäuscht
seien, sagte er. Die „Erotik der Demokra-
tie“ komme im Osten nicht an. Viele Bürger
wendeten sich ab, die als ehrenamtliche Ge-
meinderatsmitglieder viel Freizeit drange-
geben hätten, um für die Gemeinde Vorha-
ben zu beschließen, und später hätten erle-
ben müssen, dass einer dagegen geklagt
habe und dann alles umsonst gewesen sei.
Dass „teilweise ausuferndes Individual-
recht über demokratische Prozesse ge-
stellt wird, ist für viele Bürger enttäu-
schend“. Platzeck hat sich aus der aktiven
Politik zurückgezogen; er leitet derzeit ein
Gremium, das den 30. Jahrestag des Mau-
erfalls vorbereitet. gam  Wirtschaft

Von Sachsen bis Baden-Württemberg und
Bayern gebietsweise Regen. Im Westen bei
wechselnder Bewölkung meist trocken. 19
bis 26 Grad werden erreicht. Mäßiger
Wind aus Nordwest mit starken Böen aus
West bis Südwest.  Seite 13 und Bayern

Aus dem Weg


Japanempört sich über brutale Verkehrsrowdys


Regierung will Soli schnell abhaken


Noch im Herbst soll der Bundestag das Gesetz zur teilweisen Abschaffung verabschieden. Die


Mietpreisbremse wollen Union und SPD bis 2025 verlängern. Bei der Grundrente gibt es weiter Streit


Xetra Schluss
11715 Punkte

N.Y. Schluss
26136 Punkte

22 Uhr
1,1084 US-$

Karren und Knarren: Welche Autos in „Tatort“-Krimis rollenMedien


Orbán schmeichelt Merkel


Ungarns Ministerpräsident gibt sich selten moderat – und plädiert für einen Neustart im Streit um die EU-Migrationspolitik


BASF-Chef stößt Debatte


um neue Agenda 2010 an


Deutschland holt Kinder


von IS-Kämpfern zurück


26
°
/
°

Einst bedeckte eine gewaltige


Eiskappe denisländischen Vulkan Ok.


Jetzt ist dort fast nur noch nackter Stein.


Nachruf auf einen Gletscher


 Die Seite Drei


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Platzeck blickt


besorgt auf Wahl


Brandenburgs Ex-Ministerpräsident:


Bürger von Demokratie enttäuscht


(SZ) Das Einschulungsfoto gehört zu den


ikonischen Bildern, die jede Familie wie ei-


nen Schatz hütet. Es ist der röhrende


Hirsch des Albums, die Mondlandungs-


aufnahme der Diashow; nur das erste Foto


nach der Geburt der Tochter oder des Soh-


nes steht in seiner historischen Bedeu-


tungsfülle gleichwertig neben dem Foto


des ersten Schultags. Erinnern wir uns,


wie gleichermaßen stolz und unsicher der


Blick des Kindes in die Kamera ausfiel; wie


fremd und verlockend zugleich die Schultü-


te im Arm lag – Aufbruch und Loslösung


lautete die Kernaussage dieses Fotos, an


dessen singulären Zauber kein Hesse-Ge-


dicht heranreichen konnte. Die Schultüte


selbst war noch einmal ein ganz eigenes


Mysterium. Einerseits galt sie dem Kind


als Wegzehrung für die erste Strecke, auf


der die Süße der Kindheit schnell verloren


ging und deshalb durch Marzipanschwein-


chen, Toblerone und Ferrero Küsschen ge-


streckt werden musste. Dann aber war sie


auch so etwas wie das Zepter der ersten


Herrschaft über das Wissen und die ersten


Lebenserfahrungen – wie auch immer,


Kind und Schultüte mussten fotografisch


festgehalten werden, nicht nur einmal, son-


dern auch von Tante und Schwager.


Deshalb gab es eine Fülle von Einschu-

lungsfotos, deren überschaubare motivi-


sche Vielfalt freilich dazu führte, dass nur


ein einziger Abzug den Eingang ins Fotoal-


bum fand. Datenrechtlich eine einwand-


freie Lösung, obschon sich früher kein


Mensch darüber einen Kopf gemacht hat.


Damals war das Neue wert genug, für die


Ewigkeit festgehalten zu werden. Heute


zählt neben dem Erstklässler die Daten-


schutzverordnung zu den neuen Erschei-


nungen jedes neuen Schuljahrs, und wenn


es etwas gibt, das dem Erstklässler seinen


inneren und äußeren Zauber nimmt, dann


ist es die Datenschutzverordnung. Gerade


berichtetBildwieder von einem unerhör-


ten Vorfall in Halle, wo eine Mutter angeb-


lich beklagt habe, dass sie keine Bilder von


der feierlichen Aufnahme der Erstklässler


in das Schulgeschehen machen durfte. Die


Datenpolitik des Bilderverbots, gegen die


der Calvinismus eine heitere Libertinage


gewesen sein muss, lässt öde Leerstellen in


Mutterherzen und Alben zurück. So sehen


es jedenfalls die einen, allen voran dieBild-


Zeitung, deren Lust am Bild – mag es einen


noch so groben Schrecken spiegeln – Pro-


gramm ist.


Auf der anderen Seite sieht es übrigens

nicht so negativ aus, um im Sprachbild der


Bildentwicklung zu bleiben. Natürlich dür-


fen Eltern ihre Kinder mit Schultüte foto-


grafieren, später nach der Feier auf dem


Schulhof. Es gibt nämlich Lehrer, Eltern


und auch Kinder, denen es wahnsinnig auf


den Senkel geht, wenn andere Eltern, Ge-


schwister und Verwandte ständig das Han-


dy hochhalten, die Kamera justieren und


den ersten Schultag ihrer Kinder zuschan-


den fotografieren, als gebe es nicht auch


ein Leben vor den Erinnerungen.


DAS WETTER



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Er war einmal


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