National Geographic Germany - 08.2019

(WallPaper) #1

W


ES WÄRE ALLES BESSER, WENN WIR AUFHÖREN WÜRDEN, DIE
MENSCHEN IN EINHEIMISCHE UND MIGRANTEN ZU UNTERTEILEN.

EXPLORER (^) | E S S AY
TEXT: MOHSIN HAMID
Eine Welt voller
Wanderer
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WIR ALLE STAMMEN von Migranten ab. Unsere Spe-
zies, der Homo sapiens, hat sich nicht in Lahore
entwickelt, wo ich diese Zeilen schreibe. Ebenso
wenig fand unsere Evolution in Shanghai oder
Topeka statt, in Buenos Aires oder Kairo oder Berlin,
wo Sie meine Worte vielleicht lesen.
Selbst wenn Sie heute im Rift-Tal in Afrika leben,
dort, wo die ältesten Überreste unserer Spezies ent-
deckt wurden, haben auch Ihre Urahnen die Gegend
verlassen, sind gewandert, haben sich verändert und
vermischt. Genauso habe ich Lahore den Rücken
gekehrt und jahrzehntelang in Nordamerika und
Europa gelebt, um dann zurückzukehren und im
früheren Haus meiner Eltern und Großeltern zu
wohnen, in dem ich meine Kindheit verbracht habe.
Scheinbar bin ich also ein Einheimischer, aber meine
Reisen haben mich völlig verändert.
Keiner von uns ist einheimisch an dem Ort, den
wir unser Zuhause nennen. Und auch die Gegenwart
ist es nicht. Ein Mensch zu sein, heißt vorwärts durch
die Zeit zu wandern – die Sekunden gleichen dabei
Inseln, auf denen wir wie Schiffbrüchige eintreffen
und von denen wir durch die Gezeiten wieder weg-
geschwemmt werden. Immer wieder kommen wir
an, ein neuer Augenblick, eine neue Insel, die wir
noch nie zuvor erlebt haben. Im Laufe eines Lebens
häufen sich die Wanderungen durch die Sekunden
an, verwandeln sich in Stunden, Monate, Jahrzehnte.
Von Kindheit an werden wir zu Flüchtlingen: Schule,

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