MAN SAGT UNS, DASS NICHT
NUR DIE GEOGRAFISCHE
WANDERUNG AUFGEHALTEN
WERDEN KÖNNE, SONDERN
AUCH DIE WANDERUNG
DURCH DIE ZEIT. MAN KÖNNE
QUASI IN DIE VERGANGEN-
HEIT ZURÜCKKEHREN.
E S S AY 35
Alles zurücklassen
Der Künstler Tom Kiefer schuf Bilder von Gegenständen
wie etwa Wasserflaschen (r.), die Migranten an der
US-amerikanischen/mexikanischen Grenze zurück ließen.
Um zu verdeutlichen, dass die Migranten auf ein
besseres Leben hoffen, gab Kiefer dem Fotoprojekt den
Titel „El Sueño Americano“ – „Der amerikanische Traum“.
einer anderen Platz macht. Die Macht unserer Tech-
nologien, ihre Wirkung auf unseren Planeten, wird
größer. Entsprechend beschleunigt sich der Wandel,
neue Belastungen entstehen, und unsere flexible
Spezies wird wieder wandern – als Teil ihrer Antwort
auf diese Belastungen. So, wie unsere Urgroßmüt-
ter und Urgroßväter es getan haben, denn dazu sind
wir gemacht.
Und doch sagt man uns, solche Wanderungsbe-
wegungen seien nie da gewesen, sie seien eine Krise,
eine Flut, eine Katastrophe. Man sagt uns, es gebe
zweierlei Menschen, Einheimische und Migranten,
und die müssten um die Vorherrschaft kämpfen.
Man sagt uns, dass nicht nur die geografische
Wanderung aufgehalten werden könne, sondern
auch die Wanderung durch die Zeit. Man könne in
die Vergangenheit zurückkehren, in jene bessere
Zeit, in der unser Land, unsere Rasse, unsere Religion
wirklich noch großartig war. Dazu müssten wir nur
die Teilung akzeptieren – die der Menschheit in
Einheimische und Migranten.
Es ist die Vision einer Welt mit Mauern und
Schranken, mit Wächtern und Waffen und Überwa-
chung zur Sicherung der Barrieren. Eine Welt, in der
die Menschen so tun müssen, als seien sie starr,
unbeweglich. Sie sind gebunden an das Land, auf
dem sie stehen, und an eine Zeit, die ihrer Kindheit
ähnelt, eine imaginäre Zeit, in der Stillstand als ima-
ginäre Möglichkeit existiert.
Das sind die Träume einer Spezies, die Krieg gegen
sich selbst führt, gegen ihre Natur als Wanderer,
Freunde, Spielzeug, die Eltern, all das macht unsere
Welt aus. All das verschwindet, ersetzt durch neue
Gebäude, Telefonanrufe, Fotoalben und Erinnerun-
gen. Erst treten wir auf die Straße und blicken zu
den turmhohen Gestalten der Erwachsenen auf,
treten wenig später wiederum hinaus und ziehen
mit unserer Jugend die Blicke auf uns, und noch
später tun wir das Gleiche mit unseren Kindern oder
denen unserer Freunde – und dann noch einmal,
wie unsichtbar, für keinen mehr von Interesse,
gebeugt von der Schwerkraft.
Wir alle erleben das fortdauernde Drama des
Neuen und den fortlaufenden Kummer über den
Verlust dessen, was wir hinter uns gelassen haben.
Es ist ein universeller Kummer, und er ist so macht-
voll, dass wir ihn am liebsten leugnen, ihn kaum
einmal in uns selbst anerkennen, von anderen ganz
zu schweigen. Die Gesellschaft ermutigt uns, nur
das Neue, das Erreichte in den Mittelpunkt zu stellen,
aber nicht den Verlust, jenen anderen Faden, der
unsere Spezies eint und verbindet.
Durch die zeitliche Welt bewegen wir uns zwangs-
weise. Durch den Raum, durch die physische Welt
wandern wir scheinbar aus eigenem Willen. Aber
auch darin steckt ein Zwang. Wir wandern, wenn es
unerträglich wird, da zu bleiben, wo wir sind: wenn
wir es keinen Augenblick länger aushalten, in unse-
rem Schlafzimmer herumzuliegen; wenn wir keinen
Augenblick länger hungernd auf unseren sonnen-
versengten Feldern bleiben können und uns anders -
wo etwas zu essen suchen müssen. Wir wandern
wegen Umweltbelastungen, physischer Gefahren
oder Engstirnigkeit unserer Nachbarn – und um da
zu sein, wo wir sein wollen, um das anzustreben, was
wir anstreben wollen.
Wir sind eine Spezies von Wanderern. Die Men-
schen waren immer unterwegs. Unsere Vorfahren
sind gewandert, aus Afrika ausgewandert, auf ge-
wundenen Wegen, das eine Mal in diese Richtung,
das andere Mal in jene, getragen durch Strömungen
von innen und von außen.
AUCH UNSERE ZEITGENOSSEN sind unterwegs, vor
allem von den ländlichen Gebieten in die Großstädte
Asiens und Afrikas. Und unsere Nachkommen wer-
den ebenfalls unterwegs sein. Sie werden wandern,
wenn sich das Klima verändert, wenn der Meeres-
spiegel steigt, wenn Kriege geführt werden, wenn
eine Form der Wirtschaftstätigkeit schwindet und
FOTO: TOM KIEFER, REDUX