08.2019 reader's digest 137Ein neuer Freund
Ein Waisenkind“, vermutete Patti. Ich
sah dem Bärenkind zu, wie es ziel
sicher auf die Schüssel mit Sonnen
blumenkernen zustrebte, die wir für
die Vögel aufgestellt hatten. „Wir
könnten ihm doch ein bisschen was
zu essen geben. Was meinst denn du?“,
sagte Patti. Warum fragt e sie das? Sie
wusste doch ge nau, wie wir uns das
ganze Frühjahr abgemüht hatten, die
Tiere loszuwerden.
Bei allem Mißtrauen musste ich
einräumen, dass der kleine Hunger
leider kaum halb so groß war wie un
ser Hund. Damit müssten wir doch
zurechtkommen können! „Meinet
wegen“, sagte ich. Aber da war Patti
schon mit einer Portion Sonnenblu
menkernen an der Haustür.
„Vorsicht! Vielleicht lauert im Wald
die Bärenmutter!“, warnte ich. Doch
Patti hörte mich nicht mehr. Ihr war
noch nie ein Tier über den Weg gelau
fen, das sie nicht sogleich ins Herz ge
schlossen hatte. Wie oft hatte sie nicht
schon streunende Hunde und andere
verirrte Gottesgeschöpfe heimge
schleppt! Als das Bärchen sie kommen
sah, lief es zunächst zum Kirschbaum,
stellte sich aufrecht und klammerte
sich an den Stamm – wohl für den Fall,
dass Flucht geraten schien.
Vom Esszimmerfenster aus sah ich
Patti zu, wie sie sich vor dem Tier
chen ins Gras setzte und beruhigend
auf es einsprach. Das Bärchen stand
nachdenklich still, bis es begriff, dass
meine Frau es gut mit ihm meinte,die Einfahrt verstreute Ballons – im
mer noch prallrund wie am Vorabend.
„Augenblick mal“, sagte ich erstaunt.
„Aufgehängt haben wir doch nur acht!“
Nicht nur hatten die Bären von
allen unseren Ballons geschickt den
Honig abgeschleckt, ohne sie zum
Platzen zu bringen – nein, sie hatten
offensichtlich auch noch aus fast ei
nem Kilometer Entfernung einen Bal
lon vom Nachbarhaus mitgebracht.
Ich rief den Wildhüter an. Über den
Ballontrick lachte er nur. „Versucht’s
mal mit einer Schleuder“, meinte er
nur. „Manchmal hilft das.“
Gleich an diesem Nachmittag
brachten wir vom Kramladen eine
Schleuder mit. Am Abend gelang
es mir, der großen Bärin drei Ku
geln in den Pelz zu katapultieren. Es
dürfte sie nur ein bisschen gezwickt
haben; immerhin verstand sie aber
die Warnung.
Die Bärenfamilie ließ uns künftig
in Ruhe. Nach zwei Wochen Frieden
erklärten wir deshalb das Problem
endgültig für gelöst.
Kaum einen Monat nachdem wir
unsere Bärenvertreibung inszeniert
hatten, kam jener schöne Nachmit
tag im Juni: Da spazierte ein niedli
ches schwarzes Kerlchen wohlgemut
unsere Einfahrt herauf – ein etwa ein
jähriges Bärenexemplar, höchstens
25 Pfund schwer.
Meine Frau und ich ahnten es da
mals noch nicht – aber an diesem
Nachmittag sollte sich unser ganzes
Leben dramatisch ändern.