Reader\'s Digest Germany - 08.2019

(Elliott) #1
140 reader's digest 08.2019

gesellten sich drei weitere Artgenos-
sen zu ihnen. Nun fütterten wir also
ihrer fünf.
Und damit nicht genug. Gegen
Ende September versammelten sich
regelmäßig neun Jungbären auf unse-
rem Gelände. Sie hatten erkannt, dass
sie bei uns sicher waren. Woraufhin
wir auch selber schon unseren Be-
sitz entsprechend umbenannten – in
„Zuflucht“.
Alljährlich mit dem 1. September
beginnt bei uns die Jagdsaison. Wir
mussten uns Sorgen machen. Denn
die Jäger setzen Lockspeisen aus:
Fleisch, Fisch, Hundefutter, Sirup,
Marmelade oder anderes Bärenlabsal.
Sie warten dann auf ihren Hochsitzen
ab, bis sie die ahnungslosen Opfer
beim Essen abknallen können.
Ich bin selbst viele Jahre auf die
Jagd gegangen. Aber so hatte ich nie
gejagt. Solche Fallenstellerei hat we-
der mit Geschicklichkeit noch Sports-
geist zu tun. Zum Glück sind Bären
intelligent: Nach dem ersten blutigen
Jagdwochenende begreifen sie die un-
fairen Spielregeln. Danach kommen
nur noch wenige um.
Unser jugendliches Rudel entging
recht geschickt den Nachstellungen
der Jäger. Aber gegen Mitte Septem-
ber waren sie doch weniger gewor den.
Als der Oktober kam, waren sie alle-
samt verschwunden, auch Purzel und
Skinny. Sie lagen nun in Win terruhe.
Doch als der Winter kälter wurde, be-
fielen uns Unruhe und Selbstvorwürfe.
Hatten wir sie nicht zu sehr verwöhnt?


Waren sie jetzt noch dem Ansturm der
Kältewellen gewachsen?
Aber im Frühjahr kehrten Purzel-
chen und Skinny heil zurück und ge-
nossen bei uns einen neuen Sommer
voller Freundschaft und Gratisfutter.
Trotzdem empfanden wir den gan-
zen nächsten Winter hindurch die
gleichen Ängste wie im Vorjahr.
Erst im Mai erfüllte sich unsere
Hoffnung auf ein Wiedersehen. Als
hätte sie Sinn für dramatische Auf-
tritte, stapfte Purzel ausgerechnet
am Memorial Day, dem Gedenktag
für die Soldaten unserer Kriege, die
Treppe zu unserer Veranda herauf,
Skinny im Gleichschritt hinterdrein.
Wie ein Winterkriegs-Veteran blickte
sie uns mit ihren braunen Augen an,
als wollte sie sagen: Natürlich melde
ich mich wieder zur Stelle! Habt ihr
was anderes erwartet?
Dann setzten sie sich breitbeinig
nieder und fraßen Sonnenblumen-
kerne, als wären sie nie weg gewesen.
Skinny wirkte allerdings verändert. Er
hatte Spaß an der Gesellschaft ande-
rer Bären gefunden und trieb sich nun
mehr mit ihnen herum. Für drei oder
vier Tage in der Woche verabschie-
dete er sich, wir sagten dann: „Skinny
ist wieder mal auf Tour.“
Während seiner Besuche war fest-
zustellen, dass er nicht nur unabhän-
giger, sondern auch größer und ag-
gressiver als Purzelchen war. Freilich
trottete er weiterhin wie ein großes
Schoßhündchen hinter Purzelchen
her. Doch in Gegenwart anderer gab
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