Geo Epoche - 08.2019

(lu) #1
16 46-1 716 j Gottfried Wilhelm leibniz

sen", dessen "unersättlicher Kuriosität". Der Herr­
scher argwöhnt, Leibniz habe "entweder kein
Talent oder keine Lust", eine Aufgabe "zusam­
menzubringen oder zu beenden". Die große We l­
fe ngeschichte etwa: Wird sie denn niemals fertig?
Leibniz fügt sich in die Pflicht, die er seinem
Fürsten schuldet, auch wenn sie ihn zwingt, wie
er klagt, "alle mathematischen, philosophischen
und juristischen Überlegungen, zu denen ich
mich hingezogen fühle, zurückzustellen".
Und als wären diese profanen Belästigungen
noch nicht genug, eskaliert auch noch ein großer
Gelehrtenstreit um die Infinitesimalrechnung.


FüR LEIB NI z ist der Fall klar: 1684 hat er in einer
Wissenschaftszeitschrift erstmals die wesentli­
chen Elemente seines "Calculus" publiziert. Erst
drei Jahre später hat Isaac Newton in seiner
Schrift "Mathematische Grundlagen der Natur­
philosophie" öffentlich nachgezogen.


LITERATURTIPPS

HANS POS ER

zer nichts als "Schmeichler", erfüllt von "Eitel­
keit" und "Ungerechtigkeit".
Das Urteil aber ist gesprochen. Überdies
peinigen Leibniz jetzt auch noch Gicht und
offene Beine. Die Schmerzen versucht er mit
»Gottfried Wilhelm leibniz« neuen Schmerzen zu übertönen: verursacht durch
Die wichtigsten Ideen des
Gelehrten und ihre Wirkung
bis heute CJunius).

THOMAS SONAR
»Die Geschichte des
Prioritätsstreits zwischen
leibniz und Newton«
Nacherzählung des
Wissenschaftskrimis
(Springer Spektrum).

hölzerne Schraubstöcke, in die er die befallenen
Glieder zwängt. Die offenen Stellen trocknet er
mit Löschpapier.
Als der Universalgelehrte am 14. November
1716 stirbt, fast gelähmt, ohne Frau und Fami­
lie, prahlt sein Gegner Newton einem späteren
Bericht zu fo lge, er habe des Kontrahenten "Herz
gebrochen". Und anders als der Brite, dessen Sarg
1727 Herzöge und viele Ta usend Anhänger be­
gleiten werden, verlässt Gottfried Wilhelm Leib­
niz die Welt halb vergessen. Zu seinem Begräbnis
erscheint nicht ein einziges Mitglied des Hofs
oder der Beamtenschaft. Auf dem Sarg aber pran­

Doch seit Langem lancieren die Anhänger des
Mannes aus Cambridge den bösen Verdacht, in Wa hr­
heit sei der Brite der Erste gewesen. Leibniz habe einfach
nur zwei Briefe ausgewertet, in denen Newton dem Deut­
schen seine neue Methode dargestellt habe -und die mit
leicht veränderten Begriffen als eigene Leistw1g
ausgegeben.


gen, in silbernem Zinn auf schwarzem Samt, die
Eins und die Null seiner Dyadik.
In der Wo hnungdes To ten finden sich Hunderttau­
sende beschriebener Blätter und Zettel, darunter viele
fast fe rtige, doch unveröffentlichte Manuskripte - die
der hannoversche Herrscher eilig konfiszieren lässt, um
darin womöglich enthaltene Hofgeheimnisse zu
schützen.
In diesen Briefen stehen freilich nur vage
Andeutungen; zudem sind sie, wie im 17. Jahr­
hundert unter vorsichtigen Forschern üblich, mit
hermetischen Zeichenfolgen wie "6accdae13ef
f7i319n4o4qrr4s8t12vx" verschlüsselt.
Bald tobt der Zwist um die mathematische
Erstgeburt nicht mehr nur zwischen Leibniz
und Newton, sondern zwischen den Wissen­
schaftsgemeinden des Kontinents und der auf
den Britischen Inseln. 1712 nimmt sich eine Un­
tersuchungskommission der Londoner "Royal
Society" den Fall vor, der angesehensten Wissen­
schaftsinstanz weltweit -deren Präsident seit
1703 Isaac Newton heißt. Binnen nur 50 Tagen
kommt sie zu dem Schluss, dass "Mr. Newton der
erste Erfinder" der "differenziellen Methode" sei.
Autor des Abschlussberichts: Isaac Newton.
Leibniz wankt unter diesem Schlag. Ge­
kränkt lässt er sich zu einem Flugblatt hinreißen,
das er anonym in der Mathematiker-Gemeinde
zirkulieren lässt: In Wirklichkeit sei Newton der­
jenige, der "sich die Ehre eines anderen als eigenes
Ve rdienst angeeignet hat" - und seine Unterstüt-


IN KÜRZE

Der rasante Zuwachs an
Wissen um 1700 bedeutet
das Ende des klassischen
Universalgelehrten. Der
letzte, der noch den Über­
blick behält, ist Gottfried
Wilhelm Leibniz. Der
Leipzigerwirkt als Jurist,
Philosoph, Physiker,
Theologe, Techniker- und
Mathematiker. Er ent-
wickelt die Infinitesimal-
rechnung, ohne die
moderne Motoren und
Smartphones undenkbar
wären. Und legt mit der
Dyadik, die alle Zahlen
durch 1 und 0 ausdrückt,
die Grundlage für den
Computer.

Der Streit aber, wer denn nun die Infinite-
simalrechnung erfunden hat, kommt durch den
To d der zwei Genies noch lange nicht zur Ruhe.
Mehr als zwei Jahrhunderte lang dauert er an, und
erst 1949 wird ein Mathematikhistoriker Leibniz
endgültig rehabilitieren: Der sei zwar nach New­
ton als Zweiter, doch völlig selbstständig zu der
bahnbrechenden Methode gelangt.
Zudem hat Leibniz die eleganteren Zeichen
und Begriffe gefunden; daher rechnet schon bald
fast die ganze gelehrte We lt mit seinen Symbolen.
Nur die Engländer bleiben der umständlichen
Te rminologie ihres Newton treu.
Und so werden die Sieger im Krieg der For­
meln am Ende doch dessen Ve rlierer sein: Mit
ilirem unhandlichen We rkzeug verlieren die Bri­
ten für mindestens ein Jahrhundert den Anschluss
an die Entwicklung der Mathematik.
Den unterlegenen Leibniz aber wird man
lange nach seinem Tod als Urvater von Kyber­
netik und Computer verehren, als Propheten des
Siegeszugs fo rmaler Logik.
Kurz: als We gbereiter der Moderne. 0
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