Geo Epoche - 08.2019

(lu) #1

We gen der niedrigen Getrei­
depreise bauen viele Landleute
nebenbei Flachs an und spinnen
ihn zu Garn oder haben Bienen­
stöcke für Honig und Wa chs.
Trotzdem verschulden sich man­
che so hoch, dass sie keinen Aus­
weg sehen, als nach Polen zu
flüchten, wo sie sich bessere Be­
dingungen erhoffen. Andere kön­
nen die Steuerquoten gerade noch
erfüllen- solange sie eine gewöhn­
liche Menge Korn einbringen.
Ab 1706 fahren die Bauern
jedoch drei Jahre in Folge Miss­
ernten ein: aufgrund von Frost,
Trockenheit, SchädlingsbefalL
Die Steuereintreiber des Kö­
nigs lassen sich von den Ausfäl­
len nicht erweichen und dringen
mit Gewalt auf die Abgaben; wer
nicht zahlt, verliert sein Land oder
wird eingekerkert. Selbst einst
wohlhabende Freibauern müssen
ihre Höfe verpfänden. Für die
Leibeigenen auf den Gütern der
Großgrundbesitzer bedeuten die
Missernten Hunger und Elend.
Im Herbst 1708 betteln bei­
spielsweise in der Stadt Jurgait­
schen täglich knapp 100 Bauern.
"Diese armen Leute bitten, ihre
Not Eurer Königlichen Majestät
vorzutragen, damit ihnen Brot
gereichet werde", schreibt ein Be­
amter an den Berliner Hof. Ob das
Anliegen weitergeleitet wird, ist
unklar. Jedenfalls geschieht erst
einmal: nichts.


DIE PESTEPIDEMIE, die Preußen
1708 erreicht, beginnt wahr­
scheinlich sechs Jahre zuvor, als
gerade wieder einmal ein Krieg in
Nordosteuropa wütet. Zwar ist
Preußen diesmal nicht direkt be­
troffen, doch ziehen Armeen
durch das Nachbarland Polen­
Litauen, das gegen Schweden
kämpft. Die Seuche bricht ver-


AUCH STÄDTE
verschont die
Pest nicht. Über
Königsberg
wird schließlich
eine Quaran­
täne verhängt,
weil dort pro
Woche mehr als
500 Menschen
sterben

mutlieh 1702 in einem Lazarett
nahe Krakau aus und wird von
dort nach Warschau getragen.
Der Hof in Berlin ist früh
alarmiert und befiehlt schärfere
Grenzkontrollen. Das Heer ist
freilich nicht verfügbar: Der Kö­
nig hat es in seiner Geldnot an den
Kaiser vermietet, der die Tr uppen
erneut im Kampf gegen Frank­
reichs König Ludwig XIV. ein­
setzt. Daher soll im Sommer 1708
die unzuverlässige Miliz die Gren­
ze schließen- und scheitert.
In Bialutten, dem ersten in­
fizierten Dorf Preußens, sterben
von Ende August bis Ende Sep­
tember fast alle Bewohner. Der
Ort wird mit einem Palisaden­
wall umstellt und abgeriegelt,
doch einige Erkrankte sind schon
vorher geflüchtet und tragen die
Seuche in die umliegenden Dör­
fe r. Aus dem Norden des Landes
kommen im Herbst 1708 eben­
falls erste Berichte über Pesttote.
Dann wird die Ausbreitung
der Epidemie verzögert, denn der

82 I GEO EPOCHE Deutschland um 1700


Winter bricht herein, und er ist
in diesem Jahr extrem kalt. Bis
Mai können keine Schiffe Königs­
berg erreichen, weil die Küsten­
gewässer vereist sind. Der Handel
bricht ein - und die Seuche wird
nicht verbreitet. Flöhe, die die
Pest meistens übertragen, verhal­
ten sich bei Kälte zudem träge und
beißen selten.
Dennoch ist die Not vieler
Bauern groß. Vor allem im Nord­
osten sitzt die Landbevölkerung
in unbeheizten Stuben und hun­
gert. "Die meisten haben in vier
bis sechs Wo chen keinen Bissen
Brot geschmeckt, nichts Gesalze­
nes gegessen, weil kein Schilling
vorhanden", berichtet ein Pfarrer
Anfang 1709 aus der Gegend. Die
"blutarmen Leute" seien von den
Steuereintreibern auf "tartarische"
Weise ausgepresst worden.
Vielleicht verzehren die
Hungernden schon damals ein
Gemisch aus Erlenknospen, Lei­
nenspreu und Treber, einem Ab­
fallprodukt vom Bierbrauen. Ein
Jahr später jedenfalls wird ein
Arzt von dieser Ersatznahrung
berichten, die "kaum Hunde oder
Schweine fressen wollen". Der
Frost verschärft die Not, denn er
vernichtet die Wintersaat fa st
vollständig. Bäche und Flüsse frie­
ren ein, die Mühlen stehen still.
In diesem Hungerwinter er­
kranken im Nordosten Preußens
zahlreiche Bauernfamilien an
Ruhr und Typhus. Die Menschen
können die To ten nicht begraben,
weil der Boden metertief eingefro­
ren ist. Die Leichen werden auf
Dachböden gelagert.
Als das Tauwetter beginnt,
ankern Schiffe im Königsherger
Hafen - und die Pest kehrt zu­
rück. Händler verbreiten die Seu­
che, Flöhe werden munter und
fallen über die Bevölkerung her.
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