Geo Epoche - 08.2019

(lu) #1

sind. Auch die Großgrundbesitzer
können die Ordnung nicht auf­
rechterhalten. So machen sich
Räuber über Vieh und Ersparnisse
der To ten und Erkrankten her.


DER RAT von Königsberg flüchtet
ebenfalls, als sich im Herbst 1709
die Pesthäuser und Friedhöfe der
Stadt füllen. Ab Ende September
sterben in der 40 000-Einwohner­
Stadt jede Wo che mehr als 500
Menschen.
Am 14. November wird Kö­
nigsberg ohne Vo rwarnung von
der Miliz eingeschlossen und un­
ter �arantäne gestellt. Brot soll
die Bevölkerung fo rtan außerhalb
der Stadtmauern kaufen: Vor dem
Roßgärcer Tor entsteht ein Markt
direkt neben den Hinrichtungs­
stätten, wo vier aufs Rad gefloch­
tene Leichen verwesen und drei
To te an Stricken baumeln.
Auf den Märkten schieben
Milizionäre die Waren auflangen
Holzplanken von den Händlern
zu den Kunden, um ja keinen
zu berühren. Dafür verlangen die
Wa chen eine Art MakleranteiL
der die überhöhten Preise nur
noch weiter steigen lässt. We r sich
beschwert, wird verprügelt.
Die Blockade verschlimmert
Hunger und Not in Königsberg,
die erhoffte Wirkung aber hat sie
nicht: Viele Wachleute stecken
sich an und verbreiten die Seuche
im Umland.
Vo n Königsberg und dem
120 Kilometer weiter wesdich ge­
legenen Danzig aus bringen Schif­
fe die Pest nach und nach in viele
Hafenstädte: Riga, Srockl1 olm
und Kopenhagen sind ebenso
betroffe n wie Stralsund, Stertin
und die Küsten Schleswigs und
Holsteins. Auch in Harnburg und
Bremen grassiert die Seuche. Auf
dem Landweg wird die Pest aus


1708-1710 Pestepidemie in Preußen

Polen über Böhmen nach
Wien getragen, von dort die
Donau hinab nach Ungarn
und hinauf nach Regensburg.
In Berlin trifft König
Friedrich 1709 Vo rkehrungen.
Außerhalb der Mauern seiner
Hauptstadt lässt der Monarch
ein Pesthaus nach Mailän­
der Vo rbild errichten, in dem
Erkrankte isoliert und behan­
delt werden können, falls die
Seuche die Stadt erreichen
sollte. Brandenburgs Gren­
zen zu den Nachbarländern
Pommern und Polen werden
abgeriegelt.
Vielleicht ist es ein Ku­
rier, vielleicht ein Händler, Flücht­
ling oder Soldat: Irgendjemand
jedenfalls trägt die Seuche im
Sommer 1710 dennoch auch ins
Stammland des Königs.
In der Stadt Prenzlau,
gut 100 Kilometer nördlich
von Berlin, werden im Au­
gust die ersten Pestkranken
gemeldet. Eilig lässt die Re­
gierung die To re der Haupt­
stadt schließen - offenbar
fr üh genug: In Berlinerkrankt
niemand, und das vom König
erbaute Pesthaus bleibt leer.
Auch sonst kommt es in
Brandenburg, wie auch in an­
deren deutschen Landen sowie
in Dänemark und Schweden,
nicht zur Massenepidemie -
wohl weil die Menschen mehr
Brot haben und Behörden die
�arantänen besser durch­
setzen als in den entlegenen
Regionen Preußens.
Dort wüten Seuche und
Hunger zwei Jahre lang fast
ununterbrochen: Ruhr und
Fleckfieber lösen die Pest im
Winter wohl ab.
Erst im Herbst 1710
sinken die To tenzahlen. Im

LITERATURTIPPS

ANDREAS KOSSERT
»Ostpreußencc
Guter Überblick zur
Geschichte der Region
(Pantheon).

WILHELM SAHM
»Geschichte der Pest
in Ostpreußencc
Über 100 Jahre alt, aber
nach wie vor Standardwerk
(digitalisiert/antiguarisch).

IN KÜRZE

Im frühen 18. Jahrhun­
dert sucht die Pest nahezu
den gesamten Ostsee­
raum heim - in Preußen
aber wird sie zu einer Mas­
senepidemie, die 1709
ihren Höhepunkt erreicht.
Besonders Bauern, die
wegen hoher Abgaben
Hunger leiden, sind nicht
in der Lage, sich des
Erregers zu erwehren.
Die Regierung in Berlin
riegelt das betroffene
Gebiet zwar ab, schickt
jedoch kaum Hilfe. Und so
sterben binnen zwei
Jahren rund 200 000
Menschen - ein Drittel
der Bevölkerung.

Nordosten Preußens sind da
bereits Hunderte Dörfer ent­
völkert, ein Viertel der Ein­
wohner Königsbergs ist tot.
Im ganzen Land sterben
in den Pestjahren mehr als
200 000 Menschen - rund ein
Drittel der Einwohner.
Litauen und die balti­
schen Regionen Liv-und Est­
land verlieren prozentual so­
gar noch mehr Einwohner;
dort aber herrscht Krieg, und
es ist unklar, wie viele Men­
schen geflüchtet und durch
Gewalt gestorben sind.
Für die Innenpolitik
Brandenburg-Preußens wird
die Katastrophe auf lange Sicht
zum Wendepunkt. Nach dem
To d König Friedrichs im Jahr 1713
lässt sein Sohn und Nachfolger
Friedrich Wilhelm I. staatliche
Kornspeicher für Notfälle er­
richten und senkt die Steuern
für Kleinbauern.
Für die entvölkerten
Landstriche wirbt der neue
Monarch Tausende Siedler
an, meist Glaubensflüchtlinge
aus der Schweiz, England und
den Niederlanden, Hessen,
Magdeburg und der Pfalz. Die
größte Gruppe sind 20 000
Protestanten aus der Nähe von
Salzburg.
Das Pesthaus im Nord­
westen Berlins funktioniert
Friedrich Wilhelm zu einem
Medizininstitut für ange­
hende Chirurgen der preußi­
schen Armee und schließlich
zu einem Krankenhaus für
Berlins Bürger um.
Am 27. Januar 1727 no­
tiert er: "Es soll dies Haus die
Charite heißen:'
,,Nächstenliebe": Diesen
Namen trägt das Berliner Uni­
versitätsklinikum bis heure. 0
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