Der_Stern_-_29_September_2022

(EriveltonMoraes) #1
FOTOS: PICTURE-ALLIANCE; KEN CEDENO/DDP IMAGES; SERGEI BOBYLEV, SPUTNIK, KREMLIN POOL PHOTO/AP; UKRAINIAN PRESIDENT PRESS OFFICE/ACTION PRESS

Krieges kaum verändern. Putin kann sei-


ne Drohungen nur aussprechen, weil von


der Regierung Biden lange keine kohären-


te Reaktion kam, abgesehen von dem va-


gen Gerede über „konsequente Antworten“.


Wie geschwächt ist der Kremlführer?


Im Frühjahr dachte ich, Putins Position in


Russland sei unangreifbar. Das denke ich


heute nicht mehr. Die russische Wirtschaft


befindet sich in einem unaufhaltsamen Ab-


stieg. Putin ist nicht mehr unantastbar. Ich


bezweifle sogar, dass ein Befehl zum Einsatz


einer taktischen Nuklearwaffe ausgeführt


würde, wenn Putin den gäbe. Die Russen


würden damit schließlich die eigenen Trup-


pen ebenso gefährden wie die ukrainischen.


Sie sind jüngst nach Kiew gereist und


haben dort Präsident Selenskyj getrof


fen. Mit welchen Eindrücken sind Sie


zurückgekehrt?


Ich habe etwas beobachtet, was ich noch


nie erlebt habe: eine Nation unter Waffen.


Das ukrainische Volk ist in einem Ausmaß


durch diesen Krieg geeint worden, das ich


mir vor einem Jahr nicht hätte vorstellen


können. Diese Einigkeit, die Entschlossen-


heit und der Mut der einfachen Ukrainer


haben Putins Invasion im Wesentlichen


gestoppt.


Kann die Ukraine den Krieg gewinnen?


Davon bin ich überzeugt. Aber der Preis,


den das Land dafür zahlt, ist sehr hoch. Es


ist deshalb im Interesse der Ukraine, dass


der Krieg nicht noch jahrelang andauert.


Wir sollten konstruktiv diskutieren, wie er


enden kann. Aber das tun wir nicht.


Den Krieg beenden, behaupten Sie, kann


nur Amerika. Was kann Europa tun? Wie


sollte Deutschland sich verhalten?


Ein Krieg dieser Art wird nicht nur auf dem


Schlachtfeld gewonnen, sondern auch an


der Heimatfront. Eine Kriegswirtschaft ist


sehr anfällig für Inflation. Die Wirtschafts-


leistung der Ukraine ist um 30 Prozent


geschrumpft, und die Kosten des Krieges


haben das Defizit in die Höhe getrieben.


Der Westen muss da schnell gegensteuern.


Die Europäische Union hat keinerlei


Rechtfertigung dafür, dass sie zugesagte


Gelder zurückhält. Von versprochenen


neun Milliarden Euro ist bislang nur eine


Milliarde geflossen. Angesichts der geo-


grafischen Lage der Ukraine sollten die


Europäer in Vorleistung gehen, nicht die


Amerikaner. Wenn sich die Ukraine von


diesem großen Schock erholt, darf sie nicht


nur ein Trümmerhaufen sein.


Wie könnte sich das Verhältnis Europas


zu Russland langfristig entwickeln?


Putin hat die Brücken abgebrannt oder, um


genau zu sein, die Pipelines blockiert. So-


lange er Präsident ist, kann es keinen Weg


zurück zu normalen Beziehungen geben.
Wenn man einmal den Preis für einen kal-
ten Entzug gezahlt hat, wenn man einmal
vom russischen Gas und Öl weggekommen
ist, gibt es keinen vernünftigen Grund, wa-
rum man jemals wieder damit anfangen
sollte. Sanktionen haben eine bemerkens-
werte Eigenschaft: Sie sind leicht zu ver-
hängen und sehr schwer aufzuheben. Die
Sanktionen gegen Russland werden lange
bestehen bleiben – wie die gegen Kuba und
gegen den Iran. Da ist etwas ziemlich Un-
widerrufliches geschehen.
Mit welchen Folgen für die Russen?
Sie haben einen unglaublichen strategi-
schen Fehler begangen, für den sie nun
zahlen müssen. Auch aus diesem Grund
glaube ich, dass Putins Tage gezählt sind.
Niemand sollte Mitleid empfinden, denn
die Elite des Landes hat alles mitgetragen.
Die russische Bevölkerung in weiten Tei-
len auch. Sie haben ihr Bett gemacht, und
jetzt müssen sie darin liegen.
Russen, Chinesen und eine Reihe ande-
rer asiatischer Staaten haben sich in der
Shanghai Cooperation Organisation
(SCO) als Gegenentwurf zum westlichen
Block zusammengeschlossen. Für wie
tragfähig halten Sie diese Allianz?

Sie meinen den Klub der Verlierer? Ich bin
froh, dass ich kein Mitglied bin in dieser
Achse des bösen Willens. Die Krise Russ-
lands ist offensichtlich. Aber auch China
befindet sich in einer Abwärtsbewegung.
Die Wirtschaft ist durch die Null-Covid-
Politik zum Stillstand gekommen. Die
demografische Entwicklung und die
Schuldendynamik sind schrecklich. Das
Wachstumswunder ist definitiv vorbei. Im
Iran gibt es Massenaufstände, Frauen ver-
brennen öffentlich ihre Kopftücher. Die
große Frage wird sein, ob die Vereinigten
Staaten und ihre westlichen Verbündeten
diese Schwächen ausnutzen können.
Das Bündnis zeigt schon erste Risse.
China hat von Russland einen Waffen-
stillstand im Ukrainekrieg eingefordert.
Wirklich interessant, dass diese Forderung
gestellt wurde. Bis jetzt hat China Russland
nur mit Worten bewaffnet. Es tut nichts
wirklich Bedeutendes, um Russland wirt-
schaftlich zu helfen, ganz zu schweigen
von militärischer Unterstützung.
Dabei hatte Xi Jinping kurz vor Beginn
der Invasion Putin noch seiner grenzen-
losen Freundschaft versichert.
Einer der entscheidenden Augenblicke
dieses Krieges war, als Bidens Nationaler

Russlands Präsident
Wladimir Putin und
Chinas Staatschef
Xi Jinping beim
Gipfel der Shanghai
Cooperation
Organisation Mitte
September (l.).
Wolodymyr Selenskyj,
Präsident der
Ukraine, mit US-
Außenminister Antony
Blinken in Kiew
Anfang des Monats (r.)

Israelische
Soldaten im
Jom-Kippur-
Krieg 1973.
Ferguson
sieht darin das
historische
Äquivalent
zum Ukraine-
konflikt

36 29.9.2022

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